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Vegetative Fortpflanzungsmöglichkeiten und deren Bedeutung bei hochalpinen Blütenpflanzen

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

VON HANS HARTMANN, BASEL

Mit 11 Bildern ( 70-80 ) und 7 Zeichnungen Die Fortpflanzung zählt zu den charakteristischen Merkmalen aller Lebewesen ( Pflanzen, Tiere und Mensch ). Wir verstehen darunter die Fähigkeit der Organismen, neue Individuen ihrer Art hervorzubringen, wodurch die Möglichkeit der Arterhaltung gegeben ist. Die Arterhaltung kann nun sowohl bei Pflanzen als auch bei Tieren entweder durch geschlechtliche ( sexuelle ) oder ungeschlechtliche Fortpflanzung sichergestellt sein, eventuell auch durch beide Vorgänge nebeneinander.

Bei den Blütenpflanzen ist die Voraussetzung zur geschlechtlichen Fortpflanzung grundsätzlich dann erfüllt, wenn die Eizelle ( weibliche Geschlechtszelle ) in der Samenanlage durch eine männliche Geschlechtszelle aus dem Pollenschlauch befruchtet wird. Durch Zellteilung und Differenzierung geht aus der befruchteten Eizelle ein neues Pflänzchen hervor, das zunächst bis zum Kei-mungsstadium im Samen eingeschlossen bleibt.

Individuen, deren Entwicklung kein Befruchtungsvorgang zugrunde liegt, sind auf ungeschlecht-lichem Wege entstanden. In der vorliegenden Darstellung beschränken wir uns auf die rein vegetative Fortpflanzung und Vermehrung und lassen alle jene Erscheinungen, wo aus einer unbefruchteten Eizelle oder aus andern Zellen der Samenanlage ohne Befruchtung neue Pflanzen entstehen ( Apomixis ), unberücksichtigt.

Die eigentlich vegetative Fortpflanzung besteht darin, dass Teile des Vegetationskörpers selbständig werden und sich zu neuen Pflanzen entwickeln. Dieser auf Sprossung beruhende Vorgang ist z.B. von der Ausläuferbildung allgemein bekannt. In den meisten Fällen sind sogar ganz gewöhnliche Sprosse ( Kriechsprosse ) oder Teile davon an der vegetativen Fortpflanzung und Vermehrung beteiligt; nur bei relativ wenigen Arten sind es spezielle Brutkörper bzw. Brutknospen, die die vegetative Fortpflanzung besorgen.

Als Folge der extremeren klimatischen Bedingungen werden bekanntlich die Lebensverhältnisse mit zunehmender Höhenlage in den Alpen ganz allgemein ungünstiger. Die verschiedenen Faktoren, die das hochalpine Klima bedingen - im Zusammenhang mit der kurzen Vegetationszeit -erzeugen in den höhern Lagen schliesslich recht unwirtliche Lebensverhältnisse, was sich mit zunehmender Meereshöhe direkt in einer steten Abnahme der Pflanzenarten - wie übrigens auch der Tierarten - auswirkt.

Pflanzen, die noch in der obersten Vegetationsstufe gedeihen und über der Schneegrenze als Pioniere ihr Dasein fristen, sind stets mancherlei Faktoren ausgesetzt, welche das Weiterleben der Individuen immer wieder in Frage stellen.

Heftige mechanisch wirkende und austrocknende Winde, grosse Strahlungs- und Temperaturunterschiede oder plötzlicher Schneefall und Frost im Hochsommer beeinträchtigen und gefährden das Leben der einzelnen Pflanzen Durch diese und andere Einwirkungen kann die an sich schon kurze Vegetationszeit, die bei uns auf ca. 2500 m im Mittel höchstens 2¼ Monate dauert, weiter gekürzt werden. An Schattenhängen oder in schattigen Mulden wird der Schnee zuweilen überhaupt nicht mehr weggeschmolzen. Die davon betroffenen Pflanzen müssen somit zwei oder sogar mehrere Jahre warten, bis ihre Weiterentwicklung fortgesetzt werden kann.

Anmerkung für alle Zeichnungen Die mehr als einjährigen Sprossteile sind schraffiert dargestellt. Ohne besondern Hinweis sind die Wurzeln schwarz gehalten.

Eine kurz gestrichelte Linie ( beidseits begrenzt ) deutet an, wo die entsprechenden Sprosse die Erdoberfläche erreichen.

Abb. 1. Schema einer Staude:

BstBlütenstand EErdoberfläche EkErneuerungsknospen KsKriechsprosse Osaufrechte, oberirdische Sprosse PsPrimärspross PwPrimärwurzel Swsprossbürtige Wurzeln 1-4 vier aufeinanderfolgende Jahrgänge, von denen die ersten drei bis auf ihre unterirdischen Teile abgestorben sind ( getrichelte Linie = abgestorbene Teile ) Kräuter, d.h. ein- und zweijährige Pflanzen ( Therophyten ), stellen demnach in der hochalpinen Vegetationszone keine günstige Lebensform dar! Die Produktion von Samen muss bei den Einjährigen in relativ kurzer Zeit und in derselben Vegetationsperiode sichergestellt werden; denn nach der Ausbildung der Früchte sterben die Pflanzen ab, weshalb das Fortbestehen der Art an solchen Standorten recht ungewiss sein wird, vor allem auch deshalb, weil alle einheimischen alpinen Kräuter jeglicher vegetativen Fortpflanzung entbehren. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Einjährigen mit zunehmender Meereshöhe eine starke Abnahme in der Artenzahl erfahren. Von 205 untersuchten Arten waren nur 4 Kräuter, was ungefähr 2% entspricht, während im Mittelland ca. 20% aller Blütenpflanzen ein- bzw. zweijährig sind.

