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Unfall in den Bergen

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

( Aus dem Tagebuch eines bejahrten BerggängersVon Eugen Kugler

( Zug ) Der 12. Oktober 1952, ein wunderbarer Sonntag, bricht im Isental an. Kurz vor 6 Uhr verlasse ich das blitzsaubere Gasthaus « Urirotstock », um die Frühmesse zu besuchen. Die Nägel der Bergschuhe greifen in die gefrorene Erde, ein ganz eigenes Gefühl für den Berggänger. Über mir wölbt sich ein wolkenloser Sternenhimmel und verspricht einen einzig schönen Tag. Nur weit draussen und ziemlich tief kann man eine Nebelbank erraten. Dies stimmt mit der vorabendlichen Radiomeldung gut überein. Kaum sind die niedere Friedhof-mauer und die einfachen Holzkreuze zu erkennen. Nur in Gedanken ziehen die darauf stehenden Namen vorbei, die ich am Tag vorher gelesen: Aschwanden, Bissig, Gisler und noch viele Urner Geschlechter. Noch ahne ich nicht, was mir am gleichen Tag einzelne Namen bedeuten sollten.

Die Frühmesse ist gut besucht, die älteren Männer drängen sich, wie überall in den Bergkirchen, in die hintersten Bänke, die Jünglinge und Buben kommen pünktlich, aber ja nicht zu früh, mit gewichtigem Berglerschritt und schieben sich gegenseitig in die Sitze. Die Evangeliumsseite ist schon lange dicht besetzt von ernsten Frauen in den einfachen schwarzen, so kleidsamen Sonntagsgewändern, nur hie und da dazwischen ein moderneres ( schöneres ?) Kostüm einer in der Stadt Dienenden. Und vorne einige Bänke mit zwei-zöpfigen Mädchen, betreut von ernstblickenden Klosterfrauen. Feierlich wickelt sich die heilige Handlung ab.

Beim Verlassen des Gotteshauses beginnt die Tageshelle. Ein Soldat aus meiner alten Truppe wartet schon mit dem Motorrad auf mich, um mich möglichst schnell nach St. Jakob, eine Wegstunde oberhalb Isenthal, zu bringen. Es ist eine kurze, aber kalte Fahrt, und ich bin wirklich froh, dass ich mich trotz meiner warmen Kleider hinter den breiten Rücken meines Fahrers ducken kann. In zehn Minuten ist die Hütte in Stettli erreicht. Mein alter Bergkamerad Hans und sein Kollege von der Fabrik sitzen noch hinter dampfenden Kaffee-kacheln. Lehnt man da eine Einladung zum Mithalten ab? Ich tue es nicht.

Eine halbe Stunde später sind wir auf dem Weg, ich voran, da ich als der Älteste das Tempo angeben darf. Was macht das Wetter? Will es ändern? Was bedeuten wohl die sonderbaren Nebelkappen am Engelberger Rotstock und am Bärenstock? Wir werden es ja sehen! Bergwald nimmt uns auf. Hier im Halbdunkel fehlt das Sonnenlicht; gleichwohl ein unendlicher Farbenreichtum, vom Grün zäher Sträucher über das Braun im Rauhreif fallender Blätter zum Rotgold des Ahorns! Und dazwischen stehen noch blätterlose Stiele mit schwarzen und roten Beeren, für deren Namen meine botanischen Kenntnisse nicht genügen. Zwei enge Lawinenzüge haben den Wald aufgerissen und geben dem Sonnenlicht freien Zutritt. Erst hier kommt die ganze frohe Farbenfreudigkeit des Herbstes zur vollen Geltung. Welch unbeschreibliche Pracht!

Der zweite Lawinenzug ist scharf dreieckförmig in den Hang eingekerbt. Gras wächst nur spärlich in ihm, aber überall blüht zwischen den Steinen das genügsame violett- und orangefarbige Alpenleinkraut. Längs der östlichen Kante des Zuges zickzackt der Weg steil hinauf. Die dünne Schneeschicht bildet anhängliche Ballen an den Tricouni. Die Sonne gewinnt an Kraft. Sie beginnt das Eis zu lösen, das die losen Steine an den Untergrund kittet. Die grösseren und kleineren Blöcke erfreuen sich ihrer wieder erlangten Freiheit und hüpfen talwärts. So fängt der Steinschlag an, den die Berggänger so wenig schätzen.

