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Zwischen Rhone- und Rheinquellgebiet

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Otto Rœgner, Freiburg i. Br., Sektion Basel.

Von Wer sich erinnert, dass noch vor einem Jahrzehnt eine stattliche Zahl unschwer ersteigbarer Berge von dem immer mehr anschwellenden Strom der Bergwanderer kaum bespült wurde, weil schlechte Unterkunftsverhältnisse in den Hochlagen nur wenigen Zähen Anreiz gab, auch diese abseitigen Gruppen zu durchstreifen, der wird es dem S.A.C. Dank wissen, dass er durch Hüttenneubauten auch in diesen Gebieten die Verteilung der Naturverehrer besser ermöglichte, um so mehr, als weitere Stichbahnen langverschrieene Zugänge erheblich zu kürzen gestatten. So mögen denn denen, die an einsamen Fahrten abseits der Modestrasse auch Gefallen finden, die folgenden Skizzen zu kurzem Leitfaden dienen für die Hauptberge, die zwischen den Quellen von Rhone und Rhein das schweizerische Gebirgszentrum darstellen. Aus dem Folgenden spricht überall der Dank für die zahlreichen, wundervollen und erhebenden Stunden, die der Schreiber dort verleben durfte. So bedarf es dann wohl keiner weitern Anregung für andere, nun auch dort gleiches Glück zu gemessen!

I. Im Adulamassiv.

Fernab der grossen schweizerischen Weltverkehrsstrasse liegt eine Berggruppe, die — als Adulamassiv bekannt — einen der Hauptquellströme des Rheines, den Hinterrhein, zu Tal sendet. Lange Talmärsche und Anstiege, die auf eine ganz alte Klubhütte beschränkte Unterkunftsmöglichkeit für Hochtouristen waren die Ursache der verhältnismässigen Unbekanntheit in Alpinistenkreisen. Als dann endlich mit der Misoxer Bahn die Möglichkeit verkürzten Anmarsches sich ergab, wählte ich sofort dieses Ziel für einige freie Herbsttage des Jahres 1908. Das Glück trieb mir einen lieben Schweizer Kameraden, Ernst aus Frauenfeld, in den Weg, der mit zwei Mailänder Freunden sich anschloss.

Freilich spielte der Wettergott uns einen derben Streich, wenige Tage vor unserer Anfahrt hatte eines jener typischen Herbstunwetter in den steilen Tessintälern derart wüst gehaust, dass das neue Bähnchen auf lange Strecken völlig unbenutzbar wurde. Schon wenig hinter Bellenz ging 's nicht mehr weiter, hatte doch die ungestüme Calancasca bei Gromo Damm und Brücke zerstört, dass wir notgedrungen zu Fuss weiterpilgerten, denn die biedern Rosselenker, vom Unglück profitierend, verlangten denn doch ein bisschen zu viel bis nach Mesocco hinauf. Ein schmaler Geldbeutel erleichterte den Entschluss, wenn auch das Gepäck in den folgenden Stunden bedenklich drückte, so ging 's doch im ersten, flachern Teile auf der Strasse gut voran, denn der Mond suchte die Reise mit Beleuchtungseffekten zu kürzen. Erst als die volle Scheibe hinter hohen Berggraten verschwand, der Anstieg steiler ward, in der schweren Dunkelheit dann kurzerhand als bester Wegleiter der stark zerstörte Bahndamm eingehalten ward und mit der Schotterbettung für reichliche Flüche der Stolpernden sorgte, da ward uns allen die Zeit reichlich lang. So wurde das fast mystische Auftauchen der stillen, dunklen Häuser Mesoccos 1 Uhr 40 nachts mit ehrlicher Freude begrüsst. Beim Hotel de la Poste anklopfend, ward uns wenige Minuten später das Hotel des Alpes aufgetan, und wir zögerten nicht, mit fliegenden Fahnen zur wachsamern Konkurrenz überzugehen, um gleich darauf in tiefen Schlaf zu versinken.

Bereits um 6 Uhr sollte der neue Morgen uns unterwegs sehen, doch die nächtliche, unvorhergesehene Anstrengung erforderte Konzessionen, so dass erst um 7 Uhr der Weitermarsch angetreten werden konnte.Vorher hatte ich vom rührigen Wirt viel Interessantes aus der Geschichte des Tales gehört; mit Stolz wies er seine Jagdtrophäen, denn Adler und anderes Raubzeug gibt 's ja dort noch zur Genüge, ist doch der letzte Bär erst 1903 im Misox erlegt worden. Inzwischen hatte der zarte, nachts gekommene Dunstschleier sich gelöst, ein strahlender Morgen zog über die steilen Berge beider Talflanken, unter denen besonders der Piz Pombi uns fesselte, auf dem wir heute die Beilenzer Kameraden unter Lisibachs Führung wussten.

Der ansehnliche Ort Mesocco, peinlich sauber gehalten und besten Eindruck hinterlassend, verschwand im Rückblick, der alte Saumpfad förderte rasch zum Sattel beim Lago di Osso, wo die Moesa ihre Wasser über eine Felswand herabjagt. Ein prächtiges Zurückschauen gab 's hier auf das tiefe Misox und die beidseitig es einengenden jähen Berge. Bald darauf erscheint San Bernardino, ein auf weitem Wiesenplan ganz reizend gelegener Luftkurort, von duftenden Nadelwäldern umhegt. Eine hier benötigte Rast gab Anlass zu Vergleichen der Preise, bei deren Festsetzung anscheinend die Höhe des Ortes mitbestimmend gewesen waren. Dies gab Anlass, bald weiterzupilgern. Doch nun hatte ich schwere Mühe, meine kleine Karawane zusammenzuhalten, wie das in der Ferne auftauchende Zapporthorn als erstes Ziel in das Gesichtsfeld trat. Ob's die hellen Augen der Wirtstochter waren, ob die Güte des Gebotenen rückwirkte, genug, als nach den obernKehren der Bernhardinstrasse die etwas ödeGegend unter dem Mucciagletscher folgte, streikten zwei der Begleiter, denen nur an einer « Buona passeggiata » lag. Kurzerhand stiegen Ernst und ich allein weiter, nunmehr freier ausschreitend. Steile Schutt- und Rasenhänge förderten gut zur Mucciamoräne, an der kurzer Halt geboten war. Freilich erhielt da der Magen weniger als die Augen, die besonders durch die Erscheinungen des Tambohorns und Piz Ucello sowie die massigen, zwischen Misox und Comersee aufragenden steilen Grenzwälle befriedigt wurden.

Gleich darauf standen wir im Firn, und rasch war mein Groll über die drunten bleibenden, pickelbewaffneten « Spaziergänger » verflogen. Der nur wenig aufgetaute Firn erlaubte rasches Fortkommen, als wir aber den Stabbiograt erreichten, legte ich doch das Seil an. Dass dies wohlgetan war, bewies wenige Minuten später ein Ruck am Seil, der mir beim Umschauen vom Begleiter nur noch Kopf und Hände zeigte; der Rest war in schmaler, aber tiefer Spalte verschwunden, die ich eben unangefochten überschritten hatte. Zum Glück kam Ernsts Pickel quer zu liegen und gestattete rasches Herauskommen; doch die Mahnung, kleine Gletscher nicht gar zu harmlos zu nehmen, war wieder rechtzeitig gekommen Dem kurzen Intermezzo folgte der steile Abstieg zum Couloir, das in die Scharte des Zapportgrates östlich unseres Gipfels leitet. Nach den vereisten Felsen ging 's aus dem Schartengrund nicht mehr allzu weit über den Grat, auf dem der Neuschnee viel verdeckt hatte und vorsichtiges Beschreiten erheischte. Bald aber wurde der Neigungswinkel des blockigen Gerüstes flacher, und hinter dem Steinmann rasch zum wirklichen Gipfel gehend, liessen wir auf der Westseite zu kurzer Rast uns nieder, da hier bessere Übersicht unser wartete. Genau 4 Uhr war 's, als der Begleiter mir hier für die Beharrlichkeit dankte, mit der ich ihn heraufgelotst hatte, denn das Geschaute übertraf all seine Erwartungen.

Die schon tiefstehende Sonne liess gerade deshalb den Verlauf der Täler, den Zusammenhang der Kämme und Gruppen besonders schön erkennen, wie sie auch die Formen der Gipfel in dem makellosen Herbsthimmel prachtvoll zur Geltung brachte. Nur Hauptnamen können aus dem weiten Gipfelrund genannt werden, wie Monte Rosa, Mischabel und die Berner Schar, zwischen ihnen und dem massigen Tödi schoben dann die nähern Adularecken im Norden sich ein; dem Biferten, Vorab und Ringelspitz folgten über dem tiefen Rheintal-einschnitt der Silvretta leuchtende Gipfel, aus denen am imponierendsten der Piz Linard sich aufreckte, die breite Bernina, der immer elegante Disgrazia-stock leiteten über zum Heer der nähern Bergamasker, bis im Süden über die dort ausstrahlenden Adulagrate der Blick ins tiefe Calancatal fiel. Gegen den Splügen standen noch Tambohorn und die Berge der Valle Curciusa herausfordernd über dem Bernhardin, das Gegengewicht westwärts bildete über dem leuchtenden Rheinquellhorn das alle überragende Rheinwaldhorn. In weichen Linien zog von da der Paradiesgletscher zu Tal, doch jetzt sahen wir wohl, dass unser Projekt, über den Verbindungsgrat zum Rheinquellhorn und zur Hütte am Ursprung zu gehen, etwas zu lang für die wenigen noch verbleibenden Herbststunden war. Wohl versuchten wir eine Abkürzung durch einige steile Couloirs der Zapport-nordwand, doch die jähe, eisige Flanke zwang uns immer wieder zur sonnigem Grathöhe. In den Anstiegsspuren wurde rasch der Stabbiograt wieder erreicht. Der Firn auf dem Mucciagletscher war, kaum dass hier die Sonne verschwand, beinhart gefroren, was unser Fortkommen wesentlich förderte. Bald war die Moräne erreicht, auf Blockhalden traversierten wir unterhalb des Zapportgrates ohne grosse Mühe zum steinmanngekrönten P. 2347 ob dem Bernardinpass, der bei Sonnenuntergang erreicht wurde. Reizvoll hoben sich hier im letzten Leuchten der kühne Zahn des Piz Ucello, die lange Flucht der grauen Hörner heraus. Im Eilschritt ging 's nun zum Pass hinunter, wo unsere Passbummler wieder zu uns stiessen. Als wir vereint nordwärts zogen, die Kehren fleissig kürzend, lag schon volle Dunkelheit über dem Pass, aber den letzten grossen « Scor-tiatoio » versäumten wir leider und mussten nun getreulich all die untern Strassen-windungen bis zur Talsohle innehalten. Kein Wunder, dass nicht nur unser Ruhebedürfnis, sondern auch der Hunger mächtig wuchs, doch in der Post zu Hinterrhein hatte man Verständnis für beides und befriedigte männiglich vollauf.

