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Vom Arvenwalde

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Von A. L. Schnidrig.

Nachdem die sibirische Kiefer in der Schweiz schon vielerorts vom Dasein abgetreten oder doch stark im Rückzuge begriffen ist, klingt heute die Rede vom Arvenwald fast wie ein Märchen aus uralten Zeiten. In einzelnen Gebirgskantonen, z.B. Graubünden und Wallis, gibt es immerhin noch Gegenden, wo sie ziemlich häufig anzutreffen ist. Besonders zahlreich konnte sie sich bisher auf dem Gebiete der Walliser Mischabelhörner oberhalb Grächen behaupten, ferner in der Umgebung von Zermatt, im Turtmanntal und im Aletschwald, vereinzelt auch im Saastal, in den Alpen ob Visperterminen und Törbel, im Rothwald des Simpelberges sowie im Eifischbezirk ( daher der Name Arolla, von l' arole = die Arve ).

Deshalb wird es trotz ihres allgemeinen Rückganges wohl nur wenige Bergreisende geben, welche auf ihrer Wanderung durch das romantische Vispertal nicht auch mit dieser lebenszähen Gebirgskiefer bekannt geworden wären. Nirgends sonst wird das Bild ihres Existenzkampfes packender eingeprägt als in den Lawinenzügen des Mischabelgebirges. Wer hier schon einmal die unermesslichen Steintäler des Balfrinreviers durchmessen hat, wird von ihrer geradezu heroischen Lebensaufgabe eine wirksame Vorstellung bekommen haben. Es mutet einen fast an wie ein Heldenepos aus verklungener Zeit, wenn man dort auf dem Schlachtfelde der Naturgewalten die mächtigen Knorren der Zirbelkiefernstamme kreuz und quer übereinander liegen und modern sieht. Hier und dort steht noch solch ein Recke treu auf seinem Posten, mit zerschmettertem Schaft, und streckt aus dem Felsengeröll wie eine Streitaxt kampfeslustig den Arm hervor oder kauert mit zerzauster Krone in die abendliche Dämmerung hinein wie ein Greis, den der Sturm des Lebens auf die Krücken darniedergebeugt hat.

Der Arvenwald ist die Zierde des Gebirges, dessen kahlen Schädel er mit weihrauchduftenden Locken schmückt. Aus der Ferne gesehen, ist er gekennzeichnet durch einen tief dunkelblauen Farbton, den noch selten ein Maler richtig getroffen hat. Die Eigenart dieser Wirkung wird noch verstärkt durch die schirmartige Anordnung der Astquirlen bei älteren Bäumen, welche damit den Eindruck von Pinien erwecken. Wer aber schon als Wanderer im Schosse des Arvenwaldes sich ausgeruht hat, der wird die Worte wählen müssen, um den lungenstärkenden Harzduft, die weihevolle Alpenruhe und all den Zauber zu schildern, womit er umfangen und eingesungen wurde.

Wenn die Beeren reifen und die Zirbelnüsschen zu bräunen beginnen, wird der Arvenwald zum Weideplatz für allerlei naschhaftes Volk. Geschäftig sieht man die flinken Hörnchen durch die Wipfel schnurren, und misstrauische Häher handwerken an den Zapfen herum, als wäre der ganze Wald für sie allein geschaffen. Bald gesellen sich auch die Kinder des Bergdorfes zu ihnen, ziehen scharenweise mit schmucken Körbchen durch die lichten Säulenhallen, um von den süssen Wildfruchten zu naschen und etwas von der Poesie des Arvenwaldes mit nach Hause zu nehmen.

Die Arve unserer Heimat wird im Volksmunde auch Zirbelkiefer oder einfachhin Zapfenbaum genannt. Sie gehört der Gattung der fünfnadligen Nadelhölzer an. Die fingerlangen Nadeln sind zu wedelartigen Büscheln oder Tollen vereinigt, an deren Enden sich im Frühjahr rötliche Zäpfchen bilden. Mit fortschreitender Reife wachsen die Zäpfchenschuppen zu einem harzigen Panzer aus mit aufgestülpten Läppchen, worunter in der Regel zu zweien die ölhaltigen Zirbelnüsschen stecken. Nadeln, Zapfen und Holzteile sind von zahlreichen Harzkanälen durchzogen, deren reichliche Absonderung den Bäumen zu schnellerem Überwallen der Wunden bei Rindenquetschungen und zum Schutze vor Tierfrass dient. Die Beschickung der Samenanlagen mit PoUenkörnern besorgt der Wind. Die Arve ist ihren Befrachtungsverhält-nissen nach eine windblütige Pflanze, jedoch wird die Menge des Frucht-ansatzes wesentlich durch den Frost beeinträchtigt. Die Reife verzögert sich bis in den Spätherbst hinein, so dass noch im Hochwinter reife Zapfen durch Skifahrer von den niedrigsten Baumspitzen abgepflückt werden können. Beobachtungen haben ergeben, dass die Arvenbäume nur jedes zweite oder dritte Jahr ausgiebigen Fruchtbestand tragen. Nicht allein der Frost, sondern auch eine periodische Überfruchtung mag der Grund sein zum jahrweise Aussetzen oder zeitweisen Erlahmen im Fruchttragen.

