Unterengadiner Sommer
Von Hermann Hiltbrunner.
Zeigt das Oberengadin schon im Tal eine bestimmte Weite und Geräumigkeit, so muss man im Unterengadin auf die linken Talstufen steigen, um einen ähnlichen Raumeindruck zu empfangen. Und da sind nun diese hochgestellten Dörfer des Unterengadins: Guarda ist das erste, dann ist es Fetan, dann Sent.
Ardez liegt für sich, liegt tiefer, so tief, dass es die Bahn erreichen kann: in seiner zugänglichen Lage gleicht es Schuls. Aber Guarda, hat es den Namen vom Schauen, von seiner Stellung? Es liegt mitten zwischen Lavin und Ardez, aber 200 Meter höher als beide, steht auf einem Plateau, ein Ort auf dem Berg, ein Dorf mit dem Vorzug des Höhergestellten.
Was tut denn der Inn, wie verhält er sich zurzeit? Von Zernez bis Lavin hielt er sich mit der Talsohle auf gleicher Höhe, bald nachher aber verliess er die Strasse und die Wiesen, und jetzt läuft er wieder rechts und hat an den Wurzeln der drüben stehenden Berge zu graben angefangen. Er tut es nicht brutal, er bleibt beim Mässigen und Wahrscheinlichen, er lässt noch Platz für eine Strasse, die das Tal durchlaufend nach Ardez führt.
Jetzt übersehe ich einigermassen mein Gebiet, das geographisch nun unbestreitbare Unterengadin: Weit liegt es vor mir, scheinbar unbewohnt, ein Tal der Täler, ein klassisches Tal. Ich setze mich am Wegrand ins Gras und beschaue das Heufutter. Alpenlieschgras sehe ich da, den schwarzvioletten Alpenwindhalm, Mutternkraut, Pippaue und Habichtskräuter und nicht zu vergessen die Herrscher am Wege, die Wegeriche. Ein Duft weht einher, halb ist es Blumen-, halb Heuduft — denn die Heuernte beginnt jetzt. Weite Strecken sind noch ungemäht, und über sie hin weht jener Wind, der in seinen warmen Atemzügen diesen Duft trägt, der mich jagdhundähnlich in die Luft hinausschnuppern macht... Düfte können betäuben, Menschen mit Nase werden leicht wirr und wie berauscht, wenn sie sich solchen Gerüchen überlassen, die einherwogen wie Wellen des Meeres, aufflutend und abebbend wie die Brandung der Zimmtinseln oder der sagenhaften Santelholzküste... Ich blicke über die Grasfläche vor mir. Der Wind streichelt sie, und es ist, als ob eine Brise über violettes Wasser striche. Aber es ist kein Wasser, dieser violette Teppich wird von einem Gras gebildet, von einem zierlichen, leichten, federnden Gräslein, dessen Blütenrispe eben so schwarzviolett überlaufen ist. Auf der Talebene von Zernez habe ich dieses Wesen erstmals entdeckt. Auch dort bildete es das Hauptgras der Heuwiesen: Es war der Windhalm, Agrostis, mehrere Arten von Agrostis, bald capillaris, bald alpina, bald rupestris; hier ist es hauptsächlich der Alpen- oder der Felsenwindhalm, ich kann ihn nicht genau bestimmen, ich habe meinen vorzüglichen Schinz und Keller nicht bei mir. Aber Windhalm heisst das Gras, und es heisst eben heute mit tausendfachem Recht so, und es sieht aus wie purpurner Seidensamt, und der Wind kann nicht ablassen, darüber zu streicheln, und wenn er es tut, so ist es doch wie ein See, ein Purpursee mit jener kurzwelligen Bewegung, wie sie Böen und Brisen auf stehendem Wasser hervorrufen: eine gitterige, netzwellige, glitzernde, spielerisch-unruhige Oberfläche tänzelnden Wassers... So ist diese Wiese, auf der es nicht nach Wasser, sondern nach Gras und Blumen riecht...