Die stramme Tagesleistung war schuld, dass selbst des Weckers Gerappel überhört und ich erst 4 Uhr 45 zum Aufbruch mahnen konnte. Der Mond, der nächtlings so seltsame, scharfe Schatten des spitzen Einshorns auf die jähen Tal- Zwischen Rhone- und Rheinquellgebiet.flanken geworfen, war untergegangen, doch der Himmel versprach guten Tag, so dass wir nicht zögerten, uns in Marsch zu setzen. Schon war 's fast hell, als 5 Uhr 40 der Aufbruch in den kühlen Septembermorgen erfolgte. Anfänglich ist das Rheintal noch breit und eben, doch bald stockt das rasche Vorwärtskommen, eine grosse Zahl Wasseradern müssen überschritten werden, näher treten die Bergwände, das letzte Vieh, in grossen Herden hier noch lagernd, wird passiert. Dann öffnet sich das enge Zapporttal, im schmalen Einschnitt das Rheinquellhorn mit dem Paradiesgletscher weisend, über ihm erscheint links das Zapporthorn, das von da ungemein imponierend wirkt. Dort droben lag bereits sonniger Tag in den eisigen Couloirs, während in der engen schattigen Schlucht beträchtliche Morgenkühle herrschte, doch die Unwegsamkeit des Geländes ( liegen doch zwischen damals und heute immerhin 15 Jahre !) und unser Gepäck sorgten für baldige, unerwünscht reichliche Erwärmung.

Lawinenreste wurden oft gequert, der Pfad oder seine damalige Andeutung zog oft unverantwortlich hoch, Flühe zu umgehen, dann atmeten wir erleichtert beim Erreichen der ärmlichen Hütten der Zapportalp auf, wussten wir doch nun den Gletscher ziemlich nahe, doch geht 's immer noch ein gutes Stück in dem hier sehr wilden und einsamen Tale, hart am Rande des schluchtigen Grundes, in dem der junge Rhein wild braust. In einer schwachen Stunde bringt so das Weglein über den interessanten Abstürzen zu der auf einem kleinen, grünen Fleck unmittelbar vor dem Gletscher gelegenen Ursprunghütte, unserm ersten Rastpunkte.

Während hier die verschwitzten Kleider an der warmen Herbstsonne auf den Felsen trockneten, ward ein währschafter Kakao gebraut, und so verging bei Rasten und Schmausen gar rasch eine jener im Herbst so kostbaren Stunden. Um 10 Uhr ward aufgebrochen, wenige Minuten später schon die Zunge des gutartigen Paradiesgletschers betreten, auf dessen mittlern Schmutzstreifen wir lange schwach anstiegen in der Richtung zum Rheinwaldhorn. Fortgesetzt hatten die Augen rundum zu tun, denn nun erschlossen sich uns völlig die Zauber der grandiosen Einsamkeit dieses wundervollen Firnbeckens. Im weitern Verlauf nahmen wir aber doch des massenhaft liegenden Neuschnees halber wieder das Seil, der Lektion vom Vortage eingedenk. Weit hinten im Gletscherkessel ward dann rechts abgeschwenkt, nach Überschreitung einer Seitenmoräne ein steiler, aus jähem Gras und Felsleisten gebildeter Hang betreten, der wohl nicht sehr bequem, aber um so rascher zur Höhe förderte. Geradezu köstlich war jetzt von hier aus der Rückblick. Zwischen Sala- und Hohberghorn und dem langen Zapportgrat zieht die schmale Rheintalspalte ostwärts hinaus, durch den felsigen Ausschnitt gerade noch das imponierende Tambohorn in unsere Abgeschlossenheit hereingrüssen lassend. Mit besonderem Interesse musterten wir von hier die Nordhänge des Zapporthornes, die in jähen kannelierten Fluchten zum zerrissenen Boden des Zapportgletschers abstürzen. Wir freuten uns jetzt, den Plan, durch eines dieser Couloirs dort abzusteigen, nicht durchgeführt zu haben. Die tiefen Steinschlagrinnen, das steile Gehänge, der vereiste Schnee hätten uns todsicher unheimliche Arbeit weit in die Nacht hinein gebracht, wenn nicht vielleicht noch ein recht kühles Biwak erfordert.

Um so mehr freuten wir uns jetzt der warmen Herbstsonne und betraten nun einen kleinen schneeerfüllten Kessel, der von den Geröll- und Blockhalden des Güferhorns und den Felshängen des Rheinwaldhornnordgrates hier gebildet wird. Wie Silber glitzerten jetzt in der Mittagssonne die Firnhalden und Wächten des Kulminationspunktes. Dieser faszinierende Anblick regte uns während des leichten Anstieges, der von hier zur Lentalücke ( 2954 m ) führt, stetig an. Ein kühles, über den Sattel wehendes Lüftchen trieb uns jenseits auf sonnbeschienene Felsplatten, wo nun die Gefährten ( der eine der Spaziergänger war schliesslich doch noch mitgekommen ) der Rucksäcke Inhalt auf seine Geniessbarkeit untersuchten. Während die andern Pollo und Vitello schmausten, stieg ich abseits, nur mit Pickel und Apparat bewaffnet, die Kameraden auf Aufnahmen verweisend, die ich unbedingt höher machen müsse.

Der erste Teil des Güferhornkammes ist harmlos, dann folgen im ausgesprochenen Grat zusammengeworfene Felsplatten und Klötze. Nach Norden stürzt der Hang hier schon beträchtlich steil zu einem Gletscherarm, der weiter drunten mit dem zerklüfteten Lentagletscher sich vereinigt. Die lose lagernden, oft vom Neuschnee maskierten Blöcke zwangen mich öfters in die Südseite, in der ich durch lockeres, durch Neuschnee nicht allzu fest verkittetes Blockwerk den Steilhang queren konnte, um kurz unter dem vermeintlichen Gipfel den Grat wieder zu erreichen. Schmale Gratstrecken, ein Riss im Gewänd, dann eine dünne Leiste nördlich, ein Schneegrätchen, schliesslich ungeschlachte Blöcke südseits boten Abwechslung genug. Der reichlich auflagernde Neuschnee über der nach Süden steil abfallenden Kante mahnte zur Vorsicht, nordwärts hingen einige nette Wächten hinaus, was ein prickelndes Balancieren zum höchsten Punkte gab ( 3393 m ). Doch der Blick ins Kanaltal, der sich da erschliesst, zeigte nur wenig ansprechende, nackte Felsberge, so dass ich bald umdrehte, über die preziöse Brücke zum Vorgipfel zurückgehend. Mag sein, dass im Sommer das Güferhorn ohne Neuschneegrätchen und Wächtensaum etwas zahmer ist, mir gefiel jedenfalls der Blick vom Vorgipfel bei weitem besser; die 10 Minuten, die ich hier bei einer Birne und Schokolade zubrachte, habe ich im Rundschauen jedenfalls gut genutzt.

War schon das vortags Geschaute selten klar gewesen, so überraschte mich heute die Ausbreitung des Panoramas ebenso wie die eindrucksvolle Gruppierung desselben. Der Sonnenstand war der günstigste, um die riesigen, das weite Rund begrenzenden Zentralmassive im besten Licht erscheinen zu lassen. Vom Monte Rosa bis zum Ringelspitz, von der Scesaplana bis weit hinab zu den Bergeller und Bergamasker Bergen bot sich ein Meer von Zacken und Kuppen, von Graten und Kämmen, dass einem Uneingeweihten schier schwül werden musste. Gerade aber das hat mir den Aufenthalt auf ragenden Zinnen von jeher so wertvoll gemacht — wer kann wohl Geographiestunden besser erteilen als Mutter Natur. Hier schaut man von erhabenem Stand in den Verlauf bisher unbekannter Täler, studiert die bizarren Verästelungen der Gebirgszüge und lernt immer neue Wunder des Gebirgsaufbaues kennen. Da ist es fast am schönsten, allein zu sein, den Zauber still auf sich wirken zu lassen.

Kurz nur durfte mein Aufenthalt am Güferhorn sein. Nach unvergesslichen Minuten ging 's wieder bergab, dem Balancieren über die schwankenden Gratplatten, das mehr ergötzlich als schön war, folgte ein Hasten in die Lentalücke, wo gottlob die Kameraden noch immer ins Schmausen vertieft waren und sich nur wunderten, dass mein photographischer Seitensprung gar so lange Zeit erfor- dert habe. Was wussten die beiden denn von den Wundern, die mir inzwischen droben erblüht waren. Die Strafe für das lange Ausbleiben sollte nicht fehlen, kaum hatte auch ich mein Urteil über die Schmackhaftigkeit des Brathuhns abgegeben, ward abgerüstet und sofort — vorerst unangeseilt — auf den Firngrat gehalten, der nun in fast gerader Richtung zum Rheinwaldhorn zieht, von dem nach Osten kokett eine Wächte hinaushing.

Der Firn war ausgezeichnet begehbar, nur wenig hatte die Sonne vermocht, die Kruste aufzuweichen, dann folgten Felsen im Grat über den Spalten des Lentagletschers, der rechts von uns talab zog, während links der Blick die Felswand trifft, die in praller Flucht vom Rheinwaldhorngipfel zum Firn gegen Osten stürzt. Am Adulajoch waren wir dank der hindernisfreien Bahn um 4 Uhr 15 und hielten hier einige Minuten, um die traumhaft schöne Stimmung, die im Westen lag, in der photographischen Platte festzuhalten, dann ging 's auf schmalem, ausgeapertem Blockgrat zum Gipfel des Rheinwaldhorns, dessen Steinmann ( 3404 m ) wir 4 Uhr 35 erreichten.