Die Fortpflanzung der Arve geschieht vermittels des Samens durch die Zirbelnüsse, deren in einem Zapfen oft bis zu 200 Stück gezählt werden. Ihre örtliche Verbreitung aber auf Felsbändern und an unzugänglichen Orten verdankt sie nicht so sehr dem Zerfall der Zapfen an Ort und Stelle, als vielmehr der Verschleppung durch Tiere, denen die Nüsschen zur Nahrung dienen. Vor allem ist es der langschnäblige Arvenhäher, andernorts auch Tannen- oder Nusshäher genannt, der sich schon frühzeitig an die Zapfen heranmacht. Mit Vorliebe legt er sich irgendwo im Versteck Vorräte an, welche dann vergessen werden und auf diese Weise der Fortpflanzung dienen. Andere Liebhaber der Arvenfrucht sind Eichhörnchen, Ratten und Mäuse. Für die Samenverbreitung spielt unter diesen nur das erstgenannte eine nennenswerte Rolle, indem es Nüsschen herumliegen lässt, welche dann ins Erdreich gelangen und keimen. Aber nicht nur Tieren dienen die Arvennüsschen als Nahrung, sondern sie werden auch von den Menschen geschätzt als zeitvergeudendes Naschwerk. Eben aus diesem Grunde gerinnen von jenen Nüsschen, welche von den Tieren unbewusst ausgestreut worden sind, wieder nicht alle; denn teils gebricht es ihnen am günstigen Nährboden, teils geraten sie unter den Rechen der Waldarbeiter, welche Streue sammeln, und diese stecken die ölhaltigen Dinger ein als mühelose Entschädigung für das aufreibende Tagewerk.

Da die Arve meist die obere Grenze des Hochwaldes bildet, erlangt sie für die Alpbetriebe geradezu volkswirtschaftliche Bedeutung. Der Nutzen der Arve und des Arvenwaldes für die alpwirtschaftliche Bevölkerung ist überaus gross und vielseitig, sowohl forstlich wie auch privatwirtschaftlich.

Vor allem bildet der Arvenwald eine natürliche Schutzwehr gegen Steinschläge und Lawinen, welche mit verheerender Wirkung zu Tale donnern und die Kulturen bedrohen. Die Arve ist die eigentliche Vertreterin des Hochwaldes, und verwegen klettern ihre krüppelhaften Ausläufer bis über 2500 Meter hoch auf den Felsklippen herum. Als unerschütterliche Lawinenbrecher kommen sie vor allen anderen Nadelbäumen zur Anforstung in Betracht. Die Arve ist gebirgsliebend, überaus lebenszähe und ausdauernd. Als Standort bevorzugt sie das Urgestein mit Alpenrosen und verschiedenartigen Beerensträuchern zur Gesellschaft, während die Lärche mit Vorliebe moränige Böden besetzt und die Tanne auf tiefgründigen Humusplätzen zurückbleibt. Die fussdicken Schlangenwurzeln sind weniger tiefgründig als weitgreifend und klammern sich mit Korallengriff an den Felsquadern fest.

Ebenso wie die sogenannte Legföhre ( Bergkiefer ) besitzt die Arve die Fähigkeit, sich wieder aufzurichten, nachdem Lawinenstürme über sie hinweggefegt sind.

Ferner ist der Arvenwald wichtig als Wasserversorger, wie dies vom Walde überhaupt gilt. Mit ihrer Astspreite vermag die Zirbelkiefer eine beträchtliche Feuchtigkeitsmenge aufzufangen, welche durch das schräg nach oben gerichtete Astwerk dem netzartig verzweigten Wurzelsystem zugeleitet wird und auf diese Weise auch der umgebenden Vegetation zugute kommt. Ihre vorzügliche Wurzelkraft und die Befähigung, viel Feuchtigkeit zu binden, ermöglichen es ihr, selbst auf steinigem Untergrund und auf Bergrücken, die beständiger Austrocknung durch den Wind ausgesetzt sind, im Kampfe ums Dasein siegreich zu bestehen, wo andere Bäume nicht mehr zu leben vermögen. Ihr Wasserhaushalt ist daher sowohl für sich selbst als auch für die umliegenden Alpweiden durchaus zweckmässig eingerichtet. Forstlich ist der Arvenwald noch erwähnenswert als Wildschutz gegen Unwetter oder gegen Feinde. Es dauert geraume Zeit, bis die ersten Regentropfen durch das dichte Geäst hinabdringen. Die Arve breitet ihren Wipfel wie einen Wetterhut über ihre Schützlinge, was besonders in strengen Wintern wichtig ist, wenn die meisten Bäume des Hochwaldes entlaubt sind und kahl dastehen. Schon manchem Birkhahn, der wie ein einheimischer Paradies-vogel als Zierde unserer Alpenfauna gilt, ist das Versteck im buschigen Arvenwipfel zum rettenden Heile geworden, und mancher Einsiedlerbock, der sich kerzengerade in die Arvenstrünke hineingepflanzt hat, ist vom geübten Jägerauge glattweg übersehen worden.