Die ausdauernden Arten im Bereich der Hochalpen sind entweder Stauden oder Zwergsträucher. Wenn auch früher oder später sozusagen alle diese ausdauernden Gewächse Blüten zu erzeugen vermögen, kann doch jeder Schritt in der Entwicklung von der Bestäubung bis zum reifen Samen viel eher unterbleiben als in einer klimatisch günstigeren Umwelt. Selbst die fertig ausgebildeten Früchte und Samen sind nun mehr oder weniger dem Zufall der ziellos wirkenden Winde preisgegeben, so dass ein beachtlicher Teil der Verbreitungseinheiten ( Samen oder Früchte ) auf ungünstigen Keimboden fällt. Berücksichtigen wir ausserdem die im allgemeinen erschwerten Keimungs-bedingungen auf den hochalpinen Böden sowie die Tatsache, dass infolge der kurzen Vegetationszeit noch manche schwach entwickelten Keimpflanzen den Winter überstehen sollten, so ist der geschlechtlichen Fortpflanzung und Vermehrung oft doch nur ein geringer Erfolg beschieden, der in manchen Fällen durch eine entsprechend wirksame Entwicklung im vegetativen Bereich wieder Abb. 2. Einzelne Brutknospen:

Fig. II Brutknöllchen von Polygonum viviparum ( Lebendiggebärender Knöterich ) A Sprossachse ( verdickt ) B erste Laubblätter D Deckspelze H Hüllspelze W Wurzel wettgemacht wird. Die Vermutung, dass demnach den meist einfacheren vegetativen Fortpflan-zungsvorgängen erhöhte Bedeutung zukommen könnte, ist gerechtfertigt.

Am Beispiel einiger bekannter Alpenpflanzen wollen wir versuchen, die wichtigsten Formen der vegetativen Fortpflanzung darzustellen.

Von allen vegetativen Organen, die bei einer Blütenpflanze für die Fortpflanzung in Frage kommen, dürfen in gewissem Sinne die sog. Brutknospen wohl am ehesten noch mit der Vermehrung durch Samen verglichen werden. Ausser der Tatsache, dass Brutknospen oft an Stelle der Blüten, also im Bereich des Blütenstandes, in Form kleiner Knöspchen zur Ausbildung gelangen, sind für dieselben zufolge ihrer geringen Grosse bis zu einem gewissen Grad auch die gleichen Aus-breitungsagenzien ( Wind, Tiere, Wasser ) wirksam.

Die Erscheinung der Viviparie«Lebendiggebären » ), wie die Ausbildung von Brutknospen im Blütenstand auch etwa bezeichnet worden ist, kennen wir nur von wenigen Arten aus der alpinen und nivalen Stufe. Wohl am bekanntesten dürfte dem Alpenwanderer die vivipare Form des Alpen-rispengrases sein {Poa alpina L. var. vivipara L. ) ( s. Photo 1 ). Im Gegensatz zur bluten- bzw. fruchtbildenden Varietät, bei der die 5- bis lOblütigen Ährchen in meist üppige Rispen zusammengedrängt sind, fehlen den Rispen der viviparen Form in der Regel fruchtbare Blüten. Statt dessen wachsen die einzelnen Ährchen in Laubsprosse aus ( Abb. 2 Fig. I ). Weil in diesen rein vegetativen Ährchen während der ersten Entwicklungszeit das Hauptgewicht auf die Ausbildung der Blatt- organe verlegt ist, die als Träger von Reservestoffen in Frage kommen, bezeichnet man solche Brutknospen als Brutzwiebeln. Die reifen Brutzwiebelchen lösen sich an einer anatomisch früh vorgebildeten « Trennungszone », fallen zu Boden, schlagen Wurzeln und haben nun die Möglichkeit, zu einem neuen Grashorst auszuwachsen. Nicht selten wachsen die Brutzwiebeln bereits auf der Mutterpflanze zu einem kleinen Pflänzchen aus. Durch das Gewicht der vielen, schon weiterentwickelten Brutzwiebeln biegt sich die Rispe zur Erde, worauf sich die so abgelegten « Jung-pflänzchen » mittels sprossbürtiger Wurzeln am Boden befestigen. Der die Rispe tragende Halm spielt in diesem Fall die Rolle eines Ablegersprosses. Die Frage über die Ursache der Viviparie scheint auch heute noch nicht völlig geklärt.

In bezug auf das Verhältnis zwischen der fruchtbildenden und der viviparen Varietät in der Natur lassen die immer wieder gemachten Beobachtungen an den verschiedensten Standorten vermuten, dass nicht äussere Faktoren das Vorkommen der einen oder andern Rasse direkt bedingen.

Auch die in den Alpen gelegentlich anzutreffende vivipare Form des Schaf-Schwingels ( Festuca ovina L. ssp. supina Hackel var. vivipara Hackel ) erzeugt durchwegs Brutzwiebeln.

Nicht minder häufig als das Alpenrispengras ist der Lebendiggebärende Knöterich ( Polygonum viviparum L. ), ein wahrer Ubiquist, d.h. er vermag sich mehr oder weniger in allen Pflanzengesellschaften der alpinen Region anzusiedeln, ist auch « höhenvag » ( tiefer Fundort: Glarus 485 m, höchster Fundort am Mont Blanc, 3200 m ) und zeigt geographisch zirkumpolare Verbreitung ( in Grantland bis 81 Grad n.Br. ).