Eine sagenhaft schöne halbe Stunde durften wir auf dieser, alle Adulaberge überragenden Höhe verbringen. So windstill war 's, dass wir ohne Rock, mit offener Hemdbrust im Septemberabend unbeschadet sitzen konnten. Immens war das weite Panorama in der Ausdehnung, prächtig in der Beleuchtung des schrägen Sonneneinfalls, entzückend waren die Verbrämungen, die aus den Tälern heraufquellende Wolkenballen allenthalben schufen und die niedern Gipfel zu verschlingen drohten, dass selbst Basodino und Campo Tencia drüben Mühe hatten, sich des Andrängens zu erwehren. Im Osten dagegen war alles frei, dort ragte in machtvoller Erscheinung der gewaltige Berninastock mit der imponierenden Disgrazia empor. Zwecklos ist 's, andere Namen der Gipfelrunde noch zu nennen, ich weiss nur, dass die Berner und Walliser Riesen unsagbar schön sich boten über dem ewig neu sich formenden, weichen Wolkenteppich. Naturgemäss fesselte die nahe Adulagruppe uns besonders, hier war 's zumal das Zapporttal und der blanke Paradiesgletscher, aus dem in seltener Gleichmässigkeit die mit den tiefen Rinnen wie ziseliert aussehende Zapportpyramide mit dem frechen Wächtenmützchen sich aufschwang. Auch das Lentatal ist weit hinab übersehbar, nur die nach Süd und West ausstrahlenden Kämme liessen sich weniger gut überblicken, ebensowenig wie der untere Brescianagletscher, über den wir ja absteigen wollten. Das war auch der Anlass, dass wir — des kurzen Septembertages eingedenk — um 5 Uhr schon abwärtszogen.

Noch einmal schwelgten wir im Rundschauen über die wogenden Wolkenmassen, denen wie stählerne Klingen die scharfen Konturen blauschwarzer Felsenformen entstiegen. Der letzte Gruss galt dem nahen Güferhorn, das von hier, in abendlicher Beleuchtung gesehen, geradezu faszinierend erschien. Dann wurde über einige verdeckte Schründe abgefahren und die Rucksäcke im Adulajoch bald erreicht. Gleich darauf steuerte ich auf den schlecht maskierten Bergschrund in der Brescianaseite zu, um dann, in die Mitte dieses Eisfeldes haltend, den Gletscher rasch hinter uns zu bringen. Die Spalten dort konnten uns nicht lange aufhalten, der apere Teil ward bald erreicht, und so konnten wir mit etwas mehr Musse den wundervollen Übergang zur Dämmerung verfolgen, der während des Abstieges draussen im Westen sich entwickelte. Eine märchenhaft schöne Stimmung lag da über den Berner Bergen, die gerade im Ausschnitt des Geländes noch hereingrüssten; rabenschwarz hoben ihre Riesenzähne sich vom nach-glühenden Abendhimmel ab. Aber bald hiess es aufgeschaut, das blanke Eis, steiler werdend, zwang zur Vorsicht, doch kaum der glatten Bahn entronnen, hatten wir zu früh triumphiert, denn plötzlich hemmte jäher Felssturz unser flottes Vordringen. Im Eifer des Abstieges hatten wir richtig bereits den Rand der zur Val Soja nahezu senkrecht abbrechenden Felswand erreicht. Wallende Nebel in der Tiefe, daraus leises Wasserrauschen heraufscholl, belehrten uns rasch über die Unzugänglichkeit der glatten Wände, die in der schnell einsetzenden Dunkelheit noch geisterhafter sich ausnahmen. Mühsam mussten nun die eben herabgerasten Moränenhalden wieder angestiegen werden, bis rechts sich eine Möglichkeit bot, den Blockwall zu überschreiten. Eben kam der Mond am Himmel hoch und bot mir ein phantastisches Bild, wie die Kameraden da einzeln auf dem zackigen Wall auftauchten, die scharf umrissenen, vom blassen Mondlicht seitlich beleuchteten Formen gespenstisch in den nachdämmernden Himmel zeichnend. Wenig später entdeckte ich eine Schlucht, die einen Abstieg gegen die Alpe Bresciana ermöglichte. Nach der Steilrinne folgten jähe Halden, wo das Teufels-zeug von Blockwerk Hunderte von Fussfallen im unsichern Mondlicht bereithielt. Schliesslich kamen Graspäcke, wohl in enormer Steilheit, doch linder zur Tiefe führend.

Einmal dort, wo die Val Carasina ansetzt, gab 's ein geruhsameres Wandern im Mondlicht auf dem weichen Almboden, nur die Länge des Weges störte uns noch, denn jeder Buckel, hinter dem wir die Alpe ersehnten, enttäuschte uns immer wieder. So war 's genau 9 Uhr, wie wir den einfachen Steinbau entdeckten, in dem die Sektion Leventina damals eben ein Deckendepot errichtet hatte, um wenigstens auf dieser Seite des Gebirges eine Art Stützpunkt zu haben. Wir waren des einfachen Lagers froh, wenn auch das unruhige Vieh unter uns störend wirkte. Meine Kameraden behaupten zwar, dass ich deswegen nachts gotts-lästerlich geflucht habe, doch ich erinnere mich dieser Rohheit nicht, ein Beweis, dass wir eben todmüde waren.

Wie ich andern Tags als erster das Leiterchen hinabstieg, um einen ermunternden Kaffee zu brauen, war der Morgen schon weit vorgeschritten. Aber das herrliche Wetter zwang mich doch nochmals auf die Höhen, während die Begleiter vorzogen, unterdessen zum Tal abzusteigen. Freund Lisibach hatte mir hier die Cima di Pinaderio empfohlen, und der stattete ich nun in leichtester Toilette — nur mit Pickel und Strahlenfalle beschwert — einen Morgenbesuch ab. Kurzerhand geht es steil in die jähen Grashänge westlich der Alpe hoch, auf halber Höhe wird ein Geisspfad gewonnen, der ein wahres Vorwärtsstürmen erlaubte; viel Zeit blieb mir ja des späten Aufbruchs halber ohnedies nicht. Zirka 350 Meter über dem Talboden ändert sich das Bild. Hier kommt der eigentliche Kamm zum Vorschein, der die Val Carasina vom Brennotal trennt. Ein originelles Hüttchen, ganz aus Felsplatten gebildet, mahnte zu kurzer Verschnaufpause, dann ging 's in Eile weiter höhenwärts. Nur die Wahl in den wenig markanten Punkten des Kammes war schwer, doch kam ich instinktiv auf die rechte Kuppe, die alles überhöht und Cima di Pinaderio benamst wird. An ihrem abscheulichen Blockwerk machte einzig das treffliche rauhe Gestein mir Freude.

Mit einem Schlage öffnet sich jetzt die Tiefe zum Brennotal. Sapristi, zeigten da sich feudale Abstürze gegen Westen. Wohl kannte ich diese Tessiner Eigenart, doch ist der Eindruck immer wieder packend. Durch die obersten Gipfelblöcke mich windend, war der kunstgerecht gefügte, grosse Steinmann auf 2488 Meter Höhe um 845 Uhr erreicht. Staunend stand ich auf der einsamen Zinne, die so unscheinbar drunten wirkt. Wundervoll ist hier der Hauptkamm des Adulamassives zu übersehen. Glitzern lag auf all den Eis- und Firnhalden, über den düstern Felswänden drüben. Auch in die Medelsergruppe nordwärts bot sich hier ein äusserst instruktiver Einblick, gegen die dortige Gletscherpracht fiel der breite Scopi links daneben einfach ab. Und wieder grüsste ich jauchzend die Berner, wieder glänzten die Walliser herüber, aus allen heraus der wuchtige Monte Rosa-Stock mit seinem Ostwandwunder prunkend. Ein Abschied war 's von den Bergen, wie man ihn sich feenhafter, feierlicher nicht denken kann. 0 Einsamkeit, o Bergfrieden und Herbstes Hochlandszauber!

Eine halbe Stunde später ging 's mit Volldampf wieder abwärts. Jetzt kam mir das in südlichen Alpenzügen gewonnene Abstiegstraining zustatten. In 30 Minuten hatte ich die 600 Meter Höhendifferenz trotz der obern Blockbarrikaden zurückgelegt und eilte nun den Gefährten auf dem weichen, den geplagten Füssen sehr wohltuenden Almboden nach. In schwacher Steigung wird bei P. 2022 der Passo di Piotta erreicht, von wo ein Steiglein in einer Unsumme von Kehren längs einer steilen Rinne zu den Almen unterhalb der Val Soja führt. Trotz des rauhen Pfades konnte ich es doch nicht unterlassen, zu den Bergen hinüberzuschauen, die beim raschen Niederkommen bald ganz andere Formen in neuer Gruppierung annahmen. Wie ein Bergfürst hob sich jetzt der Campo Tencia über die Tessiner Genossen in dem schmalen Talausschnitt heraus, dann kam ein kleiner Wald, der willkommenen Schatten spendete. Gemeinschaftlich schritten wir nun zur ersten Alpe, wo treffliche Milch uns labte. Hier lag das Hüttenbuch der Alpe Bresciana auf, doch wies es wenig Eintragungen auf. Oscar Schuster, ein begeisterter, zäher Schweizerfreund war wenige Tage vor uns in gleichen Spuren gewandert.

Gemächlicher ging 's nun das grüne Sojatal hinaus, dem man es hier gar nicht ansah, dass es droben so wild und unzugänglich sei. Heisser ward 's, Kastanienwaldungen nahmen uns auf, wundervolle Rahmen zu den netten Bildern der Dörfer drunten im Brennotal gebend, dann kam der wunderschöne Rückblick auf den spitzen Sosto bei Olivone, und schliesslich half auf der Talsohle uns gestohlenes Obst über den ärgsten Durst hinweg, bis endlich ein biederer Rosselenker sich unser erbarmte und uns auf Nebenwegen bis Acquarossa mitnahm, dieweil auch hier das Unwetter die Hauptpoststrasse zerstört hatte. Leider waren die Bierflaschen seines Wagens bereits leer. Doch in Biasca, wohin uns später die eidgenössische Post befördert hatte, entschädigten wir uns für diese Fopperei.