Eine mystische Hitze brandet mir entgegen, die Sonnenflamme schlägt mir ins Gesicht — der Raum verbrennt — die Zeit stürzt ein — der grosse, ewige Überbau dieser endlichen Welt senkt sich lautlos herab — wo bin ichwer bin ichIch bin wie abgeschieden, wie verschollen; ich bin totgesagt, für tot erklärt — ich bin dort, wo mongolische Völker ihre Toten wandeln sehen — ich bin im Lande des wallenden Grases... im Lande des wallenden GrasesAber jetzt belebt sich der Plan: luftige Wesen tanzen daher, Feen, freundliche Geister einer unbestimmbaren Zwischenwelt — Dialen sind es, jene weiblichen Wesen, die vorzeit das Unterengadin und das Münstertal bevölkerten, ehe der misstrauische Heuer von Guarda — ein grosser Esel übrigens — sie durch seine Untat vertrieb. Er hatte Streit mit seiner Frau und sollte doch Heu heimholen. Nein, die Frau wollte ihm nicht helfen. Aber als er so allein draussen im Feld arbeitete, erschien eine Diale und half ihm sein Fuder laden. Der Mann hielt sie erst für irgendein Erdenweib, bemerkte aber, als das Wesen auf dem Fuder stand, plötzlich dessen Ziegenfüsse. Ich bin übel dran, der Teufel steht auf meinem Fuder, sagte sich der Mann. Als ihn die Diale nach seinem Namen fragte, sagte er, er heisse Eug suess. Die Dialen mussten wohl ihre eigene Sprache haben, jedenfalls verstand die hilfreiche Heuerin aus der Welt der Wäldergrotten wenig Ladin, sonst hätte sie den Mann und seine Antwort durchschaut. Eug suess heisst « ich selbst » — warum sollte der Mann auch dem Teufel seinen richtigen Namen sagen? Damit dieser ihn desto leichter holen könne? Ganz so dumm war unser Guarda-Mann nicht... Als das Fuder geladen war, tat der Mann mit der Heugabel noch einen letzten Schwung. Man hörte einen markerschütternden Schrei und ein davon-eilendes Fuhrwerk. « Ich habe den Teufel umgebracht », meldete der Mann im Dorf. Draussen aber sammelte sich bald eine grosse Schar von Dialen um die Sterbende. « Wer hat das getan? », fragten sie. « Ich selbst », vermochte die Ärmste noch zu sagen, worauf die andern nur erwidern konnten: « Chi suess fä, suess giauda — was man selbst tut, geniesst man selbst. » Sie mussten aber trotzdem Unrat gewittert haben, jedenfalls wurden von diesem Augenblick an in Feld und Wald keine Dialen mehr gesehen.
Auch ich sehe keine Dialen mehr. Was mir im Wachtraum als Dialen erschien, sind Menschen, Frauen und Kinder, Heuerinnen: Sie tanzen nicht, sie gabeln und mähen und haben Füsse, edle Menschenfüsse und Schuhe an ihnen. Da sie keine Dialen sind, ich also von dieser Seite keinerlei Wohltat und Hilfe erwarten kann und übrigens auch nichts Derartiges brauche, stehe ich auf und halte Einzug in Guarda wie in ein Städtchen.
Lautlos marschiere ich ein, und auch das Dorf ist lautlos, leblos. Man ist bei der Arbeit. Und die alten Häuser scheinen froh darüber, ihrer Bewohner für ein paar Stunden ledig zu sein.
