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Unbekannte Bergwelt: Piz Miez und Breschia di Senteri

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Piz Miez und Breschia di Senteri

Von Walter Fiefj

Mit 1 Abbildung ( 37St. Gallen ) Piz Miez: « Aufstieg durch das steile, bis Ende Juli meist Schnee aufweisende Couloir an den Südostfuss des GipfelsBreschia di Senteri ) und in der Nordostseite schwierig zum Gipfel... Von einer touristischen Besteigung nichts bekannt... » Breschia di Senteri: « Schwierige Kletterscharte zwischen Piz Miez und Piz Senteri... » Dies sind die recht lückenhaften Angaben des « Bündnerführer S II » über eine kaum je begangene Scharte, die von der Medelser Hütte zum Valesa-gletscher führt und über einen selten bestiegenen Turm im zackigen Grat zwischen Piz Caschleglia, 2939, und Piz Senteri, 2952. Wenn ich heute zur Feder greife, so geschieht dies nicht, um vielleicht irgendeine neue Variante zu beschreiben. Nein! Varianten gibt es in diesem Gebiet, da kaum « Normalrouten » bekannt sind, keine. Was ich niederschreiben möchte, sind die Erlebnisse eines hen liehen Sommertages in einer abgelegenen, unberührten Ecke unserer Bergwelt, weit, weit weg von der grossen Heerstrasse...

Wir, mein Freund Willi und ich, haben eben die Hütte in Ordnung gebracht und die immer noch schweren Säcke auf die Schultern geschwungen. Draussen, auf Fels und Eis, liegt blendender Sonnenschein. Gemächlich geht 's über Schutt und Rasen zum Lai d' Encarden, ca. 2520 m. Wir halten am Westufer des spiegelglatten Bergsees Rast. Fast unwirklich, kulissenhaft steigt das jenseitige Ufer aus dem Wasser empor. Darüber erheben sich, vom morgendlichen Glänze verklärt, die Gipfel der Vial-Valdraus-Gruppe mit ihren gleissenden, ausgeaperten Gletschern. Andächtig betrachten wir das in seiner stillen, erhebenden Ruhe eindrucksvolle Bild.

Weiter! Die freundliche Szenerie wechselt. Schutt, Blöcke, wieder Schutt, steil aufwärts. Gut, dass wir im Schatten aufsteigen dürfen. Oben an der Schutthalde folgt eine steile Rinne. Zwei Schritte aufwärts, einen zurück, samt den unter den Nägeln knirschend weichenden Steinen. Endlich anstehender Fels. Zuoberst eine steile, aber gutgriffige Wand. Überrascht stehen wir in der kaum für zwei Platz bietenden Breschia di Senteri, ca. 2850 m. Nach Süden ein herrlicher Ausblick auf den wilden Plattasgletscher und auf die eisgepanzerten Häupter rings um das Rheinwaldhorn, im Norden, von silberweissen Wölkchen umrahmt, die Glarner Alpen, um uns, wild, zerrissen, trotzig, die Felstürme des Piz Miez und des Senteri-Westgrates.

... « und in der Nordostseite schwierig zum Gipfel » steht im Führer. « Schwierig » dürfte kaum übertrieben sein. Aber vielleicht geht es ganz wo anders durch. Hat doch Hüttenwart Lutz von der Südflanke erzählt, mit der Bemerkung, sie gebe « Arbeit ». Nach einem kurzen Reitgrat finden wir einen Riss, in dem wir die Kletterschuhe anziehen und die Genagelten sicher verstauen können. Über unseren Köpfen türmt sich die steile, oben überhängende Ostkante auf. Vor mir zieht sich ein Band hinaus in die Miez-Süd-flanke. Trotz der Höhe trägt es noch reichlich Vegetation, ist aber glücklicherweise trocken; es bringt mich rasch vorwärts. Der erste Riss, der über mir erscheint, macht keinen freundlichen Eindruck, der zweite sieht besser aus, wenigstens ein Stück weit. Willi folgt nach und gibt dann sorgfältig das Seil aus, während ich mich in frisch-fröhlicher Kletterei in die Höhe arbeite. Plötzlich ist 's wieder aus; die Wand wird oben, am Südwestgrat, überhängend. Aber rechts, im östlichen Riss, steckt solid ein grosser Block, von dem aus die Gipfelscharte zu erreichen sein muss. Behutsam taste ich mich, schräg rechts abwärts, auf auswärts geneigten Tritten bis zum Block hinüber, von wo aus ich Willi gut sichern kann. Der Rest bis zum Gipfel ist steil und exponiert, aber ohne Schwierigkeiten.

