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Vom und zum Refuge Arpitteta übers Weisshorn

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

Mit 5 Bildern ( 72—76Von Hans Furer

( Rüeggisberg BE ) Im Refuge Ar Pitetta wurde die grosse Doppelfahrt angetreten, im Refuge Ar Pitetta klang sie aus - die Doppelfuge mit dem Thema « Weisshorn ».

Nun aber schreite ich in hochsommerlicher Wärme von Randa ein kurzes Wegstück talauswärts und lasse meine Augen sich am saftigen Grün des jungen Emdgrases weiden. Es ist heute der 11. August, einer der ersten, im Sommer 1953 so raren, glanzvollen Tage. Frohen Herzens gedenke ich der schönen Erlebnisse eben vergangener Fahrten, und frohgemut erhält mich vor allem der Gedanke, dass ich bei dieser prächtigen und nun sichern Wetterlage noch einmal hinauf kann. Über die mächtig angeschwollene Mattervisp führt die Brücke hinüber zu den Stadeln der heimeligen Wässermatten, hinter denen unmittelbar der Weg zur Weisshornhütte steil ansetzt. Menschliche Laute wecken mich aus dem frohen Sinnen, und um die Ecke eines Stadels tauchen zwei Gestalten auf, die mir bekannt erscheinen und die ich bald erkennen kann als Führer Adolf Schnydrig aus Seiden mit seiner kräftigen Touristin. Vor einigen Tagen haben sich unsere Wege am Arbengrat gekreuzt, und gestern sind die beiden, wie wir aus dem Hüttenbuch bereits haben ersehen können, von der Weisshornhütte her ansteigend vor uns über den Schaligrat emporgeklettert. So ist es denn nicht verwunderlich, dass wir nach kameradschaftlichem Gruss sofort dieses Thema anstimmen: « Wir haben euch gehört, Herr Schnydrig, ihr wäret uns gestern etwa zwei bis drei Stunden voraus. » « Ja, glaub 's wohl, dass ihr mich etwa fluchen hörtet, ein schwerer Grat, dieser Schali! » « Woher heute? » « Von der Tracuithütte übers Bishorn. » « Wohin morgen? » « Zur Schönbielhütte für den Zmutt. » Gegenseitig gute Fahrt wünschend, trennen wir uns. Ja, der Zmuttgrat, er stund eigentlich auch auf unserm Programm. Doch heute morgen sind in der herrlichen Sonne auf dem warmen Holztrepplein der Weisshornhütte, an dessen Eisengeländer unsere gewaschenen Socken hurtig trockneten, die endgültigen Pläne über die uns noch zur Verfügung stehenden zwei Tage zur Reife gekommen: Zurück übers Weisshorn! heisst die reife Frucht.

In der beruhigenden Kühle der Abendschatten steigt sich 's leicht zur Weisshornhütte. Droben warten meine beiden Freunde auf den Abendproviant. Ob wohl Andreas sein Steigeisen gefunden hat, das uns beim gestrigen Abstieg in der Dämmerung verloren gegangen ist in einer der tiefen Schneekehlen, die zwischen Punkt 3919 und 3779 \ unmittelbar unter den Felsen ansetzend, sich zum östlichsten Teil des Schaligletschers hinunterziehen? Und Frithjof wollte ja auf diesem Gang die Leistungsfähigkeit seines rechten Beines prüfen, dessen Unterschenkel vom nachrollenden Block hätte zermalmt werden können, den wir zwei andern nur mit dem Einsatz unserer ganzen Kraft gerade soviel hatten heben können, dass Frithjof sein Bein wieder zu sich nehmen konnte. Nun warten sie mit mir auf den kommenden Tag, doch vorab auf mich selber. Ich werde zwar ihre auf meinen Botengang nach Randa hinunter gesetzten Erwartungen nicht ganz erfüllen, denn « Schweinsplätzli » waren in Randa keine aufzutreiben, und so werden meine Freunde mit einem Dauerwürstchen zu den Büchsenerbsen sich begnügen müssen.