Und nun all diese Häuser und all das, was an ihnen auffällt, all diese Gross- und Kleinarchitektur, all der Fassadenschmuck, Fresken, Sgraffiti — es gäbe allein ein Buch über jedes dieser alten Dörfer zu schreiben. Ich untersuche ein paar Hauswände, um mich gänzlich von dem zu überzeugen, was ich schon oder nur theoretisch weiss: dass Sgraffitoschmuck auf einem Doppel-verputz beruht. Der zweitoberste Verputz eines Hauses muss dunkelfarbig sein, braun oder grauschwarz bis schwarz. Auf diesen kommt der oberste und äussere Verputz in blendendem Weiss. Der Sgraffitokünstler kratzt nun, wenn er ein Lehrling ist, einer Schablone entlang, wenn er aber ein Meister ist, von freier Hand Figuren, Ornamente, Friese, alles mögliche aus dem Verputz heraus: Er hat gleichsam nur auszusparen, hat nur den äussern, weissen Verputz im Sinne einer Kontur, einer Zeichnung, eines Ornamentes abzukratzen bis auf den dunklen, darunterliegenden Verputz, der die Konturen dann farbig und flächenhaft ausfüllt. Sgraffito bedeutet also Kratzzeichnung, bedeutet eine bestimmte Methode der Fassadenverzierung. Die meisten Sgraffiti sind mit Schablonen oder dann mit Zirkel und Lineal hergestellt worden. Daher herrschen geometrische Ornamente und Zirkelschläge vor. Aber in der spätem Barockzeit gab es beherzte Meister, die freihändig und unbekümmert um kleine Verstösse gegen die Symmetrie eine Wand auszuschmücken vermochten.
Woher diese Sgraffitotechnik nach Graubünden kam, weiss man nicht. Ob die allgemeine Annahme, dass sie zuerst in Italien gehandhabt worden sei, richtig ist, bezweifle ich fast. Nicht alle Kunst, nicht aller Kultursegen kommt von Italien. Aber vieles kam über Italien von viel weiter her. Ich kann nicht sagen, dass mich diese Häuser und ihr Schmuck italienisch anmuten. Ich rate unsern Archäologen wiederum, entweder bei den Etruskern oder dann bei bestimmt östlichen Kulturen Nachforschungen hierüber anzustellen. Wenn auch die Formenwelt der italienischen Renaissance die Sgraffitomanier zu einer sozusagen klassischen Höhe gebracht hat, so reicht doch diese Technik zurück bis in die gotische Zeit, die sie meines Erachtens wohl kaum erfunden hat.
Von Guarda treibt es mich weiter auf diesem Höhenweg. Oh, ein wunderbarer Weg durch Weiden, und Büschen, Rosenbüschen entlang! Aber jetzt kommt auch einmal ein Wald. Ein Lärchenwald, licht und schön. Denn die Wälder sind selten geworden auf dieser linken Talseite: und zwar sind sie dies von der Maloja bis nach Martinsbruck hinunter. Das ist das Auffallende für den Engadinwanderer: Die meisten Dörfer liegen links vom Inn, und das versteht er gut, denn das ist ja die Sonnseite. Aber da er rechts des Inns beständig von schönen Wäldern begleitet wird, sieht er auch einmal die Talhänge an, zu deren Füssen er geht, die linken. Und wo ist da der Wald? Zum Teufel ist der Wald! Keine Rede von ununterbrochenem Gürtel wie auf der Gegenseite. Diese Sonnseite ist nun natürlich nicht gerade völlig kahl, das ist sie nicht, aber es fehlt ihr etwas, und dieses Fehlende fällt auf an ihr. Wie kam das alles? Bergwerke und Holzfrevel — das Thema kennen wir. Aber hier trifft es nicht zu. Hier muss ich die Engadiner entschieden verteidigen.