Wir erreichen eine kleine Hütte, die malerisch schön und geschützt unter einer mächtigen Rotbuche steht. Sie dient dem vorübergehenden Aufenthalt der Wildheuer. Der Bau der Hütte ist zweiteilig. Ein Raum ist Schlafgemach, voll von feinem, duftigem Heu, der andere dient als Küche, hat eine roh zusammengefügte Feuerstelle aus vier Steinplatten, und darüber hängt eine kleine Kupferpfanne. Als Fenster und Kamin dienen die breiten Fugen der Aussenwände. Wir sind arg versucht, eine längere Siesta zu machen. Aber das « Streben zur Höhe » siegt über die Bequemlichkeit des Fleisches.

Unser Weglein überquert den Lawinenzug. Wir folgen einer noch frischen Fuchsspur. Auch sie lässt keinen Zickzack des leicht überschneiten Wegleins aus. Offenbar folgen auch die freilebenden Tiere lieber einer steilen Wegkehre als einer noch steileren Abkürzung. Da meckert es über unsern Köpfen. Vier Ziegen stehen ca. 10 Meter oberhalb unseres Standorts, dunkelbraun, fast schwarz, beinahe wie Gemsen anzusehen. Was wollen die Tiere da oben im Schnee? Verlaufen? Oder ist die Baubergalp gar noch bewohntPlötzlich hüllt dicker Nebel alles ein. Er verschluckt die ganze Landschaft. Die Ziegen verschwinden auf einem ansteigenden Weg im Wald. Wir freuen uns, in Schnee und Nebel, einem Zustand wie in einer Waschküche, die richtige Route wieder erwischt zu haben, die offenkundig zu der erstrebten Alp führt. Die Freude ist leider von kurzer Dauer. Nach fünf Minuten ist der Weg durch einen spiegelglatten Felsrutsch unterbrochen. Keine Übergangsmöglichkeit ohne Seilsicherung. Die Ziegen haben sich aufwärts in den Wald verzogen. Wir folgen ihnen. Von Baum zu Baum, von Felsblock zu Felsblock. Durch Gebüsch und Heidelbeersträucher geht es steil aufwärts. Schon beginnen die Tannen an der oberen Baumgrenze sich zu lichten. Da versperrt ein zwei Meter hoher Absatz unsern Aufstieg. Xaver, der Längste von uns, schwingt sich gewandt hinauf. Dann folge ich als der Kleinste. Ich reiche meinen Hakenstock hinauf. Xaver packt ihn und will mich hochziehen. Da geschieht das Malheur. Der glatte Stock, vom vielen Gebrauch entrindet, vom Schnee durchnässt, entgleitet seiner Hand, und rückwärts stürze ich ins Freie hinaus. Hans, hinter mir stehend, versucht mich aufzuhalten. Umsonst! Ich spüre den Aufschlag auf einem Felskopf. Dann folgt der zweite Überschlag, und ich falle mit dem Rücken quer an eine Tanne. « Der Rücken ist entzwei », schiesst es mir durch den Kopf. Aber schon geht es wirbelnd weiter, kopfvoran. Ich sehe unter mir die letzte kleine Felswand, darunter den kahlen, glatten Steilhang. « Wie werde ich da unten landen? » Aber mein Sturz endet gerade über der Wand, wirft mich mit dem Rücken auf ein schmales Band, die Beine über dem Abgrund. Die Linke greift instinktiv nach einer kleinen Krüppeltanne, die neben mir steht. Sie hält, und ich bin gerettet! Nur ein paar Sekunden hat alles gedauert. Wie ein Erstickender schnappe ich nach Luft, und schon taucht das besorgte Gesicht von Hans über mir auf. Die Kameraden ziehen mich unter eigener Lebensgefahr von der Felswand weg. Die freiliegenden Wurzeln einer Arve müssen den nötigen Halt geben, damit ich bei einer immerhin möglichen Ohnmacht nicht weiter abstürze. Während unserer kurzen Beratung über das Weitere bemühen sich die zwei Freunde rührend um mich. Ein Rucksack dient als Unterlage, damit ich nicht im Schnee sitze. In alle irgendwie entbehrlichen Kleidungsstücke meiner Kameraden werde ich eingepackt, um während der unvermeidlich langen Wartezeit bis zum Abtransport nicht allzusehr zu frieren. Ohne Verzug eilt Xaver zu Tal, um Hilfe zu holen. Unsere besorgten Gedanken begleiten ihn. Hoffentlich passiert ihm kein Unfall. Unterdessen rekognosziert Hans die nächste Umgebung für meinen Abtransport. Dazwischen versucht er, mich mit etwas Bündnerfleisch und Zucker mit Kirsch zu stärken. Wir schlottern vor Kälte und lauschen, ob Hilfe nahe. Mein guter Kamerad friert noch mehr als ich. Sein Pullover und sein warmer Rock liegen ja über mir. In der Not zieht er sein Reservehemd über.