Die Rundsicht vom Gipfel ist umfassend — sieht man doch bis zum Monte Rosa — und dabei von einer Klarheit, wie man sie im Hochsommer nur selten findet. Was uns aber immer wieder am meisten bannt, sind die himmelragenden Türme und Zacken, ist der Felszirkus des wilden Denter-Corns-Grates, in dessen Mitte wir uns befinden. Der Abstieg zur Scharte vollzieht sich rasch und sicher, nunmehr ohne den Reiz des Pfadsuchens. Wir haben Zeit, uns dabei die reiche Flora näher zu besehen. Was wächst nicht selbst in der kleinsten Felsenritze: Mannsschild, Gletscherhahnenfuss, Himmelsherold, Hornkraut, verschiedene Steinbrecharten, alles in schönster Blüte!

Schuhwechsel, Säcke auf, los, Richtung Valesagletscher! Der Einstieg in das Eiscouloir erfolgt über eine Felsstufe mit rutschigem Schutt. Überall liegt loses Steinmaterial, bereit, in die gähnende Tiefe zu sausen. Dann folgt nicht zu schwere Kletterei bis zu einem steilen Felsabsatz. Ratschlag. Das Couloir traversieren und auf der Ostseite über vermutlich leichtere Felsen absteigen. Wie es unten weitergeht, müssen wir erst noch sehen, da wir die äusserst steile Rinne nicht bis zum Bergschrund überblicken können. Ich hacke los. Zuerst blankes Eis, mit Steinen durchsetzt, der reinste Beton. Nach 15 Minuten anstrengender Arbeit stehe ich am Rande einer völlig vereisten Steinschlagrinne, mitten im Couloir. Die Sonne hat inzwischen den obersten Teil der Rinne erreicht. Folge: Steinschlag! Pfeifend zischen die kaum sichtbaren Geschosse vorbei. Die Sache gefällt mir nicht. Zurück in den Fels! Behutsam wendend stelle ich fest, dass der zuerst für kaum gangbar gehaltene Absatz zu bewältigen sein muss. Und es geht tatsächlich. Unten, auf einem schmalen Band, suche ich lange nach einer Sicherung. Endlich finde ich in einem Riss eine Art Henkel, seile mich los und ziehe das Seil hindurch. Willi folgt vorsichtig nach, teilweise unter Selbstsicherung am doppelten Seil. Das Ausschwingen braucht, wie gewohnt, Geduld. Die nächste Stufe umgehen wir über das Eis, mit ermüdender Abwärtshackerei. Nach einem steilen, rutschigen Schuttband versuchen wir es nochmals mit dem Couloir, das jetzt ganz in der Sonne liegt. Immer noch hart gefroren, ohne Steigeisen allzu zeitraubend. Also im Fels weiter. Das Gestein wechselt plötzlich: oben kantig blockiger Amphibolith, unten rundlicher Gneis. Ich hänge meine Beine über ein Wändchen hinunter. Für die Finger finde ich einen soliden Riss, an dem ich hangelnd bis zum nächsten Tritt hinüber traversiere. Grosse, lose Blöcke versperren den Weiterweg. Unter solider Sicherung beginne ich vorsichtig mit dem Pickel zu hebeln. Polternd und dröhnend fliegt das Zeug in die Tiefe. Wumm! Ein grosser Brocken verschwindet mit dumpfem Geräusch im klaffenden Bergschrund. Noch ein steiles Schuttband, noch ein Wändchen, endlich können wir, eine Seillänge über dem Bergschrund, über dessen schmälster Stelle den doch noch etwas weich gewordenen Schnee betreten. Traverse, Sicherung mit dem Pickel, der sich an einer Stelle weit eintreiben lässt. Willi pendelt unter mir durch, stapft, die Absätze wuchtig einschlagend, abwärts, muss zuunterst in die immer noch harte Rinne, verliert den Halt und landet glücklich am straffen Seil auf einem blauen Eisbuckel jenseits des Bergschrundes. Da es für mich keine Sicherung von oben mehr gibt, muss ich den Schrund überspringen. Natürlich rutsche ich auf dem blanken Eise aus, um, nunmehr von Willi gehalten, nach kurzer Rutschfahrt auf dem Bauche zu landen.