Denn: Bergwerke sind keine da, im Haupttal nicht, und dahin, wo in Nebentälern Bergbau betrieben wurde, wie zum Beispiel im Scarltal oder am Ofenberg, brauchte man kein Holz zu schleppen. Der grösste Teil des inn-linksseitigen Bodens besteht übrigens aus kristallinem Gestein, und hier in Guarda ist es der Gneis und Glimmerschiefer des Silvrettamassivs — soviel ich weiss, ist aus diesem Gestein nicht sehr oft und hierzulande kaum etwas zu holen, denn es ist ja das älteste, ist ein metamorphosiertes, umgeprägtes Gestein, so umgewandelt, dass man vielfach im Zweifel ist, ob es vulkanischen oder sedimentären Ursprungs sei — also nicht das älteste, sondern das aus dem gänzlich aufgearbeiteten ältesten hervorgegangene Gestein: das ist unser Gneis, ein rätselhaftes Produkt, er und seine Verwandten, in seiner grossen Umgewandeitheit einzig dastehend. Wie sollte da bergmännisch etwas zu holen sein, wenn nicht er selbst, als GanzesDenn es muss uns aufgefallen sein, dass wohl alle alten Hüttenwerke in Bünden an Orten stehen, wo entweder Sedimente oder Eruptivgesteine vorherrschen.
Ob aber den Wäldern allezeit der richtige Schutz gewährt worden, ist eine andere Frage. Gewiss hat man auch Wald gereutet, um Weiden zu bekommen, das ist wohl nicht zu leugnen; denn die Waldgrenze sollte ja bei solcher hochsockligen Massenerhebung ähnlich wie im Wallis im Mittel bis auf 2150 Meter emporsteigen, tut es aber innlinksseitig nicht. Doch ist das keineswegs nur dem Raubsystem der Hirten und allfälligen Waldbränden zuzuschreiben. Auch Herr Baldiron ist nicht allein dafür verantwortlich zu machen, Baldiron, der österreichische General, seine Majestät die Ruchlosigkeit selber, der in den Religionskriegen des Dreissigjährigen zu wiederholten Malen im Unterengadin brandschatzte, nachdem nicht viel mehr als hundert Jahre früher im Schwabenkrieg fast alle Engadiner Dörfer eingeäschert worden waren. Zugegeben, zugegeben auch, dass die Gemeinden Zuoz und Scanfs 1799 der Stadt Innsbruck Wälder verkauft haben, 8 Kreuzer das Klafter Holz, wahrscheinlich als Feuerung unter den Salzpfannen von Hall, wogegen man 200 Mutt Korn einführen durfte, zugegeben ferner, dass im Lauf der Jahrhunderte viele Engadiner Dörfer zerstörenden Feuersbrünsten zum Opfer gefallen sind und man trotz steingebauter Häuser eben doch auch in vermehrtem Masse Holz brauchte — aber all das Aufgezählte und noch nicht Aufgezählte ist vielleicht doch nicht allein schuld an der übrigens schon sehr alten, unsern Vorvätern als Gefahr genau so bekannten Waldarmut der nördlichen Tallehne.
Ich bin drauf und dran, die gute Einsicht und Klugheit der Engadiner zu retten, indem ich frage: Warum gehört das Gebiet des Ofenpasses und der ehemaligen Bergwerke von Buffalora und il Fuorn zu den waldreichsten Gebieten das ganzen Kantons? Warum ist das Scarltal noch so bewaldet und zeigt, soweit Kalk und Dolomit die Unterlage bilden, Bergföhren und, wo Urgestein auftritt, den schönsten Arvenwald unseres Landes? Allerdings hat die Gemeinde Zernez, die mit ihrem Waldbesitz von 5000 Hektaren die waldreichste Gemeinde der Schweiz ist, ihren Wald etwas besser gehütet als die Nachbargemeinden, aber deswegen hat man die Öfen dort hinten nicht mit Steinen geheizt. Ist da wie dort der Wald wieder nachgewachsen? Offenbar. Warum konnte er nachwachsen? Pflegte man ihn sonderlich? Darüber ist nichts bekannt. Fand er besonders günstige Lebensbedingungen? Nein, auf dem höchst wasserdurchlässigen Kalk- und Dolomitboden des Ofengebietes und bei dieser äusserst geringen Niederschlagsmenge, die diese Hochfläche empfängt, bildet sich keine grössere Humusschicht, und man soll deshalb nicht einwerfen wollen, der Wald im Ofengebiet sei vorzeiten anders zusammengesetzt gewesen: dort wächst überhaupt nur die Bergkiefer, nur sie ist ausgerüstet und genügsam genug, dort zu wohnen, fast ohne Wasser, im kontinental heissen Sommer wie im kontinental kalten Winter und einer äusserst kurzen Vegetationsperiode. Lärche, Arve und Fichte könnten dort gar nicht leben. Also dies: Warum wuchs der Wald dort und im Scarltal wieder nach, nicht aber auf den Hängen links des Inns?
