Winter - die kritische Jahreszeit für das Bergwild | Club Alpin Suisse CAS
Soutiens le CAS Faire un don

Winter - die kritische Jahreszeit für das Bergwild

Remarque : Cet article est disponible dans une langue uniquement. Auparavant, les bulletins annuels n'étaient pas traduits.

kritische Jahreszeit für das Bergwild

Josef Senn, Mollis

Überlebensmöglichkeiten im Bergwinter Begeben wir uns heute zur Winterszeit auf eine Bergtour, dann treffen wir viel eher auf weitere Skifahrer als auf ein Gemsrudel. Und um Wölfen zu begegnen, müssen wir mindestens bis zu den Gebirgen Südeuropas reisen. Unsere Alpen sind auch im Winter kaum mehr , denn offenbar betrachtet sie der ge- 169 Eine Reise in die Vergangenheit Nehmen wir an, wir könnten uns, samt unserer Tourenausrüstung, etwa zweitausend Jahre zurückversetzen und im Winter zur Tierbeobachtung in die Berge ziehen. Eine noch völlig unberührte Welt würde sich uns öffnen:

Mit Skiern über eine Bergflanke emporsteigend stossen wir an einer aperen Stelle auf eine Gruppe Gemsen. Wir bewegen uns so vorsichtig, dass sie sich durch unser Auftauchen nicht stark beunruhigt fühlen. Nach kurzer Zeit senken die Tiere deshalb ihre Köpfe wieder und fahren fort, das spärliche, dürre Gras abzuweiden. Natürlich wird unsere Gegenwart weiter wahrgenommen, aber da sie dem Menschen noch nie begegnet sind, existiert er nicht auf der Liste der möglichen Feinde. Um das Gemsrudel etwas länger beobachten zu können, lassen wir uns nun in einiger Entfernung unauffällig in einer Gelände-vertiefung nieder.

Die Tiere, alles Geissen mit letztjährigen Jungtieren, weiden ruhig weiter. Kein Laut zerbricht die eisige Stille dieses Wintertages. Plötzlich, scheinbar aus dem Nichts auftauchend, sausen drei oder vier gelbbraune Schatten auf die grasenden Tiere zu. Aber re-aktionsschnell haben die Gemsen ihre Köpfe gehoben und fliehen blitzartig über eine fast senkrechte Felswand empor, wohin ihnen die Wölfe nicht folgen können. Ebenso unvermittelt wie es aufgetaucht ist, verschwindet das Wolfsrudel wieder. Vielleicht wird die Jagd bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit erfolgreicher verlaufen oder dann finden die Wölfe wieder einmal einen durch eine Lawine getöteten Steinbock.

Besser als die stärker auf Gräser angewiesenen Hirsche und Steinböcke sind Gemsen in der Lage, sich von Knospen und Zweigen zu erhalten.

stresste, moderne Mensch als einen einzigen grossen Erholungsraum. Dabei wird meist vergessen, dass die Berggebiete vielen Tierarten Lebensraum bieten und dass gerade der Winter für die meisten von ihnen die kritische Zeit des Jahres ist.

Theoretisch verfügt ein Tier über zwei Möglichkeiten, um den Winter zu überleben. Es kann das ganze Jahr hindurch gleich aktiv sein. Dazu braucht es aber ein permanent ausreichendes Nahrungsangebot, denn es muss die täglich verbrauchte Energiemenge immer wieder aufnehmen können. Ein Vorrat wäre Aber auch Hirsche sind auf den Verbiss von Bäumen und Sträuchern angewiesen und bedrängen deshalb die Gemse im Wintereinstand als harte Konkurrenten.

bei dieser Lebensweise und dem knappen Nahrungsangebot rasch aufgebraucht. Die zweite Möglichkeit besteht für das Tier darin, seine Aktivitäten stark einzuschränken und mindestens teilweise von gespeicherten Fett-vorräten zu leben.

Fleischfresser, die von einem über das ganze Jahr fast konstanten Angebot profitieren, gehören im allgemeinen zur erstgenannten Gattung. Ganz andere Voraussetzungen bestehen hingegen bei unseren Wildhühnern, die im Winter von fast rein pflanzlicher Nahrung leben müssen, da Insekten während dieser Zeit für sie so gut wie unerreichbar sind. Auch unseren grossen Säugetieren, wie Steinbock, Gemse und Hirsch, steht als Pflanzen- fressern zur kalten Jahreszeit nur ein sehr stark reduziertes Nahrungsmittelangebot zur Verfügung. Während im Sommer in den Bergregionen so viel Futter vorhanden ist, dass sogar noch eine beträchtliche Anzahl weiterer Pflanzenfresser wie Kühe und Schafe hier ihr Auskommen finden, liegt im Winter der grösste Teil der Vegetation unter einer oft mehrere Meter dicken Schneedecke begraben und bleibt so für alle Vegetarier unter den Tieren, ausser den Mäusen, unerreichbar. Die Äsungsfläche reduziert sich dann auf relativ wenige sehr steile Hänge, an denen der Schnee abrutscht sowie auf besonders exponierte Regionen, wo Wind und Sonne die weisse Decke rasch zum Verschwinden bringen.