Der Blütenstand ( s. Photo 2 ) trägt in der Regel nur oberwärts die meist sterilen weissen Blüten, während im untern Teil die Blüten durch Brutknospen ersetzt sind. Seltener besteht der ährige Blütenstand aus lauter Brutknospen ( s. Photo 2 ).

Im Gegensatz zu den Brutzwiebeln stellt bei den Brutknospen des viviparen Knöterichs die knöllchenförmig verdickte Sprossachse einen Reservestoffspeicher für die sich entwickelnde Jungpflanze dar ( Abb. 2, Fig. II ). Solche Brutknospen bezeichnen wir als Brutknöllchen. Trotz der zahlreichen Insektenbesuche und der Möglichkeit spontaner Selbstbestäubung werden Früchte allgemein nur selten beobachtet. Um so bedeutungsvoller ist die Fortpflanzung und Vermehrung durch die Brutknöllchen. Nicht selten entwickeln sich diese schon an der Blütenstandsachse weiter. Später fallen aber alle ab und bewurzeln sich bald. Im unentwickelten Zustand ist eine Ausbreitung der Knöllchen vor allem durch den Wind wirksam. Auch die endozoische Ausbreitung durch Tiere, wie z.B. Schneehuhn, Gemse, Hirsch, Rind und Murmeltier, spielt eine gewisse Rolle.

Ausschliesslich mittels Brutknospen pflanzt sich der in den Alpen sehr seltene Nickende Steinbrech ( Saxifrage cernua L. ) fort. Der Nickende Steinbrech ( Photo 3 ) ist eine nordische Pflanze, die zirkumpolar in der ganzen Arktis allgemein verbreitet und ziemlich häufig ist. Sie hat unsere Alpen vermutlich in der frühen Nacheiszeit erreicht. Heute besiedelt diese Steinbrechart in der Schweiz ausser den ungefähr sechs schon lange bekannten, aber schwer zugänglichen Standorten im Sa-netsch-Wildhorn-Gebiet nur noch die Gipfelregion des Piz Anna ( 2828 m ) im Unterengadin. Die Pflanze bildet oft Blüten, die jedoch steril bleiben. Auffallend ist die Ausbildung zahlreicher Brutzwiebeln in den Achseln der Grundblätter sowie kleiner, rötlich glänzender Brutknöllchen in den Achseln der Stengelblätter oder an Stelle der Blüten im Blütenstand ( s. Photo 3 ).

Zahlenmässig viel bedeutender sind nun alle jene vegetativen Fortpflanzungsmöglichkeiten, die sich aus einer bestimmten Wuchsform ergeben. Die ungeheure Mannigfaltigkeit der Einzelgestalten lässt sich durch vergleichende Studien auf relativ wenige Wuchsformen zurückführen. Einige derselben, die im Hinblick auf die vegetative Fortpflanzung in den Alpen von Bedeutung sein können, sollen am Beispiel je einer bekannten Art kurz beschrieben werden.

Vegetative Vermehrung von Alpenpflanzen Abb. 1 Poa alpina var. vivipara ( Lebendiggebärendes Alpenrispengras ): Rispe mit Brutzwiebelchen.

Abb. 2 Polygonum viviparum ( Lebendiggebärender Knöterich ): Die Ähre links enthält nur Brutknöllchen; an den Ähren in der Bildmitte und rechts sind am Ende einige fruchtbare Blüten sichtbar.

Abb. 3 Saxifraga ceriuia ( Nickender Steinbrech ): Gipfelregion Piz Arina ( 2828 m ). In den Achseln der obern Stengelblätter sind einige Brutknöllchen als « dunkle Punkte » sichtbar. Am Ende jedes Blütenstandes eine Blütenknospe ( steril ).

Abb. 4 Carex firma ( Polstersegge ): Teilweise bloßgelegtes unterirdisches Achsensystem. Älteste Sproßregion zum Teil noch erkennbar, aber längst abgestorben.

Abb. 5 Doronicum grandiflorum ( Großköpfige Gemswurz ): Verzweigte, oberseits freigelegte Erdstämme ( Rhizome ). Einige Bruchnarben und sproßbürtige Wurzeln sind sichtbar.

Abb. 6 Saxifraga oppositifolia ( Gegenblättriger Steinbrech ): Ein verlängerter Kriechtrieb hat ein senkrechtes Felsabsätzchen überwachsen und ( im Bild unten rechts ) bereits wieder ein Pölsterchen gebildet.

Abb. 7 Saxifraga oppositifolia ( Gegenblättriger Steinbrech ): Dichtes Polster mit wenig verlängerten Randtrieben.

Abb.8 Androsace helvetica ( Schweizer Mannsschild ): Zwei kompakte Kugelpolster; davor Breitblättriges Hornkraut ( Cerastium latifolium ) und Gegenblättriger Steinbrech ( Saxifraga oppositifolia ).

Abb. 9 Saxifraga aspera ssp. bryoides ( Rauher Steinbrech ): In der Gefällsrichtung aufgelockertes Polster an gestuftem Felsabhang.

Abb. 10 Saxifraga aspera ssp. bryoides ( Rauher Steinbrech ): Einzelne verlängerte Randsprosse mit den Kolumellen.