Die Adulafahrt war zu Ende, begeistert kehrten wir zurück von der Streife durch ein Gebiet, das in seiner Entlegenheit, in seiner Herbheit und der wundervollen Einsamkeit eben solch grossen Eindruck uns hinterlassen, wie die prächtigen An- und Aussichten, die allenthalben von den Gipfeln auf die beidseitigen Hauptmassive sich boten. Heute ist dieses Gebiet um vieles leichter zugänglich, besonders die letzten Jahre haben eine wahre Erschliessungswelle dort hinein-gespült. Eine Anzahl Hütten geben treffliche Stützpunkte, aber noch immer werden jene, die zu dem Ursprung des Rheins und seiner Quellflüsse wandern und steigen, dort höchste Befriedigung finden. Vivant sequentes!

IL Aus den Medelser Bergen.

Einen überraschenden Siegeszug hat in den letzten zwei Jahrzehnten der Ski durch die schweizerischen Hochlande gehalten. Mehr und mehr wurden weite Gebiete erschlossen, die bisher im Winter kaum je beachtet waren, und in den beliebtesten Gegenden war der Zulauf der Skijünger derart stark, dass die, welche die Bewegung eigentlich grossgezogen hatten, sich verdrängt fühlten und gern andere Gruppen aufsuchten, die der grossen Masse noch unbekannt geblieben. Das war auch für mich der Grund, mit Ski einmal in die Medelsergruppe einzudringen, in der kürzlich vom S.A.C. eine Klubhütte errichtet worden war.

Wohl ist der Anmarsch etwas lang, aber was verschlägt das einem ehrlichen Bergfreund, wenn er mit hoher Einsamkeit seine Mühen dann belohnt findet. Ich selbst hatte ( 1914 ) nur 18 Stunden Schnellzugsfahrt abzusitzen, um von Brüssel, das mich damals beherbergte, wieder einmal in die so lang ersehnten Berge zu kommen. In Basel trafen drei Kameraden zu mir, so dass die Fahrt bis Chur nicht langweilig ward, um so mehr überall die alten, trauten Formen der winterlichen Berge über dem grünenden Vorland zum Coupéfenster hereinschauten.

Als wir dann auf kurzem Bummel oberhalb Chur Ausschau hielten, lag über dem weiten Rheintale schon Frühlingsahnen. Apere Talsohlen, sprossendes Grün und schüchterne Blüten um das da drunten so reizend gelegene Hauptstädtchen Graubündens kontrastierten seltsam zu den riesigen Schneehalden, die noch droben am Calanda leuchteten und unser Hoffen auf Skifreuden wieder mächtig stärkten. Dann trug uns das Züglein der neuen Vorderrheintalbahn weiter durch all jene prachtvollen Schluchten, die früher selten jemand bewundern konnte. Ernster ward die Gegend, schon war das Somvix passiert, über dem der Piz Mundaun uns den ersten Gruss der Medelsergruppe entbot, dann begann bei Disentis die Wanderung für uns.

Hier, wo das imposante Klostergebäude auf hoher Berglehne weit in die Rheintallandschaft hinausleuchtet, begriff ich, dass Pater Placidus a Spescha von all den lockenden Berggipfeln die Anregung zu seinen klassischen Besteigungen empfangen hatte.

Auch uns zog es ja jetzt mit Macht aufwärts, und rasch Rucksäcke und Ski der Post anvertrauend, pilgerten wir sorglos und bürdefrei hinab zum Rhein, drüben die zum Lukmanier hochführende Zweigstrasse einhaltend. Selten gingen wir so frei und leicht und genossen deshalb doppelt die zahlreichen Schönheiten, die hier auf dem interessanten Marsche längs der Schlucht des Medelser Rheines sich bieten, bis nach den vielen romantischen Tiefblicken und Strassentunnels flacherer Wiesengrund erscheint, über dem eine elegante Firnpyramide, der Scopi, sich recht wirkungsvoll aufbaut. Nicht unerwähnt soll hier die Unterhaltung mit dem uns gefolgten Postkondukteur sein, der die von uns so hoch gepriesenen Berge langweilig fand, die Stadtfreuden suchte und nicht begreifen konnte, dass man aus ihrem Banne mit 20stündiger Bahnfahrt sich zur Natur zurückretten wolle. Suum Cuique!

Schon waren die Rudimente des alten Römerpfades drüben passiert, als nach der letzten Kurve im Wiesengelände die zerstreuten Häuser von Curaglia, dem Hauptorte des Tales, erschienen, wo wir im « Lukmanier » kurze Rast hielten. Mehr als Eier Zwischen Rhone- und Rheinquellgebiet.und Kaffee konnten wir in dem einsamen Winkel, in den damals wintersüber höchstens ein paar « verrückte Skifahrer » kamen, nicht erhalten, doch uns war 's völlig genügend. Inzwischen wurde das Gepäck verteilt und nicht vergessen, etwas Veltliner « als Arznei » mitzunehmen, dann begann der Ernst des Anmarsches.

Schon lag Dämmerung über dem weiten Tal, als wir am Kirchlein vorbei die stotzigen Hänge zum Hochwald am Stagiasgrat anstiegen, manchmal ob der ungewohnten Last schwer schnaufend, bis allmählich System in die Vorwärtsbewegung kam. Schütterer Wald ward gequert, über dem ab und zu der Piz Muraun hereinschaute, bis mit dem Überschreiten des breiten Stagiasrückens wir in die Val Plattas schauen konnten. Bis hier zu Fuss steigend, zogen wir nun die Ski an, denn der Schnee war unzuverlässig und wollte nicht tragen. Unverdrossen querend ward die erste Alm im Tal erreicht, über der vom Muraun herab bereits Mondlicht floss. Auch draussen im Vorderrheintale lag längst Vollmond, nur wir selbst wanderten noch im Bergschatten, der gottlob die Schneehalden weiter festigte. Über einige Lawinenzüge ging 's nun weiter das Tal aufwärts, wo wir die Felle anlegten, denn das Kratzen auf den harstigen Hängen ward nachgerade unleidlich. Langsam war unterdessen der Mondschein an der Talwand herabgeglitten, und bald darauf lugte der Rand der silbernen Scheibe fürwitzig über die Höhe des Plattasgletschers auf das nachtwandelnde Quartett herab. Eine prachtvolle Stimmung verbreitete sich jetzt beim Weiterwandern im stillen Tal; droben die steilen, schwarzen Berge in weisse Schneegewänder gehüllt, mondübergossen, vom ruhigen sternflimmernden Firmament überwölbt, drunten im Tal geheimnisvolle, schwere Schatten hart neben silbern aufleuchtenden Harstflächen; so ging 's im steten Genuss mählich weiter, fast immer dem Bachlauf folgend, der, tief verschneit, uns beste Bahn zum Höherkommen bot. Wohl waren ein paar mächtige, vom Caschleglia herabführende Lawinenzüge zu passieren, doch die nächste Felsbarre des Tales konnte uns nicht mehr bluffen; bequemer als gedacht ward sie umgangen und, jede Bodenwelle klug ausnutzend, die grosse Weitung der Alpe Sura erreicht.

Wenige Minuten Halt gaben uns hier rasche Orientierung. Im Vorblick hängt steil der Plattasgletscher herab, aus dem der Felszahn des Rifugio Camotsch als bester Markierungspunkt sich reckt, rechts engte der Stagias de Plattas das Tal ein, vom Piz Buora mächtig überhöht, während linker Hand die steile, in schweren Schatten liegende Felswand des Fillung Wacht in den Bergen um die Lavazfurkel hielt, deren Kante bereits deutlich zu erkennen war. Nach der Karte hatten wir noch ein beträchtliches Stück Arbeit bis zu ihr zu rechnen. Um so mehr überraschte uns das flotte Fortkommen, das dank der gutgreifenden Felle auf den harten Hängen trotz der oft beträchtlichen Steigung möglich wurde. Wieder tauchten wir in den breiten Schatten des Fillung, nur der Rückblick auf den nicht mehr fernen Gletscher wies uns eitles Mondlichtgleissen, in dem jede Spalte des Bruches gut erkennbar war. Noch einmal baut in der Talverästelung sich ein unangenehmer Absatz quer vor, der zum Ablegen der Ski zwang. Doch war die Stelle kurz, die Passschwelle nahegerückt, und um 1 Uhr 30 standen wir vereint auf der Lavazfurkel vor dem neuen Hüttlein, das, zweigeteilt, sehr praktisch eingerichtet ist. Bald waren wir darin heimisch, und trotz der späten Stunde ging 's noch lebhaft zu, denn der Anstieg hatte doch Durst und Hunger verursacht.

Heller Mondschein hatte uns zur Ruhe begleitet, strahlende Wintersonne grüsste uns 4 Stunden später. Ein wundersames Leuchten lag über dem österlichen Bergland. Unser Sinnen stand nun sofort nach dem mit den wenigen Spalten lockenden Plattasgletscher. Doch mein Plan, direkt anzugreifen, fand wenig Gegenliebe, weshalb die Lavazflanke vorgezogen und — leider sehr spät — um 10 Uhr jenseits abgefahren ward. Dort sendet der Fillung einen steilen Felssporn herab, der mit Fellen an den Ski angegriffen ward. Schon zogen hier teilweise beträchtliche Rutschbahnen, Schneeschlipfe, talwärts, doch einmal in steilen Kehren angestiegen, tat es uns leid, Höhe zu verlieren. Auch sah der Abstieg zum Lavazgletscher über die Felswände und Couloirs wenig vertrauenerweckend aus. Wir beschlossen darum, die einmal angeschnittenen Steilhänge zum Fillung weiter hinanzusteigen. Für Nachfolger sei ausdrücklich betont, dass sich dies nicht immer empfiehlt. Wäre nicht der Bombenschnee jener Tage gewesen, den das Wetter der Vortage gefestigt hatte, so wären wir wohl damals nicht so glimpflich davongekommen; jedenfalls ist ernste Warnung vor Wiederholung bei zweifelhaftem Wetter hier am Platze. Zwei Tage später sahen wir übrigens unser Misstrauen bestätigt. Vorerst aber stiegen wir tapfer an den steilen Schneelehnen hoch, der jähe Hang zwang zu kurzen Kehren. Es wäre interessant gewesen, ihre Zahl festzustellen, denn der Hang wollte schier nicht enden, und nur die prächtige Gestalt des Piz Valdraus, der über dem Lavazgletscher uns ständig zuschaute, lenkte von den Aufstiegsmühen etwas ab. Auch die im Süden lagernde und stetig dort neu angreifende Föhnmauer fesselte unser Augenmerk mit den ewigen Neubildungen des Gewölks, das immer wieder versuchte, auf unsere Seite überzugreifen. Nachdem unsere Versuche, südlicher vorzudringen, durch den kalten Südwind und die immer steilere Hangformation vereitelt wurden, hielten wir, zum Fillung zurückgedrängt, wenig unter seiner Höhe endlich eine Rast, denn die ununterbrochene, scharfe Steigung ging allmählich doch in die Glieder. Schon war auch die von der Lavazfurkel nordwärts ausstrahlende Kette unter den Horizont gesunken. Frei flog der Blick dort über Caschleglia, Stavelatsch, Muraun und Rentiert hinüber zu den über dem tiefen Vorderrheintal aufwuchtenden Massiven des Tödi und Biferten, dem Vorab, Ringelspitz und Calanda getreulich sekundierten. Reizvoll war von unserem Rastplatz der Tiefblick in die waldige Senke des Somvix, das wie ein still behütetes Geheimnis uns anmutete. Die Augenweide an jenem strahlend schönen Mittag dort droben werden wir alle lange nicht vergessen, grüsste doch manch anderer lieber alter Bekannter aus den Glarner, den Urner, den Bündner Bergen, die hier nicht mit Namen angeführt werden können.