1 Die Orthograhie der Namen und die Höhenquoten sind der neuen Landeskarte entnommen.

Die Alpen - 1954 - Les Alpes13 Trotz eines gut beschwingten Tempos haben mich unterdessen die steigenden Schatten am Fusse der gewaltigen Mischabel überholt an Höhe. Lebhaft kann ich mich mitfühlend in die Gedanken der Bergkameraden versetzen, die zur selben Stunde über die noch voll in der Spätnachmittagssonne liegenden obersten Hänge, an den in der Tageshitze in Bratöfen verwandelten Felsen vorbei zur Dom- und Kinhütte emporsteigen. Und ich freue mich doppelt am herrlichen Lärchenduft über meinem abendkühlen Pfad. Aber es sind nicht einfach namen- und formlose Schatten, die ich dort drüben steigen sehe, es sind die mächtigen Kämme von Weiss- und Schalihorn, die sich scharf abzeichnen an der mit ihnen an Grösse rivalisierenden Mischabelwand. Deutlich erkenne ich an den scharfen Konturen den Südwestgrat wieder, den Schaligrat. Und « wer zählt die Häupter, nennt die Namen » all seiner Gendarmen, die an diesem grossen Weg zum Gipfel Parade stehenUnd schon stehen wir drei in Gedanken wieder auf dem imposanten Gratturm, der das mittlere Gratsegment einleitet. Wir schauen über tausend Meter die gewaltige Westflanke hinunter zum sonnenbeschienenen Refuge Ar Pitetta, dem auf dem noch mattgrünen Graspolster über Punkt 2741,7 zwischen den Moränen des Weisshorngletschers eingebetteten jüngsten Kleinod unter den Refugien der Alpen. Dort hat ja die Fahrt begonnen - nein, eigentlich schon einige Tage früher, als wir vor dem Aufstieg zur Mountethütte uns nach dem neuen Refuge erkundigen wollten, von dessen Bau uns etwas zu Ohren gekommen war, und dabei auf der Hauptgasse Zinals ganz unvermutet auf Germain Melly, den flotten Bergführer aus Zinal und lieben Kameraden aus dem Militärdienst, gestossen waren. Begeistert sprach er von « ihrem » Hüttlein, das die sieben Führer von Zinal auf eigenes Risiko hin gebaut haben, und#an das er als Maurermeister selber tüchtig Hand angelegt hat. Es könne, obschon noch nicht richtig unter Dach, doch von einer Partie gut benützt werden. In dieser Stunde guter Kameradschaft hatte also die bisher in unsern Plänen nur skizzenhaft vorgezeichnete Fahrt feste Gestalt angenommen. Des Wetters und anderer Umstände wegen hatten wir zwar dann das Refuge am Samstag nicht über den Col du Blanc von Mountet aus direkt erreicht. Aber auf einem in jeder Beziehung schönen Sonntagsbummel nach Zinal hinunter hatte der Plan eine unauf-lösliche Verdichtung gefunden in der Cabane « Petit Mountet ». Der mit seinen gläsernen Äuglein zwinkernde Wirt hatte allerdings ungutes Wetter verheissen, doch sprach er mit Begeisterung vom Weisshorn als von « ma Montagne » und zeigte uns den Aufstieg zum Hüttlein und weiter zum Schalijoch, obschon er den letztern wohl kaum je begangen hat oder begehen wird - Irrtum vorbehalten.

In Zinal freuten wir uns an einem gutsonntäglichen Mittagessen, liessen es getrost regnen, suchten Germain nochmals auf und nahmen um 5 Uhr den Weg unter die Füsse; es ist vorerst der Weg zur Mountethütte. Kurz ob der Alphütte Le Vichiesso steht der Wegweiser zum Roc de la Vache. Diesem guten, blau markierten Saumpfad folgend, überschreitet man bald auf fester Brücke die donnernden Wasser der zusammenstürmenden Gletscherbäche und steigt zu den Hütten bei Punkt 2081 auf. An Germains Rat uns erinnernd, folgten wir dem Pfad weiter nach Norden bis zu einem « Biss », in dem wir richtigerweise den Abfluss des zu erwartenden kleinen Seeleins vermuteten, und um fast 180 Grad uns nach Süden wendend, erreichten wir dem Wässerlein entlang am stillen, grauen « Bergauge » vorbei bald die obere Hütte auf L' Ar Pitetta.

L' Ar Pitetta - hat dieser Name nicht ganz sonderbaren Klang? Er ist umsponnen von Einsamkeit und Geheimnis, selten genannt in der alpinen Literatur, doch dann stets im Zusammenhang mit der gewaltigen Westwand des Weisshorns. Die Alphütte lag verlassen, nur weit drüben gegen den Roc de la Vache regte sich Leben, wo das schwarzbraune Vieh knapp unter der Nebelgrenze weidete. Auf angenehm angelegtem Pfad querten wir die Süd- flanke unter der Pointe d' Ar Pitetta hinein in den gewaltigen Gletscherkessel, der in fast tadellosem Rund von prächtigen Felszinnen, die vom Besso zur Pointe d' Ar Pitetta aneinandergereiht sich erheben, umschlossen ist. « Regelmässig wie ein Wecker » - so hat Frithjof unsere Gangart taxiert - zogen wir am hochgelegenen Chalet Les Leisses vorbei dem vom taleinwärtswallenden Nebel versteckten Tagesziel zu, jeder wortlos seinen Gedanken nachgehend. Mir stieg, gefördert durch das augenblicklich geisterhaft diffuse Licht, das Gedanken-gemälde auf, das der feine Bergsteiger und Schriftsteller Geoffrey Winthrop Young mir vorgemalt hatte in einer seiner meisterhaften Schilderungen, wo er seinen Angriff auf das Weisshorn und das auf der Alp L' Ar Pitetta vorangehende Warten beschreibt. Ich sah im Geiste den langen Engländer mit seinen beiden Führern Louis und Benoît Theytaz, wie sie « zwei Nächte und zwei geisttötende Tage auf und in der Nähe der hochgelegenen Alp Ar Pitetta irgendwie totschlugen », und wie die « Tage vergingen, indem wir zusahen, wie nasse Nebelfetzen uns um die Beine zogen ». Auch das neue und letzte Wegstück vom Chalet an ist schön angelegt, und so erreichten wir, zuletzt wiederum fast geisterhaft lautlos über Graspolster uns nähernd, das kurz vorher aus dem Nebel und der hereinbrechenden Dunkelheit sich herausschälende, blanke Hüttlein.

Eine schwer angelehnte Steinplatte ersetzte das noch fehlende Türschloss und zeigte uns, dass wir wirklich noch die einzigen und wahrscheinlich von den ersten Gästen waren. Unter diesem besondern Eindruck traten wir dann ein, fanden neben Steinmeissein, Schlaghammer und Pflasterkelle auch bald Suppenkelle, das nötige Geschirr und gute Pfannen, kochten eine währschafte Suppe und legten uns bald, die feuchten Decken als Matratzen zu unterst ausgebreitet, die trockenen um und über uns gelegt, zur Ruhe, die Tagwache und das Wegsuchen - allerdings mit nicht ganz ruhigem Gewissen - dem kommenden Morgen überlassend. Und die leichte Unruhe war gut, denn im Bunde mit der harten Unterlage hat sie uns kurz vor 3 Uhr aufgeweckt, sonst stünden wir jetzt nicht auf dem imposanten Gratturm, und... gling, gling, glung... bimmelt es um mich und weckt mich aus meinem Tagträu-men - es sind die Herdenglocken um die Jatzalp herum. Die Firnfelder des « göttlichen Monte Rosa » leuchten noch einige Minuten in die aufziehende Abenddämmerung hinein, und ich nehme den zweiten und noch stilleren Teil des Hüttenweges unter die Fusse. Es wird in Gedanken noch langen für den Schaligrat.