Vorbei! Lachend blicken wir nach oben. Drei Stunden hat uns das kaum viel mehr als 200 Meter hohe Couloir abgerungen. Es ist 1 Uhr 45, um 4 Uhr 20 fährt der Zug in Rabius ab. Trotzdem wir seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen haben, müssen wir auf die ersehnte Rast verzichten. Nach scharfem Marsche, zuerst über Schnee, Eis und Gerolle, dann über die Weiden der Alp Valesa, meist auf gutem Wege, endlich auf staubiger Landstrasse erreichen wir über Val-Surrhein die Station Rabius.

Vom Zuge aus blicken wir nochmals zurück ins Somvixer Tal und auf die Medelser Kletterberge. Culmet und Piz Rentiert sind bereits sichtbar, dann rutscht die Fuorcla de Stavelatsch ins Bildfeld, dann der Piz Stavelatsch und der zackige Grat zum Piz Senteri, dann aber, noch bevor Piz Miez und unser Couloir erscheinen, wird das Ganze von den Wäldern der östlichen Hänge des Somvix verdeckt.

Die Aussicht vom Berge ( Fortsetzung )

Von Henry Hoek ( Davos, Sektion Davos ) Snähetta ( 2321 m ), Dovrefjell, Norwegen Ein paar hundert Kilometer südlich von Drontheim, im mittleren Norwegen, liegt das grosse Berghochland des Dovrefjells. Ganz Skandinavien ist, geologisch betrachtet, eine schräggestellte Landplatte, die sich allmählich nach Osten senkt und die im Westen mit einem gewaltigen Steilabbruch gegen das Nordmeer endet. Die Erosion hat, nachdem das Inlandeis der Eiszeit der Hauptsache nach geschwunden war, diese Platte überall angenagt, hat sie aber noch nicht weitgehend zerstört. Einer der am wenigsten angegriffenen Teile ist das inmitten des Landes gelegene Dovrefjell.

DIE AUSSICHT VOM BERGE Höchster Berg ist hier der Snähetta, der 2321 Meter misst, was morphologisch und botanisch einem Alpengipfel von etwa 3500 Meter entsprechen dürfte. Die relative Höhe des Berges über dem Durchschnitt der Gebirgs-platte und über die Gipfelflur ist nicht gross, aber die Anmarschwege sind lang. Schon dies allein ergibt eine ganz andere gefühlsmässige Einstellung zum Berg, wie zu seiner Aussicht, als wir sie zu einem steilen und verhältnismässig hohen Alpengipfel haben. Viel langsamer, als wir es bei uns gewohnt sind, ändert sich das Bild bis zur Vollendung auf der höchsten Kuppe.

Doch auch abgesehen hiervon ist die Aussicht grundverschieden von irgendeiner in den Alpen, im deutschen Mittelgebirge, in den Karpathen, im Apennin oder in Schottland.