Der Mensch als Störfaktor Die Wildtiere, die heute den Menschen normalerweise als Feind betrachten, reagieren auf sein Auftauchen mit Flucht. Im Sommer können sie am Ende derselben weiterfressen, denn sie fliehen meist nur von einer Weide zur andern. Natürlich verbrauchen sie dadurch Energie, doch lässt sich diese im allgemeinen leicht wieder aufnehmen. So können zum Beispiel Gemsen im Sommer relativ viele Störungen ertragen. Es sei denn, es dringen so viele Menschen in ihren Lebensraum ein, dass sich die Tiere fast dauernd auf der Flucht befinden und kaum mehr zum Fressen kommen. Auch das ist heute in touristisch stark beanspruchten Berggebieten bereits der Fall. Darum verschwindet das Wild dann innert kurzer Zeit aus solchen Gebieten.

Dass sich aber Wildtiere auch auf Menschen einstellen können, sehen wir am Beispiel des Schweizerischen Nationalparks. Dank des für alle Besucher geltenden Verbotes, die Wege zu verlassen, haben die Tiere gelernt, dass sich die Menschen immer auf genau bekannten durch ihren Lebensraum bewegen. Das Auftauchen des Menschen wirkt nicht mehr überraschend. Sein Verhalten wird kalkulierbar und die Tiere brauchen bei seinem Erscheinen nicht mehr zu fliehen weil sie sich sicher fühlen. Verliesse hingegen ein Besucher den Weg, würden die Tiere mit sofortiger Flucht reagieren.

Kehren wir aber wieder aus dem Nationalpark in die Bergwelt zurück. Auch hier kennen die Wildtiere natürlich die häufig begangenen Wege, doch gibt ihnen das keine Sicherheit.

Nun müssen aber die Tiere den Sommer über mehr Nahrung aufnehmen, als sie in dieser Jahreszeit effektiv brauchen. Dies, damit sie den Winter überleben können. Sie benöti- gen deshalb viel Zeit für den Weidgang. Die Tiere durch Jahrtausend alte ( Erfahrung ), wieviel Nahrung bzw. Energievorrat sie in der warmen Jahreszeit aufnehmen müssen, um einigermassen sicher den Winter mit seiner für sie defizitären Energiebilanz zu überstehen. Sie können deshalb an einem Wintertag durchaus mehr Energie verbrauchen, als sie aufnehmen. Zugleich erlauben es ihnen aber auch besondere Anpassungen im Verhalten, den Energieverbrauch zu senken. So kann man zum Beispiel beobachten ( aber bitte aus grosser Entfernung, um die Tiere nicht zu beunruhigen ), dass sich Gemsen und Steinböcke im Winter möglichst wenig bewegen. Statt wie im Sommer umherzuziehen, halten sie sich lange Zeit an den für sie günstigen Orten auf. Andere Arten wie das Schneehuhn lassen sich einschneien und schützen sich so vor extremer Witterung.

Natürlich sind die angelegten Reserven nicht so knapp bemessen, dass jede Störung zu einem Zusammenbruch des Energiehaushaltes führt. Wie wir am Anfang gesehen haben, wurde unser Schalenwild auch schon in frühester Zeit durch Überfälle von Raubtieren aus ihrem ruhigen Dasein aufgeschreckt. Doch diese Raubtiere waren immer sehr selten. Sie konnten ja nicht sehr zahlreich auftreten, da sie sonst zuviel Beute benötigt und damit sich selber vernichtet hätten. Diese Räuber tauchten somit höchstens alle paar Wochen an demselben Ort auf, was die von ihnen gejagten Tiere energiemässig zu verkraften vermochten.

Wir dürfen deshalb nicht den zu einfachen Schluss ziehen, der Mensch, das heisst der Skifahrer, habe jetzt praktisch die Rolle der heute fehlenden Raubtiere übernommen. Denn zahlenmässig übertrifft er diese bei weitem; meist wird er sogar noch häufiger anzutreffen sein als die Steinböcke, Gemsen und Hirsche.