Abb. 11 Ranunculus glacialis ( Gletscher-Hahnenfuß ): Vier getrocknete Exemplare mit je einem Ableger, an dessen Ende die neue Pflanze mit Blüte und den bzw. der sproßbürtigen Wurzel deutlich sichtbar ist.

70-80 - Photos H. Hartmann, Basel Abbildung 1 stellt das Schema einer Staude dar. Bei einer typischen Staude sterben die über dem Boden entfalteten Laub- und Blütensprosse alljährlich bis auf die grundständigen Teile ab. Die Weiterentwicklung der Staude erfolgt entweder von dicht über dem Boden gelegenen oder von in der Erde liegenden Erneuerungsknospen ( Ek ) aus. Je nach Anlage der Erneuerungsknospen sind die ausdauernden Sprossachsen mehr oder weniger tief in den Boden verlagert oder verlaufen an der Oberfläche. Stirbt die an der Keimpflanze zuerst sichtbare Primärwurzel samt Primärspross frühzeitig ab ( Pw und Ps in Abb. 1 ), so sind alle jüngeren Tochtersprosse auf die Erzeugung sprossbürtiger Wurzeln ( Sw ) angewiesen. In dem Masse, wie jeder neue Spross oder Sprossverband auf der einen Seite weiterwächst, stirbt er nach einem bestimmten Zeitpunkt ( meist nach wenigen Jahren ) von der andern Seite her ab. Die daraus hervorgehende vegetative Fortpflanzung ist leicht verständlich. Für einen eigentlichen Vermehrungsvorgang besteht aber die Voraussetzung, dass jeweils mindestens zwei Erneuerungsknospen sich weiterentwickeln, was dann in einer Verzweigung des betreffenden Kriechsprosses zum Ausdruck kommt In dem Zeitpunkt, wo der Absterbevor-gang die Verzweigungsstelle erreicht, werden mindestens zwei Sprosse oder Sproßsysteme isoliert, d.h. selbständig.

Ein Beispiel dafür ist der Zweizeilige Grannenhafer ( Trisetum distichophyllum Pal. ) ( Abb. 3 ). Als häufiger Begleiter in der Gesellschaft des Rundblättrigen Täschelkrautes ( Thlaspi rotundifolium Pal .) besiedelt die Art Schutthalden und Kiesgeröll kalkreicher Gesteinsunterlagen.

Die über einen Meter langen unterirdischen ausläuferartigen Kriechtriebe sind mehr oder weniger stark verzweigt und können einige Jahre erhalten bleiben. Sprossbürtige Wurzeln ( aw in Abb. 3 ) sind ausschliesslich auf die Knoten ( Nodien ) beschränkt, wo oft auch Knospen angelegt werden. Letztere vermögen längere Zeit als Dauerknospen zu verharren oder tragen schon bald zur weiteren Verzweigung des Achsensystems bei.

In der Nähe der Oberfläche richtet sich der Kriechtrieb - wohl unter Lichteinfluss - bald auf und erzeugt die zweizeilig beblätterten Assimilations- oder gar Blütentriebe. Die untersten Knospen der zu aufrechtem Wachstum übergegangenen Triebe scheinen im allgemeinen häufiger auszutreiben, wodurch lockere, horstartige Büschel entstehen, die aber untereinander durch längere und kürzere ausläuferartige Kriechsprosse in Verbindung stehen ( Abb. 3 ).

Wenn durch den natürlichen Wachstumsvorgang die unterirdischen Sprossachsen auch über Jahre hinaus nicht zerfallen, so ist die vegetative Fortpflanzung und Vermehrung lokal doch von grösster Bedeutung für die Erhaltung der Art. Der Boden, in dem die Pflanze wächst, ist ja äusserst unstabil. Jede Schutt- und Geröllbewegung führt zu einer vom « äussern Zufall » abhängigen Aufteilung der ausgedehnten Kriechsprossgeflechte und als Folge davon zu einer wirksamen Vermehrung.

Die Wuchsform und damit die Möglichkeiten im vegetativen Bereich sind gleich oder ähnlich z.B. bei folgenden Arten: Mont-Cenis-Rispengras ( Poa cenisia All. ), Rost-Segge ( Car ex ferruginea Scop. ), Blattloser Ehrenpreis {Veronica aphylla L. ), Gelbe Hainsimse ( Luzula lutea DC ), Zwerg-Schafgarbe ( Achillea nana L. ) u.a.

Sind die meist unterirdischen Kriechsprosse im Durchschnitt stark verkürzt, so stehen die oberirdischen Triebe relativ dicht beisammen und bilden oft ausgedehnte zusammenhängende Rasenflächen, wie z.B. der Stern-Steinbrech ( Saxifraga stellaris L. ) oder die Braune Hainsimse ( Luzula spadicea DC ).

Wenn die Sprosse noch dichter zusammengedrängt stehen, treten die betreffenden Arten als mehr oder weniger gewölbte Rasenpolster in Erscheinung, die sich von den echten Polsterpflanzen nur durch das Fehlen einer ausdauernden Hauptwurzel unterscheiden. Ältere Rasenpolster sind also 12 Die Alpen - 1959 - Les Alpes177 keine Individuen mehr, sondern eigentliche Populationen, weil die jüngeren Triebsysteme oder Einzeltriebe infolge Absterbens der älteren zentralen Partien vollständig von ihren eigenen sprossbürtigen Wurzeln abhängig sind!