Gestern morgen um 3 Uhr 45 haben wir also die Türe mit der angelehnten Steinplatte wieder geschlossen und standen draussen unter dem noch nächtlichen Himmel, der aber einen guten Tag verhiess. Drinnen auf dem Tisch unter dem gegen allfälligen Regen schützenden Wellblech hatten wir ein kleines Proviantdepot angelegt mit einer verabredeten Notiz an Germain, des Inhalts, dass, wenn wir bis « mercredi soir pas de retour », er bei nächster Gelegenheit, wenn er, hoffentlich recht bald, hinaufsteigen würde, um das gut gelungene Innere des Refuge durch das endgültige Dach vor der feuchten Fäulnis zu schützen, das Depot behändigen könne. Werden wir hierher zurückkehren - und aus welcher Richtung?

Doch Frithjof liess uns keine Zeit zu langen Betrachtungen. Wie ein Jagdhund in der taufrischen Morgenfrühe war er bereits auf der Suche nach der Fährte Ins Schalijoch. Zuerst östlich haltend, querten wir zur grossen Moräne hinüber, erstiegen sie und verfolgten ihren Rücken bis dort, wo sie flach aus dem Weisshorngletscher auftaucht. Von hier hielten wir ziemlich waagrecht und dann leicht nach links ansteigend gegen den Fuss des Felssporns hinüber, der genau westlich und senkrecht unter dem Weisshorngipfel, hinter dem wir bereits die aufgehende Sonne ahnen konnten, als ein mächtiger Keil den zwischen Younggrat und Schalijoch liegenden Gletscher in zwei Firnbecken teilt, und dessen erster markanter Punkt mit der Quote 3281 belegt ist. Von links her betraten wir auf leichtem Band den Felsen und kletterten zwischen den überhängenden Eiswülsten zur Rechten und der steilen Spornkante zur Linken die vom Eise glattgeschliffenen Felsstufen ohne nennenswerte Schwierigkeiten empor, was aber bei Wassereis sehr heikel sein wird.

Im « Walliserführer » ist der Aufstieg zum Schalijoch von Westen her sehr summarisch beschrieben, und eine andere Beschreibung des Aufstieges hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen, auch nicht im Zusammenhang mit einer Begehung des Schaligrates. Es musste sich also um eine bis jetzt sehr selten begangene Anstiegsroute handeln. So war das Gefühl, beinahe Neuland zu betreten, nicht ganz unangebracht, und wir empfanden Entdeckerfreuden.

Zwei Hauptgründe dieser in touristischer Hinsicht sicher ungerechtfertigten Vernachlässigung der Westflanke mögen darin zu suchen sein, dass Marcel Kurz noch im Januarheft 1947 der « Alpen » unter dem Titel « Le versant ouest du Weisshorn » eben schreiben konnte: Il n' existe aucune cabane du CAS sur ce versant de l' Ar Pitetta. Celui qui veut s' attaquer au Weisshorn de ce côté, doit coucher au chalet des Leisses ou bivouaquer plus haut dans les moraines du Glacier du Weisshorn », und dass seine weitere Feststellung « dans tout ce versant W ravagé par les avalanches » auch im « Führer » einen Niederschlag gefunden hat in den Worten: « Diese Flanke ist den Lawinen sehr ausgesetzt. » So waren wir denn neugierig gespannt auf den direkten Einblick in das Wandstück zum Joch, der sich uns alsobald nach dem Erreichen des flacheren Firnbeckens bieten musste. Die genaue Betrachtung und der gute Rat von « Petit Mountet » bewahrte uns jetzt davor, zu früh südlich abzubiegen; so entkamen wir ohne Zeitverlust den grossen Schrunden und standen bald am Fusse der durch ihre Düsterkeit und Spannweite eindrücklichen Wand. Auf gutem Firn, unterbrochen von Lawinenzügen, traversierten wir nun in südlicher Richtung auf ein auffallend rötlichgelbes, schräg nach dem Joch sich hinaufziehendes Gneissband und stiegen ohne besondere Mühe über den Bergschrund in die leichten, aber losen rötlichen Felsen ein. Damit stunden wir in der Wand selber und empfanden ihre Wucht und die drohende Gefahr ihrer lauernden Geschosse; mit leicht eingezogenem Nacken gaben wir diesem Gefühl Ausdruck. Bald sichteten wir auf den Schnee- und Eiseinlagen das Trasse des Führers Theytaz, der, nach den Notizen des Hüttenbuches zu schliessen, vor drei Tagen mit einem Touristen als erste Partie im Refuge übernachtet hatte und von da zum Schalijoch angestiegen war. Wir trassierten möglichst in der Fallirne den sich immer gäher aufrichtenden Firnhang dem Fuss der nördlich begrenzenden Felsen entlang. Rechts über uns lag wie gefrorener Schlagrahm auf Apfelkuchen eine mächtige Eisschicht dem steilen, haltearmen Felsen auf. « Den Lawinen ausgesetzt » - bei Neu- oder Naßschnee wollte ich da hinauf nicht. In der zwischen Fels und Eis schwach ausgeprägten Mulde klommen wir nun so steil in die Höhe, dass wir ganz gerne sooft als tunlich auch mit den Händen entweder im Firn oder am begrenzenden Felsen nachhalfen. Kurz vor 9 Uhr tauchten wir aus der noch immer im Vollschatten liegenden Wand auf in die warme Sonne, die über das in makelloser Reinheit glitzernde Joch hinaus schon seit Stunden über uns hinweg gestrahlt hatte. Am Fusse des ersten, sehr bizarren Gratturmes liessen wir uns in den warmen Steintrümmern nieder und staunten in die ungetrübte Morgenpracht hinaus, assen und dösten zuweilen auch verstohlen.