Eine fröhliche Überraschung ward uns ausserdem zuteil. Jeder der vier hatte die Kameraden mit etwas Angenehmem überraschen wollen, und wie es hier zum Klappen kam, entstiegen den Tiefen unserer Rucksäcke 4 Behälter, die alle einen Reispudding enthielten. Die Überraschung war also jedem einzelnen von uns glänzend gelungen, und dass trotz der Menge die kühlende Speise grosse Gegenliebe gefunden, bewiesen die wenigen Überbleibsel, als wir kurz darauf neuerdings die Ski höhenwärts richteten, den Fillung bald darauf erreichend. Ohne auf seinem Gipfel zu verweilen, fuhren wir drüben sofort in das sich öffnende Wunderland der blendenden Weiten und tiefen Schatten, wie sie im Medelsgletscher uns magisch anzogen. Ein herrliches Skigelände, dem nur wenige Zwischen Rhone- und Rheinquellgebiet.markantere Felsgipfel entragten, lag frei vor uns, einzig der Piz Medels hob sich aus all dem mächtiger heraus. Zwei der Kameraden eilten ihm bereits entgegen, als ich mit Freund August noch ein wenig seitwärts schwenkte, um vom Camadrapass einen freiem Blick nach Süden zu erhaschen.

Ein fabelhaftes Panorama entwickelte sich jetzt während dieses Bummels. Wunderbar blaute im Westen der Berner Recken Schar herüber. Immer wieder ist 's doch die untadelige Form des Finsteraarhorns, das am meisten anzieht und dem das Gerüst der Schreckhörner Gesellschaft leistet. Doch warum soll ich hier all die andern Bergfürsten anführen, wo es uns damals nur darauf ankam, die herrliche Gruppierung, die einzig schöne Beleuchtung richtig aufzunehmen. Ob's Urner, Maderaner oder Glarner Gipfel waren, blieb uns Hekuba; wir kannten ihre Formen wohl, freuten uns ihrer und der ungeheuren Weite, die so wuchtig die Allgewalt der Natur predigte, und waren des zufrieden auch ohne weitere Zerlegung der Empfindungen. Wie prachtvoll bildete doch da zum Beispiel das waldige Rheintal eine famose Kante zu der jäh absinkenden Gletscherflucht, über all dem wieder die Riesenkonturen auftauchten und mit zackiger Bordüre sich in den tiefblauen Himmel nordwärts schoben. Kaum liessen einige wenige Siedlungen gegen den Oberalppass erkennen, dass selbst in dieser grandiosen Einöde noch Menschen existieren konnten. Und nun durfte ich auch Freund August vom Camadrapass die mächtige Bernina zeigen, die über den im Süden lagernden Föhnwolken deutlich sich abzeichnete. Genau war der feine Strich des Biancogrates zu sehen. Sei mir gegrüsst, Land schöner Erinnerungen!

Doch nun hurtig den Gefährten nach, die bereits unterm Gipfelbau des Piz Medels angelangt waren. In geschützter Mulde gemeinsam einen grossen Haken schlagend, ward hoch droben der Grat erreicht, von dem der Gipfel in wenigen Minuten über einen etwas verwächteten Kamm erreicht wird. Ohne Ski wurde diese letzte Strecke zurückgelegt, weit ward das Sicherungsseil im Bogen über den verwächteten Grat getrieben, als die kleine Karawane zum Steinmann balancierte, doch der eisige Wind sorgte für baldige Umkehr, da uns die Gipfelrast am Skidepot gemütlicher dünkte. Ausserdem war hier die Aussicht bei weitem malerischer; denn der aus der Gletschertiefe sich über den Schründen aufbäumende Gipfelturm des Piz Medels mit seiner spiegelglatten Firnwand gab mit dem im Westen freigewehten Felsensaum eine so prachtvolle Silhouette, dass die ganze weite, dahinter sich präsentierende Ferne wundersam tief und reliefartig erschien.

Weit draussen lag da die westliche Schweiz, ihren südlichen Teil bis zur 3000-Meter- Grenze ganz im gehäuften Gewölk vergraben, über dem die machtvollen Gestalten des Wallis aufragten. In grossem Abstand vom Monte Rosa, dem Mischabel- und Weisshornstock, der hierdurch so recht die Beträchtlichkeit des Rhonebeckens kennzeichnete, folgten dann die Berner Berge, so schön angeordnet, wie selten zu schauen. In kaum erreichter Klarheit pries jeder der Berge seine Vorzüge, zu weitern österlichen Fahrten verlockend. War's ein Wunder, dass unsere lichthungrigen Augen besonders gern an diesen Gipfeln hingen, die einst bei achttägiger, vom herrlichsten Wetter begünstigten Osterfahrt uns ungezählte Wunder alpiner Majestät und Bergschönheit geboten hatten! Und schaut dort, mitten im Wolkengewühl über dem Rhonebecken, wo ein paar Spitzen mit den andringenden Föhnbegleitern hartnäckig ringen, zeigt der Blindenhornstock eben noch den für lange Abfahrten unvergleichlich schönen Griesgletscher. Welche Erinnerungen bot das kleine, wenig genannte Massiv mir, der ich erst nach öfterem Werben vor wenigen Monaten im Sturmlauf den rauhen Gesellen ob dem Griespass doch noch überlistet hatte. Heissa! Winterfahrt im Hochland, wie ist sie köstlich, wenn goldne Sonne alles Geschaute überflutet, wenn weicher Wolkenteppich die Fussgestelle der grossen Berge umschmiegt und mit seinen fortgesetzten Neubildungen, mit der Pracht schneeiger Weiten und blauen Schatten der Phantasie Spielraum lässt.

Kurz war der Aufenthalt auf der Spitze gewesen. Etwas längere Zeit erforderte schon der Genuss der Rast am Skidepot, wo das Abziehen der Felle, die Vorbereitungen zur Abfahrt immer wieder Vorwand gaben, die unsagbar schöne Rundsicht von neuem zu bewundern, bis der rauhe Wind uns schliesslich doch wegtrieb. Als Erster war ich in einigen Bogen vorausgeglitten zum Fusse des Berges, rekognoszierend, ob man nicht besser gleich einen der wundervollen Skiberge weiter westlich angehen sollte. Die aus dem flimmernden Gletscherfeld dort sich mit tiefen, blauen Schatten, mit scharfen Linien heraus-hebenden Piz Ufiern, Cristallina und Cima Camadra waren gar zu verlockend. Aber wir wollten nicht übersättigt werden und wie jetzt aus der Gefährten kleiner Schar droben am Grat eine Gestalt sich löste, in Bogen die steile Mulde durch-hastend, in atemloser Fahrt mit tadelloser Haltung den Schnee pflügend, mir entgegensteuerte, um gleich darauf im Doppelschwung die Fahrt zu stoppen, da riss auch mich der Skirausch mit und vereint ging die wilde Jagd nordwärts über die hier flacher abfallenden Gletscherflächen. Vergessen war Sonnenzauber und wundersame Aussicht, Sporteifer war erwacht, Ehrgeiz wurde angestachelt und hopp, hopp ging 's über die Wehen, Welle auf Welle des Geländes nehmend. Neue Senken taten sich auf, endlos schien die Fahrt, in den Ohren brauste der Luftdruck. Die Augen spähten scharf, jeder Nerv war gespannt, jeder Muskel sofortiger Umstellung gewärtig, doch vorwärts, vorwärts hiess es, solange die weite, weisse Fläche noch unzerrissen vor uns lag.