Punkt 10 Uhr ist der Unfall passiert. Jetzt ist 12 Uhr vorbei. Sind das nicht Stimmen aus dem Tal? Hans jauchzt und erhält Antwort. Die Helfer nahen. Um halb 1 Uhr taucht Xaver wie aus einem Liftschacht aus der Tiefe auf, begleitet von vier kräftigen Männern, die er in der Nachbarschaft unserer Hütte alarmiert hat. Aus dem Rucksack ziehen sie ein langes Seil, ein Tragtuch mit seitlichen Handgriffen, eine Axt, und dann eine Flasche Wein und warmen Tee zur Stärkung. Oh, wie wohl dies tut!

Bemerkenswert rasch bin ich angeseilt und in die Blache gewickelt. Ich hänge mich um den Hals von Hans, und wir werden Zoll um Zoll durch das kleine Couloir abgeseilt, von unten und von den Seiten so gut als möglich gestützt, von oben gesichert. Dann folgt eine kritische Traverse, nur etwa 30 m lang, aber gefährlich steil, auf glattem, leicht schneebedecktem Gras und mit beschränkter Sicherungsmöglichkeit. Wenn einer ausrutscht, so stürzen wir alle sieben einige hundert Meter in die Tiefe. Doch alles geht gut dank der Umsicht und Vorsicht der Kolonne und den « Griffeisen », die zwei Isentaler an den Schuhen haben. Auch der weitere Transport ist nicht ohne Gefahr, bis wir eine Waldzunge erreichen. Bis dahin ist der Transport so erfolgt, dass am unteren Ende des Tragtuches zwei Mann trugen, während mein Oberkörper über den Boden schleifte. Es gab bei der grossen Steilheit keine andere Möglichkeit. Die vier übrigen hatten mit unserer Sicherung vollauf zu tun.

Man wundert sich, wie ein Verunfallter einen solchen Transport überhaupt aushält. Dies rührt vermutlich daher, dass, laienhaft ausgedrückt, unter der furchtbaren Schockwirkung gewisse Nervenzentren einfach lahmgelegt werden und der Verletzte nur einen kleinen Teil der Schmerzen verspürt, die eigentlich den Verletzungen entsprechen würden.