Aber hinter uns erhob sich ja als grosse Verheissung und begehrte Aufgabe des Tages die ungestüme, teilweise wild aufgetürmte Riesentreppe des Schaligrates hinauf zum hohen, sehr hohen, aber vom intensiv blauen Vormittagshimmel sich scharf kontrastierenden Ziel.Dort oben sind wir denn auch nach gut siebeneinhalb Stunden gestanden, und die Erfüllung der grossen Verheissung überragte die Grösse der hinter uns liegenden Schwierigkeiten der von uns begehrten und gelösten Aufgabe. Wir schauten zurück. Über allen Grat haben wir uns heraufbewegt, gestemmt, gewogen und gezogen. « Über allen Grat », eine gute Regel, die zu befolgen sich auch diesmal wie in den meisten Grataufstiegen bewährt hat, denn jedes Auskneifen tut einer Tour in technischer und ethischer Hinsicht Abbruch. Zweimal allerdings sind wir auch ausgekniffen: die ersten, sehr zerschmissenen rötlichen Ruinen des einstigen Vorbollwerkes zum Grat unmittelbar über dem Joch haben wir über den sonnigen Trümmerhang umgangen; und nach Erkletterung des grossen, wiederum rötlichen Turmes zu Beginn des letzten Gratdrittels hat uns ein grimmiger und stolz überragender Gendarm gebieterisch einige Seillängen zu seinen Füssen über plattigen Fels in die Flanke hinauskriechen lassen. Den hell in festem Granit leuchtenden Turm aber, der das Präludium zum zweiten Gratdrittel bot, haben wir direkt über seine kleingriffige, aber sehr saubere Ostkante erklettert, wobei der Ausstieg mit einem kleinen Überhang nichts an Luftigkeit zu wünschen übrig gelassen hat. Es war aber auch das klettertechnisch prächtigste Stück des ganzen Grates.

Nachdem wir nun den Grat selber erlebt hatten, begriffen wir auch, dass seine Beschreibung in einem Führer entweder sehr summarisch gehalten werden muss, oder aber dann eine minutiöse Schilderung zahlreicher Einzelstücke enthalten müsste, wobei man, sollte eine solche nicht verwirren, um eine Numerierung kaum herum käme; denn die Zahl der sowohl vom Joch wie vom Gipfel unübersehbaren Einerkolonne all der Gendarmen ist sehr gross! Solch zahlenmässiges Einreihen und Etikettieren bleibe aber noch möglichst lange den kleinern und grossem Klettergärten vorbehalten, dann können wir hoffen, dass ein Schaligrat durch jeden seiner in Gestalt eigenständigen Türme jedem Bergsteiger jedesmal neue individuelle Entdeckerfreuden bieten wird. Ja, das ist der eine, uns unauslöschbar eingegrabene Eindruck dieses Grates: die ununterbrochene, aber variantenreiche Abfolge von Aufschwüngen und Gendarmen, der aber nur zu gewinnen ist bei der guten Regel « über allen Grat ».

Dabei hat uns der Grat auch gerade noch Anteil geschenkt an einer zweiten, imponierenden Eigenart: die gleichzeitigen und darum so gravierenden Tief blicke nach Osten und Westen, die beidseitig von solchem Schwergewicht sind, dass sie den, der sich ihnen ganz hingibt, in der Sicherheit ungestörten Gleichgewichtes auf des Grates Schneide schreiten und steigen lassen.

Aber auch bei einer Rückschau darf neben diesen begeisternden Eigenarten, die auf dem weiten, spannungsreichen Feld seelischen Erlebens das unwiderstehliche Fascinosum darstellten, eine dritte nicht verschwiegen werden. Sie schaffte sich Ausdruck im Erleben des Tremendums, des Empfindens einer erschreckenden Überlegenheit des Berges unserer eindeutigen, menschlichen Unterlegenheit gegenüber. Hatten wir das doch gerade darin erlebt, dass der Grat mit seiner Strenge uns entgegengetreten war und stets wieder ganzen psychischen und physischen Einsatz von uns gefordert hatte; nie hat er uns eigentlich zu einer besinnlichen Rast eingeladen, und je höher er einen führte, desto trutziger hat er gefordert. So war es geschehen, dass wir nur am Fusse des obersten Gratdrittels eine kurze, innerlich rastlose Rast dazu benutzt hatten, im Feldflaschenbecher einen Schluck Tee zu wärmen. Und bald hatten uns die unbeschwert um die obersten fünf wilden Gratwächter segelnden Nachmittagswolken weitergetrieben.

Nun standen wir oben; erneut hatten wir erfahren: Die Anziehungs- und Wirkungskraft eines Berges auf den Menschen liegt wohl darin, dass in ihm die beiden, tiefste Erlebnisse der menschlichen Seele bewirkenden Gegebenheiten des Fascinosum und des Tremendum, des Begeisternden und Erschreckenden, der Schönheit und der Schaurigkeit zugleich und ineinander verwoben sehr intensiv vorhanden sind. Am trutzigen Schaligrat klang als Grund- ton das Erlebnis des « Mysterium tremendum » deutlich über. An einem solchen Berge wird es einem denn auch sehr verständlich, dass in uraltem und modernem, religiösem Heidentum « der Berg » göttlich verehrt werden kann und der Mensch ob dem Geschöpf den Schöpfer vergisst.