Beispiele für Rasenpolster: Polster-Segge ( Carex firma Host ) ( Photo 4 ), Mannsschild-Steinbrech {Saxifraga androsacea L. ), Séguiers Steinbrech ( Saxifraga Seguieri Spreng. ).

Sind die ausläuferartigen unterirdischen Kriechsprosse verdickt und die Internodien ( Stengel-glieder zwischen den Knoten ) stark verkürzt, so bezeichnen wir solche Sprosse als Erdstämme oder Rhizome.

Beispiel einer Rhizompflanze ist die Grossköpfige Gemswurz ( Doronicum grandiflorum Lam. ) ( Abb. 4, Photo 5sie wächst in ruhendem und beweglichem Kalkschutt sowie auf Kalkgeröll, seltener auf steinigem Rasen oder in Felsspalten.

Abb. 3.

Trisetum distichophyllum ( Zweizeiliger Grannenhafer ) Ausschnitt aus dem Achsensystem:

A Assimilationstriebe, aufrecht abzweigend K « ruhende » Knospen ( Erneuerungsknospen ) J Internodien aw sprossbürtige Wurzeln Die Primärwurzel ( Abb. 4, Fig. I ) ist nur über die früheste Entwicklungszeit in Funktion und wird bereits im ersten oder spätestens im zweiten Jahr durch sprossbürtige Wurzeln ersetzt. Der in den folgenden Jahren sich ständig verlängernde und später auch verzweigende Erdstamm wächst in geringer Bodentiefe mehr oder weniger parallel zur Erdoberfläche. Jedes Jahr gelangen an der Oberfläche Triebe zur Ausbildung, die Blätter, eventuell auch Blütenstände erzeugen, jedoch am Ende der Vegetationsperiode wieder absterben. Nur der Erdstamm dauert aus und erhält einen jährlichen Zuwachs von durchschnittlich etwa 1 cm. Jeder Rhizomabschnitt stirbt mit den dazugehörigen Wurzeln, die vor allem der Unterseite entspringen und durch Kontraktionsbewegungen den Erdstamm in seiner Lage einigermassen festhalten, nach 10 bis 20 Jahren ab.

Wie den Pflanzen mit ausläuferartigen Kriechsprossen ist auch den Rhizompflanzen ein unbeschränkt fortdauerndes Wachstum eigen; es sei denn, diesem Wachstum werde durch äussere Einwirkungen ein Ende gesetzt. Unter Berücksichtigung der Standortsverhältnisse ist aber auch hier zu bedenken, dass Bewegungen in der Schutt- oder Geröllhalde, vielleicht auch leichter Steinschlag, für die vegetative Vermehrung eher fördernd als begrenzend wirken. Meist sind gerade jene Stellen, wo der Erdstamm verzweigt ist, auf mechanische Beanspruchung am empfindlichsten. Bruchnarben zeugen später noch für den ehemaligen Zusammenhang nun isolierter Individuen ( Bn in Abb. 4, Fig. II, Photo 5 ).

Andere Beispiele für Rhizompflanzen: Alpen-Wucherblume ( Chrysanthemum alpinum L. ), Schweizer Löwenzahn ( Leontodon helveticus Mér. em.Widd. ), Ganzblättrige Primel ( Primula integrifolia L. ), Aurikel ( Primula auricula L. ), Rosetten-Ehrenpreis ( Veronica bellidioides L. ), Gemeine Bergnelkenwurz ( Sieversia montana R. Br. ).

Am Beispiel des Gegenblättrigen Steinbrechs ( Saxifraga oppositifolia L. ) ( Photos 6 und 7 ) möchten wir auf die vegetativen Möglichkeiten jener Pflanzen hinweisen, deren Primärwurzel sich zur Hauptwurzel entwickelt, die dann erhalten bleibt. Es handelt sich bei diesen Arten um Pflanzen, Abb. 4. Doronicum grandiflorum ( Grossköpfige Gemswurz ) Fig. I einjähriges Pflänzchen Fig. II verzweigter Erdstamm einer mehrjährigen Pflanze Bn Bruchnarben von Erdstamm-Seitenästen Os oberirdische Sprosse Pw Primärwurzel Sw sprossbürtige Wurzeln welche daneben keine Besonderheiten für irgendeine Form vegetativer Fortpflanzung erkennen lassen. Viele Polsterpflanzen gehören dazu.

Denken wir uns im Schema von Abb. 1 alle gestrichelten Linien ausgezogen, die Primärwurzel ( Pw ) zu einer kräftigen Hauptwurzel ausgebildet, die waagrechten Kriechsprosse ( Ks ) mehr oder weniger an die Oberfläche verlagert und verkürzt sowie viel niedrigere Laub- und Blütentriebe, so ergibt sich ein oberflächliches Bild, das für Saxifraga oppositifolia und ähnliche Formen als Grundschema dienen kann.

Die Polster des Gegenblättrigen Steinbrechs werden längere Zeit ( 3-4 Jahre ) ausschliesslich von der kräftigen Hauptwurzel versorgt. Später entstehen da und dort auf der Unterseite der am Boden angeschmiegten Sprossachsen feine sprossbürtige Wurzeln. Solche an einer Pflanze mit Hauptwurzelsystem ausgebildet, heissen auch Adventivwurzeln. In der äusseren Erscheinungsform ist diese Steinbrechart sehr variabel, aber weitgehend durch die unmittelbar wirkenden Milieu-faktoren bestimmt. In geschützter Lage sind flach- bis halbkugelförmige Polster häufig ( Photo 7 ). Auf Feinschutt zwischen grösseren Gesteinsblöcken wie auch in Schutthalden und Felsrinnen werden die Äste in der Richtung des Gefälles zu ausläuferartigem Wuchs veranlasse Bei « Gelegenheit » umwachsen oder überwachsen die Kriechtriebe auch kleinere Hindernisse, wie Steine oder kleine Felsabsätze. An günstigen Stellen bewurzeln sie sich und werden so vielleicht zum Ausgangspunkt eines neuen Polsters ( Photo 6 ).