Endlich verflacht auch da sich der Hang, doch dort, wo in elegantem Schwung der Firn plötzlich zur Tiefe setzt, beginnt der Plattasgletscher, und hier ist jetzt Vorsicht geboten, zeigt doch die Karte ganz anständige Verschrundung. Aufatmen geht durch unsere kleine Schar, die sich rasch hier sammelt. Welche Fahrt war das im Vergleich zu den ersten, schüchternen Versuchen, alpine Gegenden anzugehen zu einer Zeit, als noch keine Erkenntnis der Technik die Autodidakten beschwerte. Doch freuen wir uns der Entwicklung und eilen weiter! Einige vorsichtige Kehren leiten abwärts, doch die unheimliche Tiefe, die nur der steil-kantige Absturz des Fillung uns zur Seite ahnen lässt, ist noch immer nicht zu übersehen. So nehmen wir, durch schwere Erfahrungen gewitzigt, auf der folgenden Strecke das Seil, da gerade dort, wo das Rifugi Camotsch mit dem Fels mitten im Eis uns Orientierung geben soll, Nebelschleier lagern. Da lastet die Ungewissheit stark auf uns, denn die vermuteten Spalten sind nicht sehr zahlreich. Trotzdem geht 's in einer Cordata durch die Crevassen hindurch, wenn es auch ein jämmerlich Werk bleibt, so gehemmt talwärts zu gleiten. Der eine Genosse kennt diese Fahrweise noch nicht, damit öfters Anlass gebend, dass die Gefährten ob der unerwarteten Rucke weidlich schimpfen und froh sind, dass die gegürteten Lenden den plötzlichen Zügen widerstanden haben. So geht 's eine Weile hinab. Spalten treten jetzt weniger auf, schon ist die lokale Nebelregion ob uns, da reisst dem Freund August die Geduld. Wütend befreit er sich vom Seil und jagt in schnurgerader Fahrt die grosse Mulde vor uns hinunter, ein Bild von Zielbewusstsein und Sicherheit, gepaart mit Kraftgefühl, das aneifert. Noch einmal plagen wir drei andern uns ehrlich ein Stück weiter, dann vergeht auch mir der Spass. Unser Neuling muss zur Strafe das Seil tragen, dann geht die Einzelfahrt um die Wette in prachtvollen Bogen hinab, hinab. Abfahrtsrausch kommt wieder über uns, kaum achtet man der wenigen vorbeigleitenden Spalten, Schwünge und Bogen sitzen im kaum angeweichten Schnee wundervoll, dass wir im Nu einige hundert Meter Höhendifferenz hinter uns bringen.

Jäh sinkt jetzt das Gletscherende zu Tal, schon ist die Alpe Sura drunten sichtbar, da entsinne ich mich der dort schwer passierbaren Steilhalden und dränge die Gefährten nach rechts. Wohl ist da das Gewände des Fillung über uns ungemein steil, doch der Bombenschnee verspricht auch hier zu halten, und so wagen wir nach kurzer Debatte eine Traverse, die ich sonst nie gutgeheissen hätte. Mit 50 Grad Neigung ( die Photographie bezeugt es !) setzt hier unter dem Fillung ein felsdurchsetztes Schneeband an, um die Ecke in den obersten Tobel leitend, der zur Lavazfurkel führt. Schon ist dort drüben die Hütte sichtbar. Also vorwärts auf diesem einzig möglichen Ausstieg. Auch Freund August spekuliert 100 Meter weiter unten am Rande der hohen Wand auf ähnlichen Durchschlupf. Nun wagen wir 's, zu traversieren, sehen, über uns blankes Eis blinken, gehen vielleicht gar mit dem Spaltenverlauf, kommen aber doch im festen Firn glatt hinüber zu einem mächtigen Schneehang, wo keine Wahl mehr bleibt. Hier müssen sogar die Ski ausgezogen und die ärgste Strecke zu Fuss, das Gesicht an der Wand, herabgestampft werden. Wer hier ungenagelte Schuhe hat, wird gleich mir erbauliche Gebete murmeln, die mir die ungemütliche Situation auspresste. Längst hatte unterdessen Freund August seine Traverse unten durchgeführt, lag auf sonnigem Fels und schaute unserem Beginnen zu, das, wie er später behauptete, ganz unmöglich ausgesehen habe. Doch wir stapften unverdrossen, und als endlich die den Hang durchsetzenden Felsen weniger zahlreich auftraten, wagten wir 's, die Ski wieder anzulegen und den Steilhang anzuschneiden. Ein Wunder blieb es auch hier, dass kein Rutsch erfolgte. Es sei dies immer wieder für Nachfolger betont.

Wer all diese Fährlichkeiten hinter sich hat, wird ebenso aufatmen wie wir, als wir endlich wieder an der Hütte vereinigt standen. Der Rest des Tages ward gemütlich in der Hütte und ihrer nächsten Umgebung verbracht, denn nach solcher Fahrt sitzt sich 's bei glimmender Pfeife gar herrlich vor der die Sonnenwärme rückstrahlenden Hüttenwand, angesichts der leuchtenden Weiten. Ehe man sich 's versieht, sind die langen Schatten zur Dämmerung geworden, und der heraufziehende Abend übergiesst mit seinem Frieden den herrlichen Ausblick, den man nach Westen hat, wo neben den Bergen der lockenden Dammakette noch mancher prächtige, in der Gilde der Alpenskifahrer unbekannte Berg mit weissen Kanten über blauschattenden Wänden lockt. Lang noch zitterte der Widerschein des Sonnenuntergangs über dem Westen nach, bis auch da die Nacht hereinbrach und die Kälte uns in die Hütte trieb. Wenige Stunden später fesselte uns gleicher Zauber wie tags zuvor — weiss glitzernde schneeige Hänge mondübergossen weitum; in stummem Bewundern geniesst man die Grösse der Natur, die hier oben noch schläft, derweil sie drunten in den Tälern sich schon zum Wiedererwachen rüstet.

Seltsames bot uns der nächste Morgen mit dem Thermometerstand, der kaum Gefrierpunkt zeigte. Ob jetzt der erwartete Wetterumschlag schon kam? Diese Unsicherheit verzögerte noch mehr den Aufbruch, der ohnedies durch die wohlige Müdigkeit, die vom Vortage her noch nicht ganz behoben, ebenso aufgehalten ward wie durch die gute Unterlage, welche solch lange Fahrten erfordern. Nun — 10 Uhr bereits wieder — langte es allerdings nicht mehr zu einem Neu-anstieg über die berüchtigte Abstiegsflanke am Fillung. So einigten wir uns rasch zur Lavazseite, über die wieder ins Medelserbecken eingedrungen werden sollte, denn das wundervolle Skigebiet dort hatte es uns angetan; die wundersamen, schweren, blauen Linien der Gipfel über den strahlenden, fast spaltenfreien Gletschern waren uns recht im Gedächtnis geblieben. Doch es kam anders. Noch lag der Steilhang gegen den Lavazgletscher im Bergschatten und war trotz der höhern Temperatur schwer verkrustet. Die Abfahrt dort hinab war wohl flott, doch anstrengend, so dass jeder froh war, von da neue Stufen gegen den Gletscher hochsteigen zu können, dessen Oberfläche dann durch eine Steilrinne verhältnismässig leicht zu erreichen ist.

Heute würden auch wir uns nicht mehr über jenen Steilhang am Fillung hinaufgetraut haben, es liegt eben in der rechtzeitigen Erkenntnis der objektiven Gefahren viel Instinkt, dem ein tüchtig Quäntlein Erfahrung langer Jahre beigemengt werden muss. Seltsam schien uns nur, dass auch hier wenig offene Spalten zu sehen waren, wo in elegantem Schwung der Gletscherbruch zur Tiefe setzt. Es müssen, genau wie am Plattasgletscher, ungeheure Schneepolster gelegen haben, die uns hier wie dort müheloses und sicheres Fahren erlaubten.

In grossen Serpentinen zogen wir nun am linken Begrenzungshang hoch. Die Steigung tat uns jetzt nicht mehr viel, um so mehr aber die infernalische Hitze, die über dem von hunderttausend Reflexen durchkreuzten Firnkessel lagerte. Unser erstes Ziel, der Piz Valdraus, im Anstieg noch klar seine schöne Pyramide zeigend und einen guten Wegweiser abgebend, war inzwischen von leichtem Nebelgewand verkleidet, doch konnten wir kaum mehr abirren, wo einmal die Richtung feststand. Eigentlich war die nach und nach aufkommende, schwache Bewölkung uns nicht unlieb, denn bei vollem Sonnenschein wären wir in diesem Hexenkessel lebendigen Leibes gebraten worden. Kein Schatten, keine höhere Stufe unterbrach den gleichmässigen Fluss des Gletschers, den wir bis zum obersten Becken verfolgten. Willkommener wäre uns schon der starke Wind des Vortages gewesen, doch unsere Seufzer nach ihm verhallten ungehört in der Firnwüste. Ich selbst musste über die graue noch eine dunkelblaue Brille tragen, um die durch das diffuse Licht noch gesteigerte, enorme Blendung ertragen zu können. So drängte allein schon der Wunsch nach beweg-terer Luft uns höher. Als wir dann den benachbarten Steilgletscher rechter Hand sahen, über den wir ins Medelserbecken dringen wollten, verzichteten wir gern auf die zu erwartende Schinderei über diesen Steilhang, der zahlreiche, schlecht verschneite Spalten aufwies, und zogen wortlos links hoch. Dort führte ein Seitenarm des Gletschers uns zu einer Art Furkel im Kamm, wo man auf die Südseite der Gruppe übertritt. Von hier sieht man nun des Piz Valdraus schwächste Stelle, der von Nord und West so unzugänglich erscheint, denn ein gemächliches Firnbecken leitet gut zum Kamm zwischen Valdraus und Gaglianera, hinter der noch der Piz Vial vorschaute und uns aneiferte, die nach Süden sich erschliessende, gänzlich neue Aussicht von höherer Warte noch besser zu übersehen.

Während die Gefährten voraneilten, stand ich lange hier und studierte die Gegend, nach der es mich schon lange Jahre gezogen hatte. Nie war es mir bisher möglich gewesen, in jene entlegenen Gebiete zu kommen, in denen der Piz Terri herrscht und zu denen die verlassene Greina den Vermittler abgibt. Beides erschloss sich mir hier mit einem Schlage, und ich freute mich um so mehr über die den meisten verschlossen gebliebenen Wunder. Ein feiner Schneespitz, so zeigt von hier sich der Terri, vor ihm der Piz Güda wie eine breite, weisse Wand sich aufbauend, drunten liegt jetzt die wegen der Ostalpenbahn so vielgenannte und doch wenig begangene Greinapasssenke, von der eine Talfalte zum Tessin sich zieht, wo bei der Ausmündung ins Brennotal der Sosto mit seinem schnee-gezeichneten Spitzrücken sich originell abhebt, ein eigenartiger Herr, wo man ihn auch immer sehen mag! Wundervoll bot sich hierzu als Hintergrund der gesamte Rheinwald, die schneeigen Scheitel durch herausdrängende Wolkenballen noch gehoben.

Doch die Freunde sind schon weit voraus, auf zum Gipfel. In langen Schleifen ward da das breite, obere Firnbecken erreicht, bequemer als die andern, die im Steilhang gegen Lavaz herumkratzten, hielt ich auf die Lücke zwischen Gaglianera und Valdraus zu und hatte das nicht zu bereuen, denn von da konnte ich mit den Ski an den Füssen auf dem gutmütigen Kamm bis auf wenige Meter unter den Valdrausgipfel gelangen, wo die Gefährten bereits in Osterandacht versunken sassen.