Während sicher Andreas ähnliche Überlegungen machte - später wenigstens hat er sich dahin geäussert -, war der als guter Praktiker tätige Photograph Frithjof eifrig bemüht, einige günstige Einblicke in die herrliche Rundsicht zu gewinnen. Aber auch die rasch wechselnden Wolkenstimmungen schufen prächtige Bilder und schenkten uns dazu noch eine eingehende Beobachtungsmöglichkeit des in sehr verschiedenen Formaten erscheinenden Brockengespenstes.

Ein frischer Windzug - aha, es ist der talwärts fallende Abendwind vom Hohlichtgletscher her, der mich aus meinen Erinnerungen weckt. Auf der Dufourspitze erlischt das letzte Leuchten. Gestern abend hatten wir im Abstieg über den Ostgrat um die gleiche Zeit gerade den Frühstücksplatz erreicht. Bis zur Hütte noch einige Erinnerungen und Überlegungen dazu.

Wie es einem auf grossen Fahrten zu solcher Tageszeit etwa passiert, hatte einer unserer ersten Blicke beim Erreichen des Gipfels dem Abstieg gegolten. Da hatten wir zu unserer Überraschung feststellen können, dass wohl über den fein ziselierten Nordgrat ein sehr gutes Trasse sich hinunterzog, auf der Normalroute aber kaum noch die Anzeichen einer frühern Spur zu erkennen waren unter dem reichlich aufliegenden Neuschnee. Schon die ersten Schritte auf dem reizend steilen Endstück des Ostgrates liessen denn auch erkennen, dass in kleinerem Masse Schneebrettgefahr bestund. Nach einer Stunde beim felsigen Gratteil angelangt, stellten wir fest, dass hier in den letzten Tagen mehrere Partien umgekehrt sein mussten, eine Vermutung, die sich bestätigen sollte durchs Hüttenbuch. Der Grat selber kam uns - mit dem Schali verglichen - gesamthaft überschaut fast zahm vor, und im Vergleich mit ihren Artgenossen am Südwestgrat erschienen uns die Gendarme als niedliche Posturen. Wie wir aber darüber hinweg, bald etwas links, dann wieder rechts abwärts turnten, verstand es dieser « Normalweg » vortrefflich, uns eindrücklich zu machen, dass auch er von uns vollste Aufmerksamkeit verlange, so dass wir bei dem eifrigen Bemühen, möglichst rasch Tiefe zu gewinnen, kaum Zeit fanden, all die Form- und Farbenvarianten sommer-abendlicher Wolkenbilder ihrer Schönheit entsprechend gebührend zu betrachten. Nach einem knapp erstohlenen Rückwärtsblick kam mir der Ostgrat wie eine schlichte, unauf-dringliche Schönheit vor, die es an sich hat, unsere vollste Anerkennung durch Gediegenheit zu gewinnen.

Vom Frühstücksplatz an gerieten wir bei unserm etwas flüchtigen Tempo zu sehr nach links, hielten dann aber weiterhin konsequent in nordöstlicher Richtung, um vor Einbruch der völligen Dunkelheit die steilen Schneehänge über dem östlichsten Teil des Schaligletschers zu erreichen, da uns dadurch das Auffinden der Hütte am besten gesichert schien. Das gelang uns denn auch, aber eben, unten kamen Andreas unerfreulicherweise mit nur einem Steigeisen und Frithjof glücklicherweise mit nur einer gequetschten Wade an. So waren wir eigentlich « draussen », der Berg hatte uns kleine Menschen entlassen. Bereits auf dem Gletscher fanden wir noch das « Weglein » zur Hütte, und auf dem letzten, trockenen Wegstück des langen Tages bummelten wir, bis in unser Innerstes zufrieden und gelöst, unserer Behausung zu, die wir kurz nach der « Hüttenstunde » betraten und menschenleer vorfanden. Das feine Gletscherbrünnlein unmittelbar vor der Küche spendete uns indirekt noch reichlich Tee und Suppe - und dann sind wir also noch gestern, in jeder Beziehung gesättigt, zu tiefem, aber nicht traumlosem Schlaf gekommen. Nun sollte ich bald oben sein, und richtig, um die letzte Rippe biegend, sehe ich das trauliche Licht aus dem Hüttenfensterlein. Heute morgen sind wir durch dasselbe vom hereinflutenden Sonnenlicht Übergossen und geweckt worden. Und was so selten - zu selten - an einem schönen Sommertage in einer Hütte erlebt wird, das ist uns in uneingeschränktem Masse und ohne jede Belastung durch Pläne oder Wettersorgen da oben beschieden worden: Ein ungetrübter, prachtvoller Morgen voll Licht und Glanz nah und fern, Wärme und Ruhe um und um. Und da haben wir uns vorerst zu jeder Bewegung des Körpers und des Geistes urtümlich viel Zeit genommen. Das war schön! Dann musste aber doch noch die Frage nach dem Abschluss unserer Bergtage erörtert werden. Viele Namen und gute Pläne werden aufgezählt, recht zähe Verhandlungen fanden statt, bei denen öfters, Panmunjon zum Trotz, die « Zelte » wortlos verlassen und wieder betreten wurden. Eine gute Frucht, die bleiben will, muss zur Reife Weile haben. Aber wir kamen doch zu einem Beschluss, und ein grosses Ziel hat uns schliesslich vorbehaltlos geeint: Zurück übers WeisshornSo ist uns auch dieser geruhsame Tag zuteil geworden, und in der Vorbereitung auf die Retourfahrt bin ich auf einer Proviantexpedition nach Randa hinuntergekommen.