Die Tiere sind deshalb häufigen Störungen ausgesetzt und werden dabei immer wieder zu grossen Energieausgaben gezwungen. Jetzt aber können sie nicht mehr wie im Sommer von einem günstigen Gebiet in ein anderes fliehen. Der nächste gute Einstand ist im Winter oft weit entfernt und wahrscheinlich bereits von einem andern Rudel besetzt. Somit wird z.B. ein Gemsrudel in doppelter Hinsicht zu einem Energieverschleiss gezwungen: zunächst einmal für die Flucht und dann, falls sich die Störung wieder entfernt hat, wird er- neut Energie benötigt, um sich wieder in das alte Einstandsgebiet zu begeben.

Oft wenn Skifahrer durch stiebenden Pulverschnee eines lockeren Bergwaldes hinunterfahren, glauben sie, ihren Glücksgefühlen möglichst lauthals Ausdruck verleihen zu müssen. Ihr Jauchzen und Johlen jagt jedoch alles Wild in die Flucht, meist lange bevor irgend einer die Tiere überhaupt zu Gesicht bekommt. Nehmen wir an, sie beachten auch die zahlreich hinterlassenen Spuren der panikartig geflohenen Tiere nicht, können sie oft kaum verstehen, warum ihnen ein paar ( übereifrige Tierschützen die genussreiche Abfahrt ( vermiesen ) wollen - wo der Wald doch so leer sei und sie keine Beschädigungen anrichteten...

Hier wird jedoch vergessen, dass eine plötzlich auftauchende, lärmende Menschengruppe das Wild in einen viel grösseren Schrecken versetzt, als etwa langsam aufsteigende Skifahrer. Die völlig unvermittelt und unerwartet auftretende Störung führt zu einer kopflosen Flucht, die sehr viel Energie verschlingt, während die Tiere bei einer sich langsam nähernden Gefahrenquelle sozusagen in Ruhe nach jener Lösung suchen können, die am wenigsten Energie zu verbrauchen verspricht.

Es ist klar, dass unser Bergwild sich nicht an diese häufigen Störungen anzupassen vermochte, denn die Wintersportler stellen für sie ein relativ neues Problem dar. Deshalb werden im späteren Verlauf des Winters die Fettreserven des Tieres aufgebraucht sein. Da es aber Im Winter sind die Gemsen ganz auf Energiesparen eingestellt. Ihre Kraftreserven werden zu schnell aufgebraucht, wenn sie häufig zu Fluchten veranlasst werden.

wegen des spärlichen Nahrungsangebotes nicht entsprechend fressen kann, wird es langsam aber sicher eingehen. Und selbst wenn es ihm trotz allem gelingt, den Winter zu überstehen, genügt meist schon ein ausserordentlicher Schneefall im Verlauf des Bergfrühlings, um die bereits geschwächte Kreatur zur Strecke zu bringen. Gewiss sind schon immer, und ohne Einfluss des Menschen, im Winter Tiere verhungert, doch handelte es sich hier stets um vereinzelt auftretende oder lokal begrenzte Ereignisse. Daneben gab es immer Räume mit gesunden, lebensfähigen Beständen, aus denen sich die entvölkerten Gebiete innert kurzer Zeit wieder auffüllten. Schliesslich ist auch zu berücksichtigen, dass der Bergwald heute durch mehr Tiere als früher belastet wird. Während die Hirsche einst über den Winter in für sie günstigere Tallagen auswandern konnten, haben wir Menschen diese Gebiete derart stark verändert, dass sie für Hirsche nicht mehr in Frage kommen. Nun werden aber immer neue Regionen und diese in einem noch stärkeren Ausmass als früher für den Tourismus erschlossen. Nicht nur entstehen ständig neue Skilifte, sondern viele Touren werden immer bekannter, beliebter und damit ( begangener ). Dies hat zur Folge, dass sich grosse Flächen für das Wild in lebensfeindliche verwandeln.

Wir dürfen auch nicht mehr hoffen, dass unsere Wildtiere in andere, zum Überleben geeignete Räume, ausweichen können. Die für das Wild günstigen Lebensräume sind heute weitgehend bekannt. Damit liegt es an uns, die Bedürfnisse unserer Tierwelt zu respektieren und die von ihr beanspruchten Gebiete im Winter zu meiden. So tragen wir dazu bei, dass wir auch in Zukunft in unseren Bergen Steinböcke, Gemsen und andere Tiere in freier Wildbahn beobachten können.

Feedback