Wohl bleibt die Hauptwurzel in der Regel zeitlebens erhalten. Stirbt dieselbe aber aus irgendwelchen Gründen vorzeitig ab, so sind die Adventivwurzeln imstande, Ersatz zu leisten. Polster oder Polsterteile, die durch Lawinen, Steinschlag oder Tiere vom Hauptwurzelsystem abgetrennt wurden und dann an einem neuen Wuchsort weitergedeihen, sind Beweise dafür. Ob in allen ähnlichen Situationen jeweils einzelne losgelöste Sprosse zu neuen Individuen werden oder bald absterben, hängt von der Leistungsfähigkeit und oft auch von der weiteren Entwicklungsfähigkeit der sprossbürtigen Wurzeln ab!

Wenn alle Polstertriebe derart kompakt zusammengedrängt sind wie z.B. beim Schweizer Mannsschild ( Androsace helvetica All. ) ( Photo 8 ), so nützen auch die spärlichen und schwachen Adventivwürzelchen nicht mehr viel, wenn die das Polster verankernde Hauptwurzel abstirbt, denn die Polstertriebe haben in diesem Fall selbst am Rande nicht mehr die Fähigkeit, in Kriechtriebe auszuwachsen. Bei gewissen Arten unterbleibt die Adventivwurzelbildung vollständig; dann ist auch die Lebensdauer eines jeden Sprossteiles stets durch den Tod der Hauptwurzel begrenzt, z.B. Himmelsherold ( Eritrichium nanum Schrad. ).

Der Rauhe Steinbrech {Saxifrage aspera L. ssp. bryoides Gaud .) in seiner kompakten, polsterbildenden, moosähnlichen Unterart ( Photos 9 und 10 ) gehört zu den höchststeigenden Schutt- und Gratpflanzen.

Die Blätter sind in kugelförmigen Rosettchen angeordnet, welche als Kolumellen bezeichnet werden. Diese Kolumellen stehen oft zu vielen Hunderten dicht gedrängt und bilden in ihrer Gesamtheit ähnliche Polster wie der Gegenblättrige Steinbrech. Die Kolumellen können als Kurztriebe aufgefasst werden, die in aufrechtem Wuchs den horizontal wachsenden Kriechspross-abschnitten entspringen. Die Ursache einer oft deutlichen Auflockerung randlicher Polsterpartien liegt darin, dass gewisse Randsprosse zu verlängerten Kriechtrieben auswachsen ( Photo 10 ). Dieses Verhalten kann besonders in Felsrinnen und Felsspalten beobachtet werden, wo Kriechsprosse Gesamtlängen von'h m erreichen. Zwar sind die Adventivwurzeln selbst in altern Polsterkissen auffallend spärlich und eher schwach entwickelt, solange die Versorgung mit Nährstoffen vom Hauptwurzelsystem aus erfolgt. Es macht den Anschein, als würde die Bildung von Adventivwurzeln durch die lebende Hauptwurzel gehemmt. Denn an Standorten wie Schutthalden, auf periodisch überflutetem Moränenschutt oder in Felsrinnen beobachtet man immer wieder aus einem Sprossverband losgelöste Polsterteile, die als festgewurzelte, selbständige Pflänzchen weiterleben. Sogar unbewurzelte Triebe vermögen auf günstiger Bodenunterlage sprossbürtige Wurzeln zu erzeugen und können so zum Ausgangspunkt eines neuen Polsters werden. Durch Kulturversuche ist sogar der Nachweis erbracht, dass eine einzelne, unbewurzelte Kolumelle nach relativ kurzer Zeit nicht nur Wurzeln auszubilden vermag, sondern mit der Entwicklung von « Tochter»-Kolu-mellen dieselben Potenzen besitzt wie eine Keimpflanze.

Wie steht es nun mit den vegetativen Fortpflanzungsmöglichkeiten, die sich aus der Wuchsform alpiner Zwergsträucher ergeben? Ein interessanter Vertreter der hochalpinen Holzgewächse ist die Kraut- Weide ( Salix herbacea L. ), die am Rande der sogenannten Schneetälchen, auf durchrieseltem Felsschutt und Moränenboden in der Vegetationsbildung oft eine dominierende Stellung einnimmt. Linné hat die Pflanze als « den kleinsten Baum der Erde » bezeichnet. Nach der heutigen Begriffsanwendung in der botanischen Morphologie handelt es sich bei dieser Holzpflanze allerdings nicht um ein Bäumlein, sondern um einen grösstenteils in der Erde « vergrabenen » Zwerg-strauch; denn an Stelle eines Hauptstammes entspringen an der Basis des schwach bleibenden Primärsprosses mehrere gleichwertige verholzte Triebe, deren jüngste Enden die sommergrünen Blätter tragen ( Abb. 5 ). Von den typischen Spalierweiden: der Stumpf blättrigen Weide ( Salix retusa L. ) und der Netz- Weide ( Salix reticulata L. ) unterscheidet sich unsere Art durch die Ausbil- Abb. 5.