Hat ihn der Weidgang oder die lokale Klimaverschlechterung infolge verschiedener Kahlschläge am Aufwachsen und Hochkommen verhindert? Vielleicht, eine Nebenursache, gewiss. Aber die Grundursache? Ich glaube, ich glaube, es gibt auch heutigen Tages noch aussterbende Pflanzen- und Tierarten, warum sollte das geologische Altertum und Mittelalter allein zahlreiche Geschöpfe auf den Aussterbeetat gesetzt haben, warum nicht auch die geologische Neuzeit? Ich sehe die Lärchenwälder des obern und mittlern Engadins. Sie sind krank, jedes Jahr sind sie krank, der Lärchenwickler überfällt sie, ein Pilz überfällt sie. Die Lärche ist, viel mehr als die Arve, die « Zeder der Alpen » — und auch die Zedern sterben aus, aber nicht weil Salomo zum Tempelbau zu viele hat schlagen lassen.
Sie sterben aus, weil sie lange genug auf dieser Welt gelebt haben, sie diese lange genug und durch vielleicht Tausende von Generationen haben ertragen können — jetzt zeigt es sich, dass ihnen einiges auf dieser Welt zuzusetzen vermag, was ihnen ehedem nichts anhaben konnte. Aber es ist wohl ein Aussterben von innen heraus, sie sind am Ende einer Entwicklung angelangt, haben ihre Idee erfüllt und vollkommen repräsentiert, jetzt werden sie abberufen, Gott weissAber warum wachsen denn nicht einmal Bergkiefern auf den Hängen links des Inns, die ja, noch einmal zu sagen, keineswegs völlig kahl sind? Bergkiefern scheinen doch sehr regenerationsfähig zu sein nach der Lehre vom OfenpassDas ist nach meiner Meinung keine Bodenfrage. Pinus Mugo, Bergkiefer, kann, obwohl sie Kalkliebhaberin ist, überall wachsen, auf dem Trockenen und auf Sumpf, im Engadin und in Dänemark, zuoberst und zuunterst. Aber entweder verträgt sie die allzu grosse Strahlung, vornehmlich die Winterstrahlung nicht, der sie sonnseits ausgesetzt wäre, oder sie erträgt die Wärmeschwankung jener bevorzugten Seite nicht. Denn am Sonnenhang ist mit einer Tagesamplitude von zeitweise 50° zu rechnen. Ich sage das nicht ins Blaue hinaus, und die Botaniker sollen einmal darüber nachdenken, warum Pinus Mugo in der Höhe überhaupt zu Krummholz wird. Schneedruck, sagen sie unter anderm. Jawohl, aber diese Föhre legt sich gern, lässt sich gern zu Boden drücken, die Schneedecke ist ja ihr Schutz. « Was die Schneedecke überragt, stirbt ab », teilte mir der Geologe Rudolf Staub aus dem Fextal mit. Gemeint ist Pinus Mugo. Es kann die Temperaturschwankung sein, es kann die Strahlung sein — es wird am Ende wohl beides zusammen sein... Also dort, wo der Schnee rasch abschmilzt und nicht die nötige Mächtigkeit erreicht, dort also, wo ein Hang die denkbar beste Sonnenexposition zeigt, wo wintertagsüber zwanzig und mehr Grad Wärme und nachts darauf zwanzig und mehr Grad Kälte zu verzeichnen sind und wo ein Strahlen-einfall von grösster Intensität möglich ist — dort gedeiht Pinus Mugo auch in der niederliegenden Form nicht. In dieser Hinsicht sind die Kontinental-klimaliebhaber Arve