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Tschingelspitz-Südwand

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Erster Durchstieg am 13. August 1944.

öVon Edwin Krähenbuhl

M« i Bild ( 112Bern ) Der Tschingelspitz ist dem Gspaltenhorn nordöstlich vorgelagert und setzt sich im Tschingelgrat und Tschingelturm fort. Er kann sich nicht einer grossen Besucherzahl rühmen. Die Schuld daran trägt wohl sein bekannter und höherer Nachbar. Die wenigen Besteiger des Tschingelspitzes sind jenem aber für die Ablenkung des « Gros » der Alpinisten dankbar.

Sowohl der sehr luftige Nordostgrat als auch der südwestliche Firngrat vom Tschingelfirn her vermitteln genussreiche Aufstiege.

Besonders die schwierige Überkletterung des Nordostgrates darf als eine der schönsten Fahrten des Mutthorngebietes angesprochen werden.

Gegen Norden und Süden fällt der Tschingelspitz in steilen Wänden ahi, hier ungefähr 600 Meter tief auf den Tschingelfirn, dort eisbepanzert ins Sefinental.

Noch nie haben wir es so eilig gehabt mit dem Aufstieg zur Mutthornhütte. Wenn wir auch um die grosse Besucherzahl der Mutthornhütte wissen, ist doch nicht ein bevorzugtes Plätzchen auf dem Matratzenlager der Grund unserer Eile.

Wir stellen unsere Säcke vor der Hütte ab, entnehmen ihnen die Feldstecher und suchen, ohne uns um ein Nachtlager zu kümmern, einen Ort auf dem Mutthorn-Ostrücken aus, von dem aus wir die Tschingelspitz-Südwand genau begucken können. Die beiden Felsrippen werfen schon grosse Schatten auf die östlich orientierten Felsflanken. Doch sind Hans Wyttenbach und ich beim Eindunkeln einig über die mutmassliche Aufstiegsroute.

Pfeifenrauchend stolpern wir zur Hütte zurück. Glücklicherweise erreichen wir sie kurz vor Ankunft einer grösseren Gesellschaft. Die folgenden werden nämlich schon dritte Klasse schlafen müssen. Allerdings können sie noch zwischen Bank, Tisch oder Boden wählen.

Nach kärglichem Mahle ziehen wir uns auf die Matratzen zurück. Das Plätzchen eignet sich ganz vorzüglich, Betrachtungen über die Verpflegung der verschiedenen Alpinisten anzustellen. Ich will lediglich festhalten, dass mich die Rücksichtslosigkeit vieler Touristen etwas betrübt, die trotz überfüllter Hütte nicht auf ausgedehnte Menus von langer Kochdauer verzichten können.

Die spaghettigesättigte Luft verleitet uns zu einem Spätimbiss. Wir treten noch einmal vor die Hütte, wie man es immer zu tun pflegt, vergewissern uns des guten Wetters und legen uns dann aufs Ohr.

Wecker sind in solchen Nächten unnötige Ruhestörer. Denn von 1 Uhr an knistert schon wieder das Holz im Herd, und im « Flüsterton » werden Die Alpen - 1946 - Les Alpes5 Schlaf pelze aufgefordert, sich zu beeilen. Wir haben unser Frühstück auf %4 Uhr festgelegt, den Abmarsch auf 4% Uhr und den Einstieg in die Wand auf 5 Uhr. Wir wollen nicht den Fehler so vieler begehen, in einem nicht genau bekannten Gebiet mitten in der Nacht aufzubrechen, um dann bis zum Tagesanbruch in der Dunkelheit umherzuirren.

Um 5 Uhr stehen wir auf dem Moränenkegel, der dem Gspaltenhorn östlich vorgelagert ist.

Noch erinnern wir uns allzu gut des Schweisses und der Druckschäden vom letzten Wochenende an der Mittaghorn-Nordwestrippe. Damals haben wir uns gelobt, nie mehr mit solchen Säcken in die Berge zu ziehen. Sämtliches Material wird einer strengen Zensur unterzogen, und zu unserem grossen Erstaunen gelingt uns zum erstenmal eine leichte Packung.

In wenigen Minuten erreichen wir den Fels in der Mitte zwischen den beiden Rippen. Diese Stelle liegt ziemlich genau lotrecht unter dem Gipfel.

Die ersten Seillängen führen uns über steile, glattgeschliffene Platten. Bei nassem Fels dürfte schon diese Stufe erhebliche Schwierigkeiten bieten. Bald klettern wir jedoch in gut gegliedertem Gestein aufwärts. Hier durchziehen ungezählte Bändchen und Leistchen die Wand.

Die Morgensonne löst die ersten Steine. Sie zwingen uns, die Mulde zu verlassen. Noch einmal betrachten wir die beiden Ausweichmöglichkeiten, die Felsrippen zu beiden Seiten. So verlockend die westliche auch aussieht mit ihren Steilaufschwüngen, so scheint sie uns doch ohne grosse Hammer-arbeit nicht begehbar. Neuer Steinschlag lässt den Entschluss rasch reifen, und bald erreichen wir über ein schräg nach oben führendes Band die östliche Felsrippe. Hier öffnet sich der Blick in die wilde, arg verwitterte Südflanke des Tschingelgrates.

Ohne grosse Schwierigkeiten verfolgen wir das Grätchen bis zu einem ersten Steilaufschwung. Voller Freude über den reibungslosen Aufstieg bis hierher erwägen wir die Umgehungsmöglichkeit nach rechts kaum und erklettern diese Stufe direkt. Den folgenden Turm lassen wir jedoch links liegen und erreichen durch ein Couloir das Sättelchen zwischen der Gipfelwand und dem letzten Gendarm der Rippe.

Wohl sind seit dem Frühstück etliche anstrengende Stunden vergangen; der Fels ist inzwischen angenehm warm geworden. Aber keiner von uns kann sich grosser Esslust erfreuen, da helfen auch die feinsten Leckerbissen nichts. Denn die Schlusswand sieht nicht nur von der Mutthornhütte, sondern auch von hier aus sehr steil aus. Unser Rastplätzchen wurde schon früher von Seilschaften erreicht. Die folgende Wand jedoch ist bis heute jungfräulich geblieben.

Zwei Routen scheinen uns möglich zu sein. Die östliche zieht sich etwas rechts der Gipfelfallinie durch mehrere Kamine und Verschneidungen in die Scharte zwischen dem Steinmann und dem östlichen Gratturm hinauf. Die Verschneidungen in dieser oft senkrechten Wand scheinen uns jedoch fraglich. Jedenfalls sind sie zeitraubend und verlangen verschiedene Mauerhaken. Die westliche Route dagegen führt über eine senkrechte Wandstufe zu einem ausgeprägten Überhang. Oberhalb desselben öffnen sich zwei steile Kamine, die nahe der schwach ausgeprägten Kante verlaufen, die sich vom Vereinigungspunkt der beiden untern Felsrippen zum linken Nachbarturm des Hauptgipfels emporschwingt.

Die Pfeifen sind inzwischen ausgelöscht. Ungereinigt versorgen wir sie in der Tasche. Auf dem Gipfel wird sich zur Reinigung schon Zeit finden, so hoffen wir. Lustig pendeln die Karabiner und Mauerhaken an der Brustschlinge. Etwas rechts ausholend gelangen wir in ein Couloir. An seinem oberen Ende setzt ein senkrechtes Wändchen an, das zum Überhang hinaufführt. Die Schichtung der Felsen ist sehr gut, doch verlangt das lose Gestein grösste Vorsicht. Mehrmals « schwindeln » wir uns über Platten hinauf, die schon beim nächsten Sturmwind auf den Tschingelfirn hinunterstürzen können.

In Kauerstellung suchen wir den überhängenden Kalkwulst nach Rissen und Spalten ab. Denn ohne Mauerhaken wird es unmöglich gelingen. An zwei Sicherungshaken findet Hans den nötigen Stand, um mich für bange Minuten auf den Schultern zu tragen. Wie beneide ich die Fliegen um ihre Saugfüsse, während ich mühsam die Haken von unten her einhämmere. Und wenn nach langem wieder einer « sitzt », so bin ich kaum um einen Meter höher gekommen. Ich weiss nicht, ob ich so eine Viertelstunde oder eine Stunde mich abquäle, bis ich « nachkommen » stöhne. Glücklicherweise bietet sich im folgenden Kamin eine gute Sicherungsmöglichkeit. Hans gibt sich die grösste Mühe, die Haken nach Möglichkeit wieder freizubekommen, doch lassen wir dem Überhang willig zwei Haken als Tribut.

In genussreicher Stemmarbeit kommen wir nun rasch ans obere Ende des Kamins und können ohne grosse Schwierigkeiten in den westlichen hinüberklettern. Der feste Fels erlaubt uns hier oft trotz grösster Exponiertheit, die Umgebung zu betrachten: zur Linken und Rechten senkrecht abfallende Wände und tief unten der weite Kessel des Tschingelfirns. Über abschüssige Platten queren wir nun nach rechts und klettern um einen wackeligen Klemmbock herum an den Fuss des letzten Bollwerkes. Angespornt durch die Gipfelnähe eilen wir ohne Rast höher. Unsere Vermutung, dass hier oben die Wand gut gegliedert sei, bestätigt sich.

Durch ein Couloir mit soliden Schichtköpfen steigen wir zu einer glatten Platte empor. Es gibt nun einmal Augenblicke in den Bergen, wo der kleine Steisser den langgewachsenen Kameraden um seine Grosse beneidet. Wie mühelos könnte dieser hier den oberen Plattenrand ergreifen! Aber der Kleine wird selten dieses Handicap ohne weiteres zeigen — und meistens geht es ja dann auchWir bemerken erst, dass das Schlussgrätchen im Steinmann endigt, nachdem wir uns über loses Gestein beklagt haben. Dieser lustige Zufall macht uns Spass.

Bevor wir an unsere ungereinigten Pfeifen denken, drücken sich zwei glücklich die Hand und beschauen die schöne Bergwelt!

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