« Ho-ho, da ist er ja », höre ich meine Freunde rufen; sie sind auch zufrieden. Andreas'Steigeisen und Frithjofs Wade sind auch wieder « da », dazu noch vier Österreicher, die sich bereits zur Ruhe gelegt haben, so dass wir das auch ohne Schweinsplätzli hochgeschätzte Mahl nicht mehr zu sehr ausdehnen. Der Wecker wird auf 1 Uhr 30 gestellt - denn der Weg von morgen ist weit.

Wie wir um 2 Uhr 40 die Hütte verlassen, steht als Vermerk hinter unsern Namen im Buche: « Weisshorn über Bishorn und Nordgrat auf und ab », dahinter ganz klein « evtl. Abstieg über Young ».

Auf uns nun wohlbekanntem Pfade steigen wir über knirschenden Firn durch die östlichste Mulde des Schaligletschers zu Punkt 3471 auf, einem breiten Sattel auf dem seitlichen Ausläufer des nach Nordosten abgebogenen Ostgrates. Das unbeschreibliche, aber kräftig belebende und erfreuende Licht präludiert an den hohen Gipfeln das Nahen des Taggestirnes. Und wir erleben das sonderbare Empfinden, nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich auf der Schwelle zwischen Nacht und Tag zu stehen. Die zahlreich gewordenen Strassenlampen von Grächen und weiterhin von all den Dörfern im dunkeln Tale unten bis weit ins Goms hinauf lassen die Dunkelheit der Tiefe nur um so eindrücklicher werden im Gegensatz zum Licht in der Höhe. Wir steigen nun in den vortägigen Stufen Adolf Schnydrigs den steilen und lawinenberüchtigten nördlichen Hang, schräg nach Nordwesten auf ein deutliches Felsband im Ausläufer des Ostgrates zuhaltend, hinunter. Dank für die gute Spur, auch wenn sie wiederum einige Flüche gekostet haben sollte! Leicht ersteigen wir durch eine kurze Schuttrinne den Gratsporn und lassen uns am Rand der flachen Mittelterrasse des Bisgletschers zu einer Morgenrast nieder. Wir fühlen uns alle drei so recht froh, und unvergesslich bleibt uns die nun in vollem Morgenlicht aufleuchtende, gewaltige Eis- und Firnflanke des grossen Berges, deren Höhe und Schönheit im Kontrast zur dämmerigen Talestiefe voll sich entfalten. Wie wir nun Richtung Bishorn durch die selten betretene Eiswelt schreiten - Young nennt sie arktisch - erleben wir in dieser beinahe unbegrenzten Licht- und Raumfülle das Fascinosum der Einsamkeit. Nahe dem Südostsporn steigen wir steigeisenbewehrt direkt zu Punkt 3938 auf dem Ostgrat des Bishorns an. Andres an der Spitze « zieht » mächtig, und ich muss in der warmen Morgensonne das forsche Tempo mit reichlichen Schweisstropfen begleichen. Der knurrende Magen, die uns umschliessende Pracht und nicht zuletzt menschliche Stimmen vom Bishorngipfel her lassen uns den Entschluss fassen, hier « unter uns » eine halbstündige Rast einzuschalten. Über den schmalen, aber sehr gutmütigen Firngrat stapfen wir darauf dem ersten Viertausender des Tages zu und passieren vor 9 Uhr den Ostgipfel. In dessen Felsen lassen sich 's Leute von der Tracuithütte her Wohlsein, sie kommen uns aber in dieser Stunde merkwürdig fremdartig vor, und wir schreiten an ihnen in einer uns sonst ungewohnten, aber in diesem Augenblick allen gemeinsam eigenen und darum willkommenen Kontaktlosigkeit vorbei zum Westgipfel - unsere ganze Kraft gilt jetzt der Kontaktnahme mit dem Nordgrat.

Er schwingt sich empor in seiner oft beschriebenen unbeschreiblichen Schönheit, schön und edel wie der unter dem flatternden Kammhaar sich emporreckende Hals eines Vollblutes, das sich wohl auch einmal kühn und abwerfend aufbäumen kann. Zwei Seilschaften, die wir bereits vom Bisgletscher aus am grossen Gendarm gesichtet haben, stehen schon auf ihrem höchsten Tagesziel. Es ist gut, dass die faszinierende Grösse der vor uns liegenden Aufgabe uns aufstachelt und die in uns unter den schmeichelnden Strahlen der Sonne sich entwickelnde Schläfrigkeit zu überwinden vermag. So schreiten wir ohne Zögern über den Gipfel weg zum Weisshornjoch hinüber, um unsern Fuss unverzüglich auf den Höhenweg zu setzen. Die volle Inanspruchnahme aller Sinne und Extremitäten durch das abwechslungsreiche Klettern über die bizarren Türme verscheucht die letzte Spur von Schläfrigkeit. Abwechslung bringt eine kurze Abseilstelle, deren Erkletterung auf einem Abstieg über den Nordgrat als « gute » Stelle bekannt ist und in mir die Erinnerung an diese Tour am Bettag des Kriegsjahres 1942 wachruft.