und Lärche besser daran. Die Waldföhre aber, Pinus silvestris, die in Sibirien vierzig Grad Kälte erträgt und trotz einer nur drei Monate dauernden Vegetationszeit leibt und lebt, diese Föhre will nicht in die Höhe steigen. Über 1800 Meter geht sie nicht, auch nicht ihre Engadiner Spielart, die besser an das Gebirge angepasst ist als die vom Unterland. Woher kommt das? Ist mit nichten sicher festzustellen. Ein Grund mag der sein, dass die Föhre, die, wenn immer möglich, eine Pfahlwurzel ausbildet, auf Fels im Wurzelwerk degeneriert und widerstandsunfähig wird gegen Windwurf. Ausserdem ist ihr Holz nicht so bruchfest wie das ihrer Schwestern, sie leidet stärker unter Schneedruck. Item — das sind nur einige Gedanken, ist keine Lösung des Problems. Nur das Experiment kann hier Klarheit schaffen.
Hier also der freundliche, lockere, helle Lärchenwald und ein Weg durch ihn, der nach Bos-chia führt.
Auch dieses Bos-chia hat sein Licht nicht unter den Scheffel gestellt. Es ist nach meinen Erfahrungen von allen diesen Terrassenorten weitaus der schönste Punkt, und einen solchen Weg, wie der von Guarda über Bos-chia nach Ardez, gibt es im ganzen Tal nie wieder. Deshalb will ich das Bedeutsame von Ardez, Fetan und Sent, die alle annähernd gleiche Lage haben, zusammenfassen in dieses typische Bild, das mir zu schauen vergönnt war und das ich ja auch auf der ausgedehnten Stufe von Fetan oder auf dem Wiesenplan von Sent hätte erleben können...
Man geht einen Weg, dort oder hier, es sollte doch wohl bald 12 Uhr läuten? Schattenlose Mittagsgeister schweben über grüne Vordergrundhügel. Da — ein Ruf von drüben, von der andern Talseite, von hoch oben kommt er her, wo jene Gräte stehen und ragen, deren Nordhang noch tief verschneit ist... von dort droben kommt der Donner aus heiterm Himmel, ein Ton aus der Höhe gleich dem einer mehrmalig angeschlagenen Glocke, der Ton ist hell und jäh wie ein plötzlich aufgehendes Licht, wie ein Blitz aus heiterm Himmel, Blitz und Donner zugleich: die Eisglocke ist es, stürzender Schnee, das Kirchengeläute der Mittagslawine...
Die Wiesenflur vor mir ist lebendig von Duft und Summen. Und Scharen schönster Schmetterlinge schweben herbei und vorüber, schattenlose, freundliche Mittagsgeister, herrliche Flügelwesen unter Gottes hellem Himmel, alle, alle kommen sie, als ob sie geradewegs aus dem Himmel selbst kämen: Apollo und Aurorafalter, Orion, Bär und Fuchs, Admiral und Schwalbenschwanz, goldenes C oder goldenes 8 oder wie er heissen mag, dann alle die Bräunlinge, alle die Bläulinge, ohne Zahl und für sich selbst ohne Namen kommen sie und schweben. Und durch ihren luftigen Tanz hindurch sehe ich das Tal, das weite, süsse Tal, wie es sich abwärts dehnt, aufwärts sich erstreckt — das Engadin ist es, grüngolden in der Nähe, blau schillernd in der Ferne, das Engadin, das ganz und gar wie ein Schmetterling vor mir schwebt, selber ein süsser Falter ist in Silber und Blau 1 ).