Noch greifbarer macht sich der direkte Nutzen des Arvenwaldes im Privat-haushalt des Bergbauers zu fühlen. Die Arve mit ihrem Harzgehalt liefert nicht nur ein ausgezeichnetes Brennholz, sondern auch einen sehr brauchbaren Stoff für die Möbelschreinerei. In vielen Alpstuben findet man Zimmergeräte aus Arvenholz geschreinert oder geschnitzt. Arvenholz ist leicht, weich, zähe und biegsam, und die milde Farbe und Eigenschaft leichten Aufquellens machen es besonders zum Beizen geeignet und für Küferarbeiten. Im Arvenwald besitzen wir ferner einen ausgiebigen Streuelieferanten. Da Stroh und Riedgras in Bergbetrieben bei den knappen Futterverhältnissen nur in beschränktem Masse als Streue zur Verwendung gelangen und zugekaufte Streuemittel des Strassenmangels oder der hohen Transportkosten wegen ausser Betracht fallen, steht der Gebrauch von Waldstreue durchaus im Vordergrund. Wegen der langen Nadeln ist Arvenstreue leicht sammelbar und wird deshalb von den Bergbauern im allgemeinen bevorzugt. Zudem erleichtert der mehr felsige, meist regentrockene Standort der Zirbelbäume das Sammeln, während der Wert der Lärchennadelstreue durch erdige Beimischung herabgesetzt wird.

Die angeführten Nützlichkeitsgründe volkswirtschaftlicher Natur sollten den Menschen bestimmen, durch geeignete Schutzmassnahmen sich den Arvenbestand zu sichern. Leider aber müssen wir wahrnehmen, dass die Arve immer mehr dem Verschwinden aus unseren Alpentälern entgegengeht. Wenn wir auf die Frage nach den Ursachen sachlich antworten wollen, muss die Hauptschuld rücksichtslos dem Menschen beigemessen werden. Die Zirbelkiefer hat nicht nur hinsichtlich ihres exponierten Standortes mit den Naturgewalten einen zähen Existenzkampf zu bestehen, sondern gerade durch den Menschen selbst wird das Risiko ihrer Lebensbedingungen bedeutend erhöht, wo er allen Grund hätte, ihre Existenz zu festigen. Abgesehen davon, dass er vielerorts durch einen rücksichtslosen Holzverbrauch den Arvenbestand stark vermindert und durch das Abheben der Streue-schicht die jungen Bäumchen günstiger Entwicklungsbedingungen und bedeutender Nährstoffumsätze beraubt, vereitelt er überdies sehr oft die Keimung der durch Häher angelegten Nusshäufchen, indem er sie beim Streuesammeln wegkratzt und verzehrt. Neben gelegentlicher Anforstung der Arve fällt ihm an deren Verbreitung mehr ein indirektes Verdienst zu, insofern er nämlich Forstgesetze erlässt und durch Vernichtung von Forstschäd-lingen der ungehinderten Vertilgung der Zirbelnüsse steuert. Um das Arven-schicksal bekümmert er sich im Grunde genommen recht wenig und überlässt die Sorge dafür der gütigen Natur. Was hierin mit dringender Notwendigkeit geschehen sollte, sind durchgreifende Vorschriften für die Durchführung eines geordneten Streuesammelbetriebes, weil gerade in diesem Punkte die Arve in ihrem Gedeihen und Bestand am empfindlichsten getroffen wird. Wo der rücksichtslose Streuesammelbetrieb eingesetzt hat, lichten sich ihre Reihen ganz bedenklich. Durch eine Verfügung, wonach die Leute nur strichweise und nicht zu willkürlichen Zeiten Streue sammeln dürften, wäre auch dem Unfug gesteuert, dass die angelegten Nusshäufchen weggekratzt und verzehrt würden. Inzwischen könnten die Samen Wurzel fassen, und viele wären in ihrer Existenz gefestigt. Es bleibt aber wohl zu beherzigen, dass auch die allerstrengsten Forsterlasse den gewünschten Erfolg nicht erzielen werden, solange den Bergbauern die Möglichkeit vorenthalten bleibt, durch fahrbare Strassen und geeignete Verkehrsmittel ihren Streuebedarf anderswoher decken zu können.

Werden aber keine geeigneten Schutzmassnahmen getroffen, so müssen wir gewärtigen, dass die Zirbelkiefer unaufhaltsam dem Verschwinden entgegeneilt und vielleicht ganz aus unseren Alpentälern ausgerottet wird. Ungestillt bliebe dann des Wanderers stille Sehnsucht nach dem Wipfelrauschen des weihrauchduftenden Arvenwaldes, und zu spät käme des Naturfreundes reuige Beteuerung: es ist schade um den herrlichen Arvenwald, die Zierde unseres Gebirges!

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