Und nun stehen wir am grossen Gendarm. Wir sind sofort einig, ihm direkt aufs « Käppi » zu steigen. Einige Meter auf wunderbar kompaktem Fels schräg aufwärts in die Flanke, dann um 180 Grad nach rechts zur Kante zurück, bringen uns an zwei Sicherungshaken vorbei, die bei den herrschenden vorzüglichen Bergverhältnissen nicht benützt werden sollten, unter einen Überhang, der wohl, wie viele seiner Art, doch mindestens gut senkrecht sein dürfte. Griffe und Tritte sind aber, wenn man mit Aug, Fuss und Hand « in die Breite » klettert, genügend und in guter Qualität vorhanden, so dass wir mit uneingeschränkter Lust der Schwerkraft unserer Körper über der eindrücklichen Tiefe entgegenwirken, das Gewicht ruhig emporwägen und uns oben neben dem Abseilhaken der in jeder Hinsicht sehr schönen Stelle zufrieden freuen. Über den einfachem Kamm hinweg und dann einige Meter in der Südflanke des Turmes absteigend, erreichen wir um die Mittagszeit den Schneesattel, wo wir uns in den warmen Randfelsen niederlassen. Der wässerige, aber sehr saubere Schnee inspiriert uns zu einem Kaffee, den wir im Becher herstellen und uns Tropf um Tropf munden lassen. Wie ich das letzte Zuckerbröcklein zerfallen sehe, kommt mir auch in dieser grossen Höhe der kleine Gedanke an das Proviantdepot unter dem Wellblech im Refuge und damit die besorgte Frage, ob wir diesen Vorrat noch vorfinden und geniessen würden. Doch sofort schlägt das Gedankenpendel zurück zur grossen Frage nach dem Younggrat - ja, steht er überhaupt noch in Frage?

Bereits sind wir nun über eine Stunde dagesessen. Vor unsern Augen wird das Thema « Weisshorn » in einer seiner schönsten, kaum zu übertreffenden Variation gespielt. Wie in einem meisterhaften musikalischen Triospiel jede Stimme in Tonführung und Rhythmus frei und eigenständig emporsteigt, im vereinten Dreiklang aber erst die ganze Pracht zur Entfaltung gelangt, so schwingen sich vor uns die drei herrlichen Linien der drei Weisshorngräte empor: von links her der makellose, durch seine Schlichtheit emporziehende Ostgrat, von rechts her in selbstbewusster, trutziger Stärke der im Mittagsschatten dunkle Schali, als diente er nicht nur zur Stütze des Berges, sondern des ganzen Himmelsgewölbes über dem Berg, in der Mitte aber, in kühnbeschwingter Firnlinie, die nur in halber Höhe - als müsste hier noch einmal zum letzten, machtvollen Aufschwung tief Atem geschöpft und alle Kraft gesammelt werden - durch eine Felspartie zäsuriert ist, der Nordgrat. Für uns ist er augenblicklich der « Cantus firmus », der Träger des « starken Tones » im herrlichen Triospiel der drei Gräte. Durch ihn lassen wir uns nun auf guter Firnspur emportragen - unserm etwas trag gewordenen Fleisch zum Trotz - empor auf den durch dieses Zusammenklingen vollendeten Gipfel des Weisshorns. Auch die Gipfelrast mit der uneingeschränkten Sicht in die Ferne und Tiefe wird zur Gelegenheit, dem grossen Thema noch einmal ganz zu lauschen.

Was nun noch folgt, wird der Abgesang sein, allerdings, dem Augenschein nach zu schliessen, ein dem Thema würdiger Schluss - der Abstieg über den Younggrat. Beim Hinuntersteigen zum Rucksackdepot im Schneesattel haben wir ihn nun ständig vor Augen. Es ist, als ob er ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl, nicht am eigentlichen Gipfelaufbau des majestätischen Weisshorns beteiligt sein zu dürfen, kompensieren möchte durch eine von seinen Rivalen nicht erreichte, konsequente und resolute Steilheit. Frithjof ist davon begeistert, Andres nennt ihn dämonisch, ein Grat, der reisse, sei es abwärts oder hinauf.

15 Uhr 25 - nach Frithjofs sehr genau geführter Zeittabelle - ist es so weit: Wir sind bereit, und soeben haben wir 700 Meter unter uns die am frühen Morgen am Nordgrat gesichteten zwei Seilschaften aus den Felsen steigen sehen, so dass wir sie nicht mehr durch Steinschlag gefährden können, und wir dürfen einsteigen. Es ist ein richtiges Einsteigen in das der untern Hälfte eines aufgeschnittenen Trichters gleichende Wandstück der Route. Genau wo die Rundung am tiefsten in den Schneesattel einbuchtet, muss über den abgeschmolzenen Rand der den Felsen aufliegenden Firnschicht hinuntergestiegen werden, unter der das gute, erste fixe Seil verankert ist. Als Letzter ungesichert, bin ich an dieser heiklen Stelle froh, nach dem künstlichen, hier einzig sichern Halt greifen zu können. Unmittelbar unterhalb des Gratfirstes sind die sehr griffarmen Platten noch vereist, aber bald trieft und glitzert die Wand unter der warmen Nachmittagssonne, und zahllose Bächlein springen der Tiefe zu - hie und da verirrt sich eines in unsere Jackenärmel.

Solide Stifte, an denen wir unser 30-Meter-Reserveseil einhängen, bilden die einzige Sicherungsmöglichkeit und leiten uns gleichzeitig schräg nach rechts gegen den Trichterhals hinunter. Doch noch vor dem Erreichen seiner Kante finden wir, scharf nach rechts haltend, durch ein kurzes Kamin den Aufstieg zum eigentlichen Grat und damit den Ausstieg aus diesem gewaltigen Steintrichter.