Der Weitertransport im Wald ist ein wahres Kunststück. Die Steilheit hat nicht abgenommen. Dazu kommen kleine Felsköpfe und Abbruche. Aber die Bäume erlauben wenigstens eine gute Seilsicherung. Hoffentlich hält die « Wäscheleine ». Ein besseres Quali-tätszeugnis wage ich unserem Seil nicht zu geben. Trotz einer gewissen Apathie bewundere ich die Trittsicherheit der Bergler, die wir Städter trotz allem Training einfach nicht erreichen. Schliesslich stossen wir auf einen kleinen Heuschober. Der ebene Platz davor ist so klein, dass man mich knapp zwischen der Hütte und einer Triste horizontal legen kann. Dann folgt meine neue Verpackung: Man umpolstert mich mit einem Heuballen, wickelt alles in das Tragtuch, verschnürt es, und weiter geht der Transport! Im Vergleich zum ersten Teil reise ich nun « Polsterklasse ». Bald kommen wir auf eine Waldwiese, die sich steil, aber ziemlich regelmässig bis zur Talsohle fortsetzt. Da sind die Isentaler in ihrem Element. Ohne Pause sausen wir talwärts. Mit « ho-hop » hebt man mich über die Grenzzäune. So geht 's bis zur Talstrasse. Dort werden aus einem Hag zwei Latten gelöst, am Heuballen befestigt, und auf kräftigen Schultern geht 's rasch talaufwärts zum nächsten Haus, wo einer meiner Helfer wohnt. Seine besorgte Frau will sofort ihr Schlafzimmer zur Verfügung stellen. Ich bin dankbar, in der Stube auf einer Matratze ruhen zu können. Die Wanduhr zeigt genau halb 5 Uhr. Warmer Tee und Ruhe sind meine einzigen Wünsche. Leise werkt die Frau mit ihrem ältesten Töchterchen in der benachbarten Küche. Der Tisch ist voll besetzt von Vater, Mutter und fünf Kindern. Trotz offener Türe dringt kaum ein Laut zu mir. Rücksichtnahme ohne ein Wort zu verlieren! Auch meine Freunde sind endlich zur Entspannung gekommen. Sie stärken sich in ihrer nahen Hütte und packen ihre Rucksäcke. ( Sie müssen ja folgendentags wieder an der Arbeit sein. ) Um 6 Uhr steht der Krankenwagen unten am Weg. Der Chauffeur, offenbar ein geübter und zuvorkommender Samariter, bettet mich sorgfältig auf die Bahre und schnallt mich für die Reise fest. Es kommt der Abschied. Ein wortloses Händereichen, die Türe klappt zu, der Motor springt an. Durch den oberen Teil der Fenster sehe ich noch winkende Hände.

Nach anderthalbstündiger Fahrt bin ich in der Klinik. Das Röntgen des zerschlagenen Fusses und der gebrochenen Rippen macht keine Schwierigkeiten. Aber für mein Verhalten bei der Aufnahme der leicht gestauchten Wirbelsäule verdiene ich keine Tapferkeitsmedaille. Um halb 10 Uhr liege ich, wie 8 Monate zuvor, wieder im gleichen Krankenzimmer. Wiederum ist der Tod haarscharf an mir vorbeigegangen. Und erst jetzt, liy2 Stunden nach dem Unfall, kommt mir beim Anblick des Kreuzes an der Wand der erste Gedanke der Dankbarkeit zu Gott, der mich bei allem Unglück so wunderbar bewahrt hat.

Es sind acht Tage nach dem Unfall. Sonntagabend. Die Dämmerung bricht schon herein, und es regnet in Strömen. Da höre ich ein Motorrad, einen Zweitakter. « Das tönt genau wie die Maschine von Hans. Wer anders als er fährt sonst bei solchem Wetter sonntags herum. » Nach ein paar Minuten klopft es, und herein kommt Hans mit strahlendem Gesicht und bringt mir meinen... Hut, geziert mit ein paar Alpenrosenzweigen. Drei Stunden Motorradfahrt und viereinhalb Marschstunden waren meinem Freunde nicht zu viel, um meinen Hut zu suchen. Er fand ihn 150 Meter unterhalb der Unfallstelle.

Und was nun weiter? Wenn man den Bergen verfallen ist, kommt man schwer wieder von ihnen los. So eilen jetzt schon meine Gedanken weit voraus mit der Frage nach den besten Trainingsübungen, wenn die Spitalzeit vorbei sein wird, damit ich im Frühling wieder hinaufsteigen kann zu meinen heben Bergen, wo ich mich trotz allem wohler fühle als auf den motorisierten Strassen der Ebene.

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