Salix herbacea ( Kraut-Weide ) ca. 8jährige Pflanze As ausläuferartige Kriechsprosse Ao aus unterirdischen Kriechsprossen entstandene oberirdische Äste Ek Erneuerungsknospen Hw Hauptwurzel O oberirdische Triebe Ps Primärspross Sw sprossbürtige Wurzeln düng langer, unterirdischer Kriechsprosse ( As in Abb. 5 ). Im Gegensatz zu den verholzten, an die Oberfläche wachsenden Trieben behalten die ausläuferartigen Kriechsprosse ihre krautige Konsistenz längere Zeit bei, bewurzeln sich aber wie die letzteren ( sw in Abb. 5 ).

Sowohl die durch Internodienstauchung ausgezeichneten oberirdischen Triebe ( O in Abb. 5 ) wie auch die durch Internodienverlängerung entstandenen ausläuferartigen Sprosse ( As in Abb. 5 ) sind mit Erneuerungsknospen«schlafende Augen », Ek in Abb.5 ) reichlich besetzt. Selbst nach Jahren vermögen die Knospen noch auszutreiben. Wenn die Spitze eines unterirdischen Kriech-triebes, dessen Länge mehr als 25 cm betragen kann, die Bodenoberfläche erreicht, verhält sich derselbe in der weiteren Verzweigung wie ein oberirdischer Spross ( Ao in Abb. 5 ).

Unter optimalen Entwicklungsbedingungen durchwirken sich die unterirdischen Sprossachsen unzähliger Individuen zu einem dichten Geflecht. Infolgedessen erscheinen auch die oberirdischen Assimilationstriebe in ausgedehnten Teppichen vereinigt; sie bilden den sogenannten Krautweide-rasen.

Oft stirbt nach einer Reihe von Jahren der Primärspross samt Hauptwurzel ab. Die vegetative Weiterentwicklung ist jedoch durch die mit zunehmendem Alter stärker werdenden Adventivwurzeln gewährleistet und spielt auch für die Vermehrung der Sprossachsen an einmal besiedelten Standorten die Hauptrolle. Diese Tatsache ist von nicht geringer Bedeutung, wenn wir die lange Schneebedeckung von 8 bis 10 Monaten im Durchschnitt berücksichtigen.

Zu den in den Alpen am höchsten vorkommenden Blütenpflanzen gehört der bekannte Gletscher-Hahnenfuss ( Ranunculus glacialis L. ). Er ist sogar als die höchststeigende Blütenpflanze Europas beschrieben worden ( Finsteraarhorn 4275 m ). Als ausgesprochener Vertreter des arktischen und glazialen Klimas ist der Gletscher-Hahnenfuss auch an den höchstgelegenen Standorten der geschlechtlichen Fortpflanzung nicht verlustig gegangen. Fremdbestäubung durch Fliegen und Falter wie auch Selbstbestäubung ist möglich. Die Ausbreitung der flachgedrückten Früchte erfolgt durch den Wind.

Dem kurzen vertikalen Rhizom einer mehrjährigen Pflanze entspringen zahlreiche sprossbürtige Faserwurzeln ( Photo 11 ). Das gegenüberliegende obere Sprossende ist samt den Erneuerungs- Abb. 6. Sieversia reptans ( Kriechende Bergnelkenwurz ) Jungpflanzen:

knospen von einem Mantel jüngerer und älterer Blattscheiden umhüllt, ähnlich, wie dies von den horstbildenden Gräsern allgemein bekannt ist. Infolge der vertikalen Wuchsrichtung und der geringen Wachstumslänge ist kurzfristig nicht mit einer bedeutsamen vegetativen Vermehrung zu rechnen, noch weniger aber mit vegetativer Ausbreitung, wohl aber mit der Fortpflanzung an sich.

Selten ist bei Ranunculus glacialis - offenbar nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen - eine sogenannte Ablegerbildung beobachtet worden. Ein Ableger entsteht dann, wenn sich ein gewöhnlicher oberirdischer Spross ( Os in Abb. 1 ) aus der aufrechten Lage zur Erde niederlegt oder wenn er z.B. während anhaltender Schneebedeckung dauernd an den Boden niedergedrückt wird, vorausgesetzt, dass an der Kontaktstelle mit der Erde sprossbürtige Wurzeln ausgebildet werden. Solche entspringen beim Gletscher-Hahnenfuss dicht unter dem untersten Stengelblatt des Ablegers ( Photo 11 ). Die betreffende Stengelregion verhält sich nun als neues Vegetationszentrum und wird zu einem neuen Individuum, denn der die Verbindung herstellende oberirdische Sprossteil zerfällt nach ein bis zwei Jahren. Nach den eigenen Beobachtungen sind Formen mit Ablegerbildung auf stark durchnässte Böden beschränkt, die lange von Schnee bedeckt bleiben, also gerade dort, wo die Fortpflanzung und Vermehrung durch Früchte einen geringen Erfolg verspricht!

Der Vollständigkeit halber möchten wir abschliessend noch eine echte Ausläuferpflanze vorstellen. Nur wenige alpine Pflanzenarten erzeugen in diesem Sinne Ausläufer. Wir verstehen darunter fädige, unverzweigte, horizontal wachsende Sprosse, die durch relativ starke Internodien-streckung entstanden sind und den grundständigen Achsenpartien entspringen. Das Ausläufer- organ selbst entbehrt sprossbürtiger Wurzeln. Solche gelangen in der Regel erst an der am Aus-läuferende neu angelegten Tochterpflanze oder in deren unmittelbarer Nähe zur Ausbildung.