Young hat diesen Grat prächtig charakterisiert, wenn er ihn mit einem versteinerten Riesenreptil verglichen hat. Und so richten wir uns ein, über dessen gewaltige Rückenschuppen möglichst zügig hinunterzukommen. Die grösstenteils noch gut verankerten Stifte und die, wenigstens im obern Teil, meistens brauchbaren Seile erleichtern und monotonisieren den Abstieg. Wo Seile fehlen oder das Vertrauen nicht mehr verdienen, finden wir bald das unserer Dreierpartie gut dienende Seilmanöver heraus. Wir sind auf 20 Meter angeseilt, eine Distanz, die sich für den ganzen Abstieg als genügend erweist. Der erste Mann bindet sich an einem Stift beim zweiten fest und der zweite nahe beim dritten und beide klettern rasch an ihrem Gehseil abwärts, während der dritte das Reserveseil einzieht, an dem er sich frei abseilt. Die andauernde Exponiertheit fordert saubere, ruhige Arbeit, volle Aufmerksamkeit auf den Kameraden und das eigene Tun und Lassen, und so erscheint uns der Abstieg trotz der Einheitlichkeit seines Charakters nicht langweilig. Dazu segeln allmählich federleichte Nachmittagswölklein der Wand entlang, quellen über den mächtigen Rückgrat und « lassen dabei Federn », wodurch die Lichtwirkungen noch kontrastreicher und die Aus- und Einblicke, bald über die Kante hinaus nach Westen, bald in die Flanke hinein nach Osten, noch imposanter werden. Der « Weg » bleibt aber gut markiert, im untern Teil vor allem durch verfaulte Seilreste. Das prächtige Mittelstück mit seinem säubern Felsen lädt angelegentlich zu einer Begehung im Aufstieg ein, wobei wir aber an dem von der Erstbesteigung her gut bekannten Überhang das fixe Seil nicht missen wollten.

Frithjof muss die für das Verlassen des Felsens gesetzte Frist mehrmals verlängern; aber allmählich geht nun die Plattenwand zur Linken doch in eine steile Eis- und Firnflanke über, und ich bin froh, bei der abnehmenden Steilheit den durch das Schmelzwasser widerspenstig gewordenen « Faden » nicht mehr beständig einfädeln zu müssen. An Stelle des steten Sicherns wenden wir unsere volle Aufmerksamkeit nun dem hier möglichen Steinschlag zu -nicht umsonst! Der grosse Gendarm, wohl erbost darüber, dass wir kleinen Menschen-schlingel ihm nun doch entwischt sind, sendet einen echten Schrotschuss über unsere Köpfe hinweg, dem bald grössere Einzelgeschosse folgen. Am sichersten sind wir noch auf dem Ausläufer des Grates selber, und wir verlassen ihn erst, wo im Firn jegliche Einschlagspuren fehlen. Den Kopf weit im Nacken, salutieren wir nochmals zu dem in den Strahlen der untergehenden Sonne rot leuchtenden Gendarmen hinauf und überfliegen mit den Augen den steilen Wandpfeiler, der uns, trotzdem ihn Führer aus dem Nikolaital - ob aus Neid? -seinerzeit mit dem etwas verächtlichen Ausdruck « der Grat par les cordes » belegt haben, zu dieser einzigartigen Doppeltraversierung verholfen hat. Denn unbedingt hat der Abstieg über diese Riesenrippe eine unvergessliche Intensivierung bei der Durchführung des gewaltigen Themas vom « Weisshorn » gebracht, und nie werden wir diesen mächtigen Abgesang missen wollen.

Am Punkt 3577 vorbei gewinnen wir durch eine grosse Firnmulde rasch an Tiefe und treten, zuletzt wieder über weiche Moos- und Graspolster, just mit dem Einbruch der Nacht an das Refuge Ar Pitetta heran. Die angelehnte Steinplatte vor der Tür ist da, aber hinter der Tür ist der Tisch leer, das Proviantdepot ist weg. Fast spöttisch blickt uns dafür ein armseliger, vertrockneter Brotknorren an; darunter liegt unser Zettel - mit der vorbeugenden Bemerkung... jusqu'à mercredi soir pas de retour... Aus einem undeutlichen Gekritzel auf der Rückseite erahnen wir, dass unsere Vorgänger zwei Führerpartien gewesen sind, die von der Tracuithütte auf brechend, ausgehungert hieher gekommen sind, das Depot mit Freuden vorgefunden und sich daran gütlich getan - und dass bei ihnen auch Germain Melly gewesen sein muss. Nun, die Vorfreude auf das in Aussicht gestandene « Festessen » ist auch etwas gewesen, und dass wir « mercredi soir » heil « de retour » ist viel, und unter dieser Feststellung verflüchtigt sich der aufgestiegene Unwille rasch. Auch nach ungesüsstem Kräutertee fallen wir bald in ebenso herben Schlaf, in den nur die mächtigsten Akkorde und eindrücklichsten Rhythmen der prächtigen Doppelfahrt einzudringen vermögen.

Im Refuge Ar Pitetta ist sie angestimmt worden, in ihm hat sie ausgeklungen, das am Donnerstag morgen lange noch im Schatten der mächtigen Westwand stand, wo es recht lange stehen möge, ein schmuckes Hüttlein, innen und aussen wohlgelungen, an einem einzigartigen Standort. Zu ihm wird vor allem aufsteigen, wer vom Thema « Weisshorn » umgetrieben wird. Und tatenfreudig oder dankbar wird der Bergsteiger die Begeisterung teilen, die aus den Augen des Miterbauers Germain Melly leuchtete, als er uns von « ihrer » Cabane erzählte, dem Refuge hinten im geheimnisvollstillen Val Ar Pitetta.

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