Der Platz droben ist eng, denn nach Nord und West stürzt das Gewänd « teil ab. Der Blick in die Taltiefe war interessant, wenn auch eine leichte Trübung der Luft heute alles in beträchtlich weicherem Lichte erscheinen liess. Doch die gestern geschauten Wunder waren so lebhaft ins Gedächtnis eingegraben, dass wir das gern hinnahmen, an den neuen Ausschnitten des Landschaftsbildes uns jetzt erfreuend. Das Medels östlich des Camadrapasses lag offen vor uns, erst jetzt sahen wir so recht die Steilheit der Trasse drüben am Fillung, wie sie in engem Raume zum Gipfel sich hochwand. Trotz der Dichtigkeit der Luft konnte ich doch neben dem Piz Medels meinen Genossen noch den kecken Campo Tencia zeigen, den ich seit meiner Herbstfahrt da drüben ganz besonders ins Herz geschlossen hatte, selbst bis zum Ghiridone am Langensee konnte man schauen, dann hinderte der Dunst der Lombardei den Weiterblick. Und wieder schnellt der Blick am Berghang hoch, trifft den massigen Rheinwald und gleitet, seinen ausgedehnten Konturen folgend, über den Piz Terri zum seltsamen Greinaboden, der all denen, die tiefste Einsamkeit suchen, nur empfohlen werden kann. Ob die beabsichtigte Greinahütte eine starke Erhöhung in der Zahl der Besucher jenes stillen Winkels bringt, mag dahingestellt sein, doch die Erbauer werden sich den herzlichsten Dank all jener sichern, die Ursprünglichkeit zu schätzen wissen und Bergeszauber auch in unaufdringlichen, aber zu Gemüte sprechenden Landschaftsbildern finden.

Eine wundervolle Gipfelstunde erlaubte uns heute die völlig unbewegte Luft. Schöner konnten wir Osterandacht nicht halten, wo ringsum alles noch in Winters Banden lag und doch aus den Tälern schon das Grün heraufzuleuchten begann, von schmeichelnden Winden geweckt, von schöpferischer Sonnenwärme und talab jauchzenden Wassern genährt, Auferstehung überall predigend, dass auch die Seele leicht und licht ward, all das kleine Menschenwerk — hier völlig versunken scheinend — zurücktrat gegen die Allgewalt der ewig sich erneuernden Natur.

Der weichen Stimmung, durch den feinen Dunstschleier, der leichten Wolken Zug gefördert, überliessen wir uns lange, bis wieder der Donner einer Lawine uns ermunterte. Rast ich, so rost ich, so mochten wohl die Kameraden denken, die noch zur Gaglianera hinüberwollten. Der kecke Spitz, der so ermunternd herüberschaute, hätte auch mir es angetan, doch mit den geliehenen, schlecht sitzenden Ski, den nagellosen Skistiefeln mochte ich auf dem steil anschwin-genden Grat den Freunden keinen Aufenthalt bereiten und blieb, dieweil sie zu dritt den Berg über die Westkante angingen, im Sattel zwischen beiden Gipfeln liegen, in den eine schneidige Bogenfahrt uns bald gebracht hatte. Müde des Genossenen lag ich hier hinter der kleinen Wächte und träumte in die laue Luft, wunschlos die Zeit verstreichen lassend, nur halb bewusst die Geräusche der eifrig in Eis und Fels kratzenden Genossen vernehmend, dann wieder zum sonnübergossenen Süden ziellos blickend, mit Bedauern einer Reihe im Unterland verbrachter Jahre gedenkend. Doch da säuselt der linde Bergwind: « Willkommen, dass du wieder bei uns bist », liebkosend streichen Wolkenschatten über die heissen Gesichtszüge, die Sonne wärmt die müden Glieder, das Auge, vom Glast im Vordergrund geblendet, flieht in die dämmernde Ferne, wo der Schnee bläulich schimmernde Schatten zeigt und die Taltiefen schon den nahenden Frühling ahnen lassen. Köstlich ist solch Nirwana. Bedankt seid, ihr Berge, ihr habt mich wieder reich gemacht.

Erst die zurückkehrenden Gefährten brachten mich zur Wirklichkeit zurück, und nun folgte das Köstlichste, was das Medels uns allen geboten hat. Vereint schossen wir die Gletschermulde südwärts hinüber zu der kleinen Furkel, die vom Lavazfirnbecken trennt, von der nach kurzer Traverse eine atemberaubende Fahrt in den Gletschergrund sich bot, deren Wonnen einfach nicht zu beschreiben sind. Sorglos durften wir die Ski hier laufen lassen, hatte doch bereits der Anstieg uns die Geheimnisse des ganzen Beckens enthüllt. Nun ging 's mit Brausen hinab, eine Welle des Firns nach der andern in tollem Tempo nehmend. Tief in den Knien liegend, um die zahlreichen Gangeln und Verwehungen meistern zu können, trieben uns die eilenden Schneeschuhe immer rascher vorwärts, links und rechts floh das Gebirge nur so vorbei, das Brausen in den Ohren schwoll immer stärker an. So genossen wir in völlig sicherer Fahrt den Abfahrtsrausch, wie schon seit langen Jahren nicht mehr. Zwei, drei querlaufende Spalten wurden mit langquertreibendem Schwunge rasch umfahren, bis endlich ein schlecht verwehter Eisriss vor mir mich die Ski in die Mulde unter der Moräne reissen liess. Offen lag jetzt das steil abfallende Gletscherende da, unter dem sich schon die Gefährten sammelten, die mit gutführenden Ski noch höhere Wonne durchkostet hatten. Letzte Schussfahrt brachte mich rasch an ihre Seite. Hochaufatmend schauten wir dann zurück, wo inzwischen die Sonne den feinen Dunstschleier aufgesogen hatte und alle Geländeformen weitum aufleuchten liess. Gleissend lag das Gehänge unter der Lavazfurkel jetzt vor uns, mit mäch- tigern Gestöhn und zusammengeraffter Energie ging 's in langen Kehren die hitzebrütenden Halden zur Hütte hinan, von der gottlob kein Jodler anderer Hüttenbesucher uns grüsste, wie wir es immer befürchtet hatten.

Einsam lag der wundernette Bau des S.A.C. und bot uns wieder lange Stunden wohliger Rast, nur das Wechseln meiner photographischen Platten ist mir in schlechter Erinnerung geblieben, musste ich doch mit dem sonnverbrannten Schädel einige Minuten unter einem mächtigen Haufen dicker Wolldecken ausharren, wo der Luft- und Lichtabschluss mir Höllenqualen bereitete.

Lange fesselte uns noch die Sonnenpracht, der wir bereitwillig unsere Körper im Luftbad boten. Schon hatte die Hitze merklich an den Hängen gewirkt. Von unserer Anstiegstraverse am Fillung war vieles verschüttet, auch die Steilwand, die uns den Ausstieg vom Plattasgletscher ermöglicht hatte, war von zahlreichen Schneerutschen bestrichen und selbst Freund Augusts tiefere Passage dick mit Lawinenbrocken aller Kaliber bestreut. In solchem Schnellfeuer hätten wir fürwahr dort nicht mehr queren mögen. Wo aber ist in solchen Tagen die Grenze des Erlaubten zu ziehen, wenn ein Teil Fatalismus bestimmend mitwirkt? Naturgemäss zog heute der Piz Valdraus immer wieder unsere Blicke auf sich, dem man es von hier wahrlich nicht ansah, dass er mit Ski fast mit den Händen in der Tasche begehbar ist. Blauschwarz grüssten neben ihm links die Wälder des Somvix aus den Tiefen herauf, und im Westen schwelgten wir lange im Entwerfen neuer Skitourenmöglichkeiten, bis die Sonne sank und die Sonnenbädler zum Hütteninnern trieb. Auch dort gab 's noch genug zu tun, denn die Vorräte durften nicht alle wieder zu Tal. So hob denn ein fröhlich Schmausen an, das manchen Hotelgast stutzig gemacht hätte. Aber frische Bergluft und strenge Bewegung sind gute Entschuldigungen für lange Atzung.

Langsam sank draussen die Nacht herab, mit ihr wob ein feiner Schleier sich über das Sternenzelt, so dass langsam auch wir an Wetterumschlag glaubten, um so mehr, als ein lauer Wind klagend heraufstrich. Wer war dann erstaunter, als unser absichtlich spät andern Tags sich erhebendes Quartett wiederum blendendes Wetter grüsste und nur der Stand der Quecksilbersäule zur Vorsicht mahnte. All unsere guten Vorsätze, auf den Piz Caschleglia noch einen Abschiedsbummel zu unternehmen, wurden schliesslich umgeworfen, göttliche Faulheit liess den Verzicht leicht werden. In wohligem Ruhen nochmals all die ausgebreiteten Schönheiten im Geist verstärkt aufnehmend, verging der letzte glanzvolle Vormittag, bis die breite, schmutzige Lawinenbahn unter dem Piz Buora drüben, die während der ersten Morgenstunden sich eingegraben, immer eindringlicher mahnte.

Ein letzter Blick galt jetzt dem famosen Valdraus. Vier helle, sonnfrohe Jauchzer zitterten ins Lavaz und Somvix hinaus, und als wir dann abfahrtsbereit die Ski westlich richteten, geschah es mit ehrlichem Bedauern, von hier scheiden zu müssen. Rein war die Freude leider nicht, die im obersten Plattastale geboten ward. Dazu waren die Halden dort viel zu stark verkrustet. Doch als einmal die Talsohle erreicht, wo der Sonneneinfluss bemerkbar war, lag auch die Schinderei hinter uns. Im Bummeltempo legten wir die letzten Strecken zurück, in Bogen und Schwung schlemmend, immer wieder hinaufschauend zum Rifugio Camotsch, das wie ein Wahrzeichen dem blendenden Plattasgletscher entragte.