Zunächst einmal ist es vollkommen unberührte « Nur-Natur », die man überblickt in vollendeter Einsamkeit. Es fehlt auch die allergeringste Andeutung der Kulturlandschaft, wie sie im Mittelgebirge immer vorherrscht und in den südlicheren Gebirgen Europas — wenn auch in bescheidenem Masse manchmal — immer noch vorhanden ist. Auf dem Gipfel des Snähetta'sind wir weit über der Baumgrenze, weit auch von ihr entfernt, und sehr weit von jedem bebauten Boden. Wir stehen in einer subarktischen Landschaft, die aber noch nicht den Zauber der arktischen Beleuchtung hat, und die — wie es uns vorkommt — eben erst die Kappen der Eiszeit verloren hat. Kahl und öde, noch unaufgeräumt durch Verwitterung und ohne das Gewand einer Pflanzendecke liegt das Land, so weit wir sehen. Man denkt an das Wort der Bibel: « Die Erde war wüst und leer. » Wüst und leer ist sie hier — leer von allem, wonach Menschen sich sehnen seit Anbeginn der Zeiten.

Fels, Blockwerk, Hochmoor und Schnee sind wild gemengt. Unförmige, beinahe könnte man sagen gestaltlose, schwarzgraue Steinhöcker stehen ringsum in einem ungeordneten Nebeneinander. Kein suchender Blick kann einen Plan ergründen; es ist das Chaos nach einer Katastrophe — nach dem Untergang des Eises.

Man sieht von hier oben weit, sehr weit. Aber wie weit, und in welcher Richtung auch: ringsum dehnt sich nur die weissgefleckte Öde eines toten Landes. Nicht einmal Steinschlag oder Lawinen täuschen Leben vor, kaum eine Spur fliessenden Wassers ist zu entdecken, nur hier und da ein kleiner Tümpel, braun und seltsam starr. Das Meer im Westen ist nicht sichtbar, und die Ebenen Schwedens im Osten sind verdeckt. Kein Talboden grüsst herauf — wir sind ausgeschlossen von aller Freude, aller Schönheit und allem Glanz der Welt.

Es ist eine weite, ernste, strenge, vollkommen auf eine Idee gestellte Sicht, die keine Kompromisse kennt; die unter keinem Himmel und in keinem Licht das Herz mit heiteren Gedanken — mit dem, was der Römer « serenitas » nannte — erfüllt.

Camoghé ( 2232 m ), zwischen Lugano und Bellinzona Es ist ein weiter Weg auf den Camoghé, von wo immer man auch ansteigt. Darum steht ganz oben, nur ein paar Meter unterhalb des Gipfels, eine kleine Klubhütte, damit man früh am Morgen und spät am Abend dort verweilen kann, in den Stunden, da alle Aussichten am besten sind.

Das ist sinnvoll. Denn auf den Camoghé steigt man wirklich fast nur um der Aussicht willen; diese Aussicht ist berühmt — und mit Recht.

Camoghé ist der höchste Berg weit und breit. Aber er ist keineswegs so hoch, dass die grossen Erhebungen der zentralen Ketten irgendwie gedrückt erscheinen. Wohl steht man rund 2000 Meter über den Seen im Süden, aber gleichzeitig immer noch 1000 bis 2000 Meter unter den Gipfeln im Westen und Norden. Abgesehen davon liegt dieser ideale Punkt sozusagen im Brennpunkt eines Hohlspiegels, eines grossen Halbbogens, der beginnt mit dem Monte Viso und der über Paradiso, die Gipfel des Wallis und Oberlandes, der Gruppe des Monte Leone und der Adula bis zum Bernina und über Hochbergell und Disgrazia bis zum Adamello zieht.

Man sieht den ganzen unendlichen Reichtum der Alpen an wohlunter-schiedenen Formen, sieht die ganze verblüffende Mannigfaltigkeit der alpinen Hochgebirgsschönheit. Und dieser Hohlspiegel, oder vielleicht besser: diese Schale, ist nach Süden geneigt, sie taucht unter in die Po-Ebene, und sie ist gefüllt mit einem bunten Gewoge niederer, grüner und brauner Berge und Hügel, mit fruchtbaren Tälern und freundlichen Seen. Corner See, Luganer See und Langensee grüssen herauf.

Tief und fern liegen die Städte des Südens; weit und fast unabsehbar dehnt sich scheinbar ganz flaches Land, aber doch nicht endlos, denn ganz hinten heben sich an klaren Tagen die leicht geschwungenen Linien des Apennin — ein wohlbedachter Abschluss des Bildes, der ein kleines und angenehm empfundenes Gegengewicht ist gegen die schwere und lastende Begrenzung im Norden.

Dremelspitze ( 2741 m ), in den Lechtaler Alpen Steigt man von Elmen über Boden das Angerletal hinauf zur Hanauer Hütte, so hat man einige Stunden lang in immer neuer Ansicht die Dremelspitze vor sich. Es ist ein wuchtiger und abweisend aussehender Kalkberg, der aber entschieden an Schönheit und Grossartigkeit verliert, je näher man ihm kommt.

Von der westlichen Dremelscharte aus erreicht man in etwas verwickelter, aber sonst leichter Kletterei den Gipfel. An einem wundervoll leuchtenden Sommertag lagen wir um Mittag eine Stunde auf dem Scheitel des Berges und genossen das Glück des Gipfels in ungestörter Ruhe. Aber dieses Glück hatte mit der Aussicht kaum etwas zu tun. Die Dremelspitze steht mitten in der Gruppe der Lechtaler Alpen und hat die ungefähre Durchschnittshöhe der Gipfelflur. Ausser nach Süden auf den Steinsee weist die Aussicht keinen nennenswerten Tiefblick auf, und ausser dem benachbarten Bergwerkkopf steht keine besonders beachtenswerte Berggestalt in der Nähe. Wohl sieht man Ortler, Ötztaler und Stubaier — aber sie wirken alle ziemlich flach und gleichförmig. Und sobald man festgestellt hat, dass man sie sehen kann, und sobald man einige andere Berge erkannt und mit Namen genannt hat, ist das Interesse an der Aussicht als solche erschöpft — es bleibt die Die Alpen - 1944 - Les Alpes11 DIE AUSSICHT VOM BERGE Freude des weiten Blickes, der Ruhe, des « Über-der-Welt-Seins » und der Einsamkeit.

Die Aussicht von der Dremelspitze ist typisch für viele Berge mittlerer Höhe, besonders in den Ostalpen. Hat man nicht den Blick hinab in grosse Täler oder hinaus auf die Ebenen im Norden, so bleibt eigentlich nur sehr viel ödes Gestein und eine graubraune Umgebung unfruchtbarster Verlassenheit. Die Gipfel der näheren Umgebung sind nicht schön in ihren Linien — und abstrakt ästhetisch geurteilt ist die Aussicht einfach hässlich.

Es ist erstaunlich, wie viele Bergsteiger an vielen Schönheiten des Anmarsches und Aufstieges gleichgültig vorbeigehen, um auf dem Gipfel jede sichtbare Einzelheit in den höchsten Tönen zu preisen — nun, hohe Töne missraten manchmal... Oft liest es sich wie der Katalog einer Versteigerung.

Und dennoch: Sollte mein Weg mich je wieder in die Hanauer Hütte führen, ich werde sicher noch einmal auf die Dremelspitze oder einen anderen in der Nähe stehenden Berg steigen; und ich werde mich freuen, wenn der « hochehrwürdige Berg » mir gutes Wetter beschert, und ich werde hinausträumen von fernen, vor Jahren bestiegenen Gipfeln und werde in vollen Zügen die Seligkeit des Verschmelzens mit der weiten Welt geniessen...

Und auch dies ist vielleicht eine Art von Beweis, dass Gipfelglück und Schönheit der Aussicht zwei ganz verschiedene Dinge sind, die sich nur stückweise überdecken und die sehr gut jedes für sich bestehen können.

Mont Blanc ( 4811 m ) Mademoiselle Henriette d' Angeville war — im Jahre 1838 — die erste Frau, die den Gipfel des Mont Blanc betrat; sie war vierundvierzig Jahre alt, und es war ein vollendet schöner Tag.

In einem Brief an eine Freundin lesen wir über diesen lang ersehnten und lange vorbereiteten Höhepunkt ihres Lebens: « Mit Gottes Hilfe schleppte ich mich, ohne Unterstützung durch meine Führer, vorwärts; und in dem Augenblick, da ich den Gipfel erreichte, erholte ich mich wie durch ein Wunder. Im Vollbesitze meiner körperlichen und geistigen Kräfte war ich imstande, das herrliche Panorama zu bewundern, das sich meinen erstaunten Augen darbot. » Diese paar nichtssagenden Worte sind alles, was sie über die Aussicht zu sagen weiss.

Das ist nur scheinbar verwunderlich. Denn es ist schwer, über die Aussicht von höchsten Bergen der Alpen etwas Charakteristisches und Wesentliches auszusagen, so leicht es ist, eine lange Liste von Namen aufzustellen. Und dies aus folgendem Grund: Bei schönem Wetter ist diese Aussicht durchaus nicht malerisch; und gerade das Malerische in jeder Landschaft war es, was das Zeitalter der d' Angeville suchte und liebte. In der Mont-Blanc-Aussicht ist alles auf eine einzige Idee abgestellt: Auf Höhe über der Umgebung, auf Höhe über der ganzen Welt.

Ich glaube, es war Plinius, der behauptete, dass der höchste Berg der Erde hunderttausend Meter hoch sei. Auf dem Gipfel des Mont Blanc könnte man glauben, dass er recht hat und dass man auf diesem Berge stände. Diese Aussicht ist einzigartig in den Alpen — ähnlich mag sie vielleicht vom höchsten Kaukasus-Gipfel, vom Elbrus, sein. Alle anderen Berge, ja alle Berggruppen, sind ganz bedeutungslos geworden; sie kauern nur noch zu Füssen des Herrschers. Und die ungeheure Fülle der sichtbaren Einzelheiten, der zahllosen Gipfel, verstärkt den Eindruck grenzenloser Weite. All diese grossen Berge wurden klein — Mont Blanc ist wie ein grosser Dom inmitten einer Stadt aus zwerghaften Hütten. Das grösste Gebirgssystem Europas ist zusammengesunken zu einem flachen Schild, bedeckt mit unregelmässigen Buckeln und Warzen.

Diese Aussicht ist überwältigend; sie ist — hier ist das Wort am Platze — märchenhaft. Aber schön? Darüber liesse sich streiten.

Ja, sie kann auch schön sein! Das ist aber dann nicht durch die Linien bedingt, das hängt allein ab von den atmosphärischen Zuständen, hängt ab von Licht und Farbe. Wolken und Wolkenschatten können in diesem erstarrten Meer von Gipfeln Bilder erzeugen von einer Pracht und Vollkommenheit, wie sie kein Mensch der Ebene auch nur träumen kann. Der Schwung der Linien mag gleichgültig sein, der Horizont, in seiner Uferlosig-keit, flach und langweilig — was tut 's? Linien spielen hier eine untergeordnete Rolle. Es ist die Stunde und das Wetter, die die Aussicht vom Mont Blanc zu einem unvergleichlichen und unvergesslichen Erlebnis machen.

Sas Songher ( 2667 m ), in den Dolomiten Geographisch sind die Dolomiten ein Teil der Alpen. Aber geologisch, ihrer Entstehung, ihrem Bau und ihrem Gestein nach sind sie etwas ganz anderes als das Überschiebungs- und Faltengebirge des Alpenbogens. Die Alpen finden ihre Fortsetzung in den Karpathen — und die Dolomiten gehören zu dem balkanischen Gebirgssystem der Dinariden und sind den Alpen nur angelagert.

Kein Wunder daher, dass Bergformen wie Landschaftsbilder alles andere als « alpin » sind und dass die Aussicht von einem Dolomitgipfel grundverschieden ist von allem, was wir in den Alpen zu sehen gewohnt sind.

Lasst uns auf den Sas Songher steigen, auf diesen prachtvoll kühnen und doch massigen Dolomitturm — wie sich der Berg wenigstens von Süden zeigt —, der die ladinische Sprachinsel von Colf uschg und Corvara überragt! Auf dem Umweg über den kurzen Nordgrat ist unser Unternehmen harmlos genug.

Ich habe gerade diesen Gipfel gewählt, weil er nahe der Trennungslinie zwischen « Alpen » und « Dolomiten » steht. Im Norden sehen wir die ruhigen, fliessenden Linien der zentralen gefalteten Ketten; trotz einigen auffallend hervortretenden Bergen ist alles auf die Horizontale abgestellt, auf eine leicht wellig bewegte Horizontale, und die blassfernen Gletscher des Ortlermassivs betonen den Eindruck des Hochgebirges, des Eisgebirges. Im Süden aber beherrscht die Vertikale der Dolomitstöcke das Bild, und hier herrscht der Fels souverän.

Unmittelbar uns gegenüber im Südwesten erhebt sich mit steilen, oft senkrechten Wänden das Plateaumassiv der Boë-Gruppe. Sie ist so nahe, dass wir die ganze wilde Zerrissenheit und Auflösung dieses einst geschlossenen Korallenstockes, dass wir alle Türme, Bastionen und Vorwerke in allen Einzel- heiten und aller Bizarrerie erkennen können und auch die horizontale Schichtung und ungestörte Lagerung des bunten Gesteines deutlich wahrnehmen. Dies hier vor uns ist nicht eine Bergburg — es ist eine ganze Bergstadt voller Strassen, Gassen, Kirchen, Häuser und Mauern... Und die ganze südliche Hälfte des Panoramas zeigt uns ähnliche, selbständige, auf sich selbst gestellte Bergmassive: Tofana, Anteiao, Pelmo, Civetta, Sella, Marmolata...

Unverbunden liegt eines hinter und neben dem andern, und sie alle sind so weit entfernt, dass wir nur noch riesige, mehr oder weniger flache Klötze sehen, die von dunklen Wäldern umgürtet im strahlenden Licht der schon südlich heiteren Sonne stehen und die getrennt sind durch weite, leichtgewellte Mulden und sanfte, langgeschwungene Pässe.

Hier im Süden haben wir hart gegeneinander stossende Konturen, das Aufeinandertreffen von horizontalen Kammlinien und vertikalen Abstürzen; und diese unruhige Bewegtheit wird getragen von den harmonischen Bögen der Tallinien und Flussläufe. Im Norden aber sehen wir diagonal in- und gegeneinander verlaufende Bergformen und die welligen Begrenzungslinien des Faltengebirges mit edel geschwungenen Kämmen und die sanft gezeichneten Umrisse der Gletscher und der alten Moränen.

Von vielen Dolomitgipfeln sieht man Ähnliches. Aber von kaum einem anderen hat man eine so überzeugende Vision ihrer Entstehung wie vom Sas Songher: Wir glauben, das flache Meer zu sehen, in dem diese Korallenstöcke wuchsen, wir sehen, wie sich der Boden senkt, jahrtausendelang, und wie die Korallen entsprechend nach oben wachsen, immer nach oben, und wir sehen, wie dann das Land aus dem Meere gehoben wird, unendlich langsam, bis auch die tiefsten Mulden zwischen den Riffen trocken liegen und bis die Korallenbauten wie gigantische, gescheiterte Schiffe dem Untergrund entragen.

Dazu noch, als pikante Beigabe gewissermassen, im Mittelgrund die Gletscher der Marmolata und ganz vorne der schwindlige Blick auf die Dörfer und Äcker im tiefen Tal...

Eine eigenartige und wundervolle Aussicht! Eine geologische Aussicht! In keinem Gebirge der Erde ist solches noch einmal zu schauen. Schon aus dem einen Grunde, weil es nirgends mehr Dolomiten in einer derartigen Menge und Ausdehnung gibt.

Feldberg ( 880 m ), im Taunus Den Vordergrund bilden, unmittelbar ausgehend von meinem Standpunkt, wohlgerundete, gleichmässig bewachsene Hügelkuppen, die beinahe geordnet eine hinter der anderen und eine immer kleiner wie die vorige das Auge hinableiten in die Tiefe — oder vielleicht besser: das Auge hinunterleiten. Denn « Tiefe » ist dies nicht...

Dahinter liegt, ich könnte auch sagen: schwebt, weich die grosse Ebene, blau und grün und gelb, überzogen von durchsichtigen, wandernden Wolkenschatten, und in ihr entdeckt man graue und weisse Dörfer mit dunklen Schieferdächern, gelegentlich auch dem roten Punkt eines Ziegeldaches, steinerne Kirchen und hie und da eine halb zerfallene Burg. Weit hinten unter einem bräunlichen Dunst kaum erkennbar, liegt das Wirrsal der grossen Stadt; helle, sich schlängelnde Bänder sind die Flüsse, und üb,er all dies spannt sich ein mattblauer Himmel mit einigen zarten, wohlausgerichtet ziehenden Schäfchenwolken. Den Abschluss bilden sanfte Hügel, unbedeutend, leicht nur bewegt, aber doch ein Ende und eine Grenze; es ist ein « Raum », den man überblickt. Deutscher Rheingau und deutscher Maingau! Geordnete und genutzte, fruchtbare und fruchtbringende deutsche Landschaft. Lieblicher Ernst ist verbunden mit Arbeit und Kultur; es ist fast restlos bezwungene und beherrschte und nutzbar gemachte Natur.

Diese Aussicht ist einfach und klar; sie ist für jeden, auch für den, der wenig geübt ist im Lesen des Landschaftsbildes, ohne weiteres verständlich und geniessbar.

Musikalische Menschen könnten denken an ein homophon begleitetes, einschmeichelndes Volkslied, wo nur eine Stimme die leicht verständliche Melodie trägt — wie hier in der Landschaft nur ein Motiv herrscht —, während die anderen sich in begleitenden Akkorden unterordnen.

Und somit steht diese Aussicht in einem klaren Gegensatz zu den meisten des Hochgebirges, die man polyphon nennen möchte, wie etwa eine Bachsche Fuge. Wie jede Stimme ihre eigene Melodie bringt, so hat jeder Gipfel eigene Linie und eigene Art. Aber die einzelnen Stimmen werden durch harte harmonische Gesetze zusammengehalten.

Brocken ( 1142 m ), im Harz Nach allen Seiten gleitet der Blick über gleichfarbene und gleichmässig bewaldete Hügel. Sie sind nicht geordnet, sondern es ist eine unruhige Rivalität nichtssagender und unbedeutender Zwerge. Die Ebenen dahinter sind zu weit, als dass der Blick Einzelheiten einfangen könnte, zu weit entfernt, als dass sie anders wirkten als platte und etwas missfarbene Erde.

Diese Aussicht ist langweilig. Sie ist so langweilig, wie die stark durchforsteten Wälder, durch die man aufsteigt zur Höhe, und die man kaum anders bezeichnen möchte als Baumanpflanzungen. Wohl steht man auf einem Gipfel — hat aber in keiner Weise das Gefühl des Erhabenseins über der Welt. Zu sanft ist von allen Seiten der Anstieg der niederen Kuppen, zu gering auch der Unterschied gegen die andrängenden benachbarten Hügel.

Ja, wenn das Brockengespenst auf Nebelwänden geistert, wenn wilde Wolken, zerrissen und gejagt, uns einhüllen und wieder freigeben, oder mit anderen Worten: wenn die Landschaft sich paart mit einer Wolkenschaft, wenn die Landschaft ringsum beinahe ausgelöscht ist, wenn die Aussicht eben keine Fernsicht mehr ist — dann ist es auch hier oben schön.

Aber bei klarem Himmel, bei weiter Sicht und ohne Geheimnisse der Luft und des Wetters ist die Aussicht vom Brocken ein grosses Erlebnis wohl nur für den, der auf und in seine Heimat schaut — denn jede Heimat ist schön, weil sie voll ist der Erinnerungen, Gefühle und Empfindungen.

( Schluss folgt )

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