Für die Kriechende Bergnelkenwurz ( Sieversia reptans R. Br. ) ( Abb. 7 ), die mit Vorliebe Geröll, Felsschutt und Moränenböden im Vorfeld der Gletscher besiedelt, ist die Vermehrung durch Ausläufer mindestens so erfolgreich wie die Fortpflanzung durch Früchte. Ältere Pflanzen erzeugen meist mehrere Ausläufer, die nicht selten eine Länge von 50 cm erreichen. Jeder derselben vermag noch in der gleichen Vegetationsperiode sein Wachstum mit der Entwicklung und Abgliederung einer Tochterpflanze abzuschliessen ( Abb. 7 ). Die Frage, ob eine Jungpflanze aus Samen oder durch Ausläufer entstanden sei, ist jeweilen leicht zu beantworten. Aus Keimlingen weiterentwickelte Abb. 7.

Sieversia reptans ( Kriechende Bergnelkenwurz ) Pflanze mit Ausläufer und Tochterpflanze: A Ausläufer T Tochterpflanze mit ersten sprossbürtigen Wurzeln E vertikaler Erdstamm Jungpflanzen sind fast durchwegs mit einer einfachen, oft pfahlwurzelähnlichen Primärwurzel versehen, während die an Ausläuferenden abgelegten Individuen an Stelle der Hauptwurzel ein Büschel ungefähr gleichstarke sprossbürtige Wurzeln erkennen lassen ( Abb. 6 ).

Das Leben der Ausläufer ist von kurzer Dauer. Schon im folgenden Jahr stellen sie ihre physiologische Aufgabe ein und verwittern bald.

Im Gegensatz zu den Ablegersprossen des Gletscher-Hahnenfusses ist die Ausbildung echter Ausläufer erblich festgelegt. Nicht einmal die Ausläuferlänge scheint direkt vom Milieu beeinflusst zu werden; sie ist vielmehr vom allgemeinen Zustand und den Raumverhältnissen der Mutterpflanze abhängig.

Trotz der hohen Wirksamkeit in bezug auf die vegetative Fortpflanzung sind von 205 untersuchten Arten ausser der Kriechenden Bergnelkenwurz nur sechs durch den Besitz längerer oder kürzerer echter Ausläufer ausgezeichnet:

Fünfblatt-Frauenmante^Alchemillapentaphyllea L. ), Niedriger Mannsschild {Androsace chamae-jasme Wulf. ), Trauben-Steinbrech ( Saxifraga aizoon Jacq. ), Berg-Hauswurz ( Sempervivum montanum L. ), Gemeines Habichtskraut ( Hieracium pilosella L. ) und das Aurikel-Habichtskraut ( Hieracium auricula L. ).

Ein Überblick auf die Hochgebirgsflora unter Berücksichtigung der vegetativen Fortpflanzungsmöglichkeiten zeigt uns, dass nur eine starke Minderheit von Pflanzenarten durch ausgeprägte, spezialisierte Vermehrungseinrichtungen im vegetativen Bereich ausgezeichnet ist ( Brutknospen, echte Ausläufer ). Um so bedeutender sind alle jene Typen, deren Bauplan keine besondern, speziell der Fortpflanzung dienenden Gebilde erkennen lässt, die sich aber vegetativ erhalten und vermehren allein durch fortgesetztes Wachstum und Verzweigung im Zusammenhang mit der Erzeugung sprossbürtiger Wurzeln. Es handelt sich vor allem um die vielen Pflanzen mit irgendeiner Form ausläuferartiger Kriechsprosse und Erdstämme ohne Hauptwurzel. Aber auch zahlreiche Arten mit Hauptwurzelsystem und verhältnismässig ausgedehnten und stark bewurzelten Kriechtrieben stehen den letzteren in der Leistung oft keineswegs nach. Die Frage nach den Bewurze-lungsverhältnissen, besonders was die Neubildung sprossbürtiger Wurzeln anbelangt, ist dabei stets von ausschlaggebender Bedeutung. Von 228 untersuchten Hochgebirgspflanzen wiesen 198 Arten eine mehr oder weniger ausgeprägte sprossbürtige Wurzelbildung nach. Demnach hat ein Anteil von etwa 85% prinzipiell die Fähigkeit der vegetativen Fortpflanzung, in manchen Fällen aber sicher nur unter der Wirkung bestimmter Aussenfaktoren.

Wenn sich der Alpenwanderer nicht allein von der Vielfalt der Blütenpracht in unsern Alpen beeindrucken lässt, sondern vielleicht einmal die Mühe nicht scheut, die ihm bekannten Blütenpflanzen auch in ihrer Wuchsform zu erfassen, wird er um wesentliche Kenntnisse bereichert. Nicht nur die Einzelpflanzen lernt er besser kennen; er wird auch von ihren Beziehungen zur unbelebten und belebten Umwelt, d.h. von der Stellung der Arten und Individuen in einer bestimmten Pflanzengesellschaft, mehr erfahren; denn letzten Endes sind die « Kräfte » und Möglichkeiten in der Sprossgestaltung eines Individuums nicht nur von individueller Bedeutung; sie sind als struktur-bildende Faktoren für die Pflanzengesellschaften und damit für die Vegetationsbildung überhaupt von grösstem Interesse.

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