Wieder lag da droben flimmernde Sonne, so dass der Abschied aus dieser Traumwelt uns schier schwer wurde. Nur die Kühle der Baumschatten, in denen wir nun schon untertauchen konnten, empfanden wir jetzt angenehm. Dann ward auch der Schnee schwer und sulzig, erstes Grün erschien, vorn tauchte die Rheintaltiefe auf, Siedlungen wurden sichtbar, Frühlingsstimmung lag über allem. Wie wundervoll war jetzt das Wandern ihr entgegen, nachdem die letzten Grüsse des winterlichen Hochgebirges am Waldrand uns gegolten hatten.

Über den bewaldeten Stagiaskamm konnten wir im Tauschnee noch hinüberwechseln bis kurz oberhalb Curaglia, wo endlich aperer Boden mit glucksenden Wässerchen und Frühlingsblüten dem Ski Halt geboten. Noch einmal galt unser Gruss dem leuchtenden Scopi, dann trotteten wir auf der Strasse dem Rheintal zu. Die Kühle der Schlucht und der zahlreichen Tunnels tat unsern erhitzten Gesichtern überaus wohl. Im gemächlichsten Tempo ging 's hinab, nur der letzte Anstieg vom Rheintal hinan nach Disentis ward ungern vermerkt, doch entschädigte dafür die Stunde Rast, die wir auf aussichtsreicher Terrasse im Schlemmen langentbehrter Genüsse verbrachten.

Weiche Luft, von herbem Nadelholzduft durchweht, lag heute über dem breiten Tal, in das Disentis mit den ragenden Klostergebäuden so weit hinausschaut, und wie das Züglein uns abwärts beförderte, da staunten wir zahlreiche Blütenwunder an, die während dreier leuchtender Tage sich hier erschlossen hatten, so dass wir aus dem Bewundern der von den schweigenden Schneebergen gekrönten Bilder gar nicht mehr herauskamen. Und von allen Seiten strömten nun frohe verbrannte Gestalten uns gleichend herab, müde und doch zufriedene Menschen, die im Gebirge sich neuen Lebensmut geholt hatten. Wie dankten wir da dem Geschick, das so freundlich uns in dem stillen Winkel am Medelser Rhein hatte allein hausen lassen.

Bedarf es eines bessern Beweises als des Eintrages in meinem Tagebuch, der also lautet: « Hurra! Ich habe den Jungbrunnen wieder gefunden, ihr Berge habt Dank! »

HL Wintertage im Gotthardmassiv.

Wer aus den Rheinquellgebieten zum Rhonebecken wechselt, von dem im letzten Kapitel uns einzig noch das Blindenhorn beschäftigen soll, kann nicht einfach kurzerhand den dazwischenliegenden, mächtigen Gotthardstock übergehen. Wohl sind aus diesem Bereich zahlreiche Schilderungen uns geworden, doch die wenigsten solcher Fahrtenberichte wurden dem Winter gerecht, der jenen Gott-hardbergen eine ganz besondere Note aufzudrücken vermag. Hier sind oft Berge, deren Linienführung und Aufbau sommersüber eintönig wirken und wenig zu Besuch anreizen, später von solch hoher Schönheit in ihren weissen Mänteln mit den blauen Bändern tiefer Schatten, die ihnen der Winter, blitzenden Schmuck nicht sparend, überwarf, dass jeder, der die Pracht an klaren Tagen einmal sah, gern wiederkehrt.

Vielleicht sagen die kommenden Zeilen den meisten nichts Neues, aber das ist es ja auch nicht, was ich bezwecke. Einzig der Wunsch, diesen von der Wucht des Wallis und Engadins in den Hintergrund gedrängten Berggestalten wahre Freunde zuzuführen, die ihre Aschenbrödelschönheiten recht zu würdigen wissen, die ihre wenigen freien Tage nutzen, mit den schmalen Brettern diese zentral gelegenen, gut zugänglichen Täler und Hänge zu pflügen, um auf weitschauenden Gipfeln sich königlich belohnt zu sehen für mittelmässige Anstrengungen, veranlasst mich, einige der typischsten Berggestalten dort herauszugreifen. Einzelne Leser werden durch diese Zeilen zum Selbststudium sich angeregt fühlen, und wer dies tat, wird still weiterwerben, womit meine Absicht vollkommen erreicht wäre.

Vielleicht ist die Tatsache, dass ein Gotthardübergang vor 30 Jahren dem Stadtfrack den ersten wirklichen Einblick in die Alpenwelt ermöglichte, bestimmend für die Vorliebe geworden, die ich seither für den Zentralstock hege. Später sind wir noch oft dort hinaufgestiegen; ich weiss noch genau, wie bei unserer ersten Skifahrt wir von den Dörflerkindern in Hospental angestaunt und beschrien wurden. Meist waren es immer dieselben Unentwegten, die sich droben beim Urner Ruedi trafen, zumeist mit der Absicht, den als Skiberg klassisch gewordenen Pizzo Centrale zu meistern. Auch Piz Prevot, Giubing oder die nahe, aussichtsreiche Fibbia bildeten unsere Ziele, bis dann der Wettstreit, andere Gruppen dem Ski aufzuschliessen, andere Bahnen wies. Doch nicht hiervon soll berichtet werden, sondern von dem Berg, dessen Name schon hohen Genuss verspricht, dem Piz Lucendro seien die folgenden Zeilen gewidmet.

November war 's; nachts von Mailand kommend, stand ich um 2 Uhr 15 früh verlassen auf dem zugigen Perron zu Airolo und schaute erstaunt in die Berge hinein, an denen über den scharf abgesetzten Waldgrenzen riesige, verschneite Hänge zu den Steilgipfeln des Vespero und Madone zogen, die in der glänzenden Sternenpracht um so imposanter erschienen. Eingegangen also, als ich, durch den Wetterbericht verleitet, die Ski daheim liess, im Glauben, einen angenehmen Höhen- und Passbummel über aperes Bergland machen zu können. Entschlossen aber marschierte ich der Gotthardpasshöhe zu, die wohlbekannte Trasse verfolgend, die mir Abschweifen der Gedanken erlaubte. Ähnlicher Fahrten gedachte ich, wie ich hier das erstemal den grossen Unterschied zwischen Nord und Süd bemerkte, der selten so ausgeprägt wie im Gotthardbereich in Erscheinung tritt. Noch entsinne ich mich des tiefen Eindruckes, den plötzlich einfallende fremde Laute mir hinterliessen, wie auch andere Sitten usw. stark fesselten. Noch heute ist mir daher jene ausgeprägte Wasser-, Wetter- und Sprachscheide gleich interessant.

Mählich kam ich dabei höher. Tausende von Sternen blitzten in die mondlose Nacht herein, die trotzdem die harten Konturen des aus dem Tal gleichmässig hochschwingenden Rotondogrates erkennen liess. Eben hatten die Lichter der Station drunten gegrüsst, als wieder dichter Wald mich umfing. Die grosse Dunkelheit hier zwang mich, nach einem Heustadel Umschau zu halten; denn was sollte ich bei voller Nacht wohl auf der Passhöhe. Schon die nächste Biegung brachte zwei Hütten in Sicht, denen Heuduft entquoll. Wohl war der eine Bau gut geschlossen, aber meinem sanften, konstanten Pickeldruck wich die Türe doch, und die Berglaterne liess mich hier einen Heuhaufen gewahren. Nur eine Stunde Ruhe hatte ich vorgehabt, doch wie Geläute aus dem Tal mich weckte, fiel schon ein heller Schimmer durch die Ritzen der Hütte. Kläglich kontrastierte der Schein meiner Berglaterne mit dem in den Türrahmen jetzt hereinquellenden Morgen. Noch lagen drunten im Tessintal die Schatten der Nacht, darüber aber schoben sich wie regellos hingeworfene Teile eines Riesensteinbaukastens die Zacken der Tessinerberge mit scharfen Silhouetten in den schwefelgelben Horizont. Im Nu war ich jetzt reisefertig und sprang die Abschneider zum Plateau bei Motto Bartola hinan, droben langsamer gehend, um die schöne Entwicklung des jungen Tages mit Genuss verfolgen zu können. Doch als die Sonne erschien, war ich längst in der Val Tremola und kämpfte hier mit der trügerisch verkrusteten Schneedecke. 8 Uhr war 's, als ich droben am Hospiz passierte. Der Winterknecht, langem Gedankenaustausches gewärtig, wunderte sich nicht schlecht, dass ich pausenlos weiterstrebte. Doch der glänzende Tag, der jetzt auf den steilen, aperen Fibbiafelsen volle Sonne gleissen liess, musste genutzt werden.

Noch waren die Seen auf der Passhöhe nicht zugefroren, wie ich zwischen ihnen durchschritt, gleich darauf die Strasse verlassend. Da aber der Schnee bei jedem Tritt durchbrach, wurden die Schneereifen angelegt, die flotteres Ausschreiten erlaubten. Um den Pizzo de la Valetta herum ging 's über die Brücke am Lucendrosee, dessen nördliche Umrandung ich zur Umgehung wählte. Doch die erhoffte Erleichterung ward mir hier nicht, der Schnee war an den mit gleichmässiger Neigung zum offenen See hinabziehenden Hängen hier sehr hart, und die Traversierung über den offenen Wassern blieb ungemütlich angesichts der ewig rutschenden Reifen, was mich selbst einmal zu längerem Ausziehen und fleissigem Pickeln in harter Lawinenbahn zwang. Dann aber lag gleissende Winterpracht vor mir, auch der Lucendrogipfel lugte in meine Einsamkeit bereits herein. Dem Wetterbericht zufolge hatte ich mir vorgenommen, vom genannten Gipfel den Kamm zum Piz Orsino zu begehen, doch schon jetzt sah ich, dass höchstens noch eine Lucendroersteigung herauskommen könne. Bald fand ich die Bestätigung. Der Neuschnee war so wechselnd, dass ich selbst Schwierigkeiten hatte, jene Höhe zu erreichen. Bald ging 's tadellos auf verharschter Fläche, dann wieder tief wühlend im zusammengewehten Pulverschnee; jammerschade, dass unterdes die Ski daheim feiern mussten. Langsam würgte ich mich so von einer Bodenwelle zur andern, oft wieder ein Stück der gewonnenen Höhe mit Schmerzen opfern müssend. Nur Zähigkeit half mir weiter. Am Piz Orsino draussen las ich die ungefähre Höhe ab, bis endlich gegen Mittag die Moräne des kleinen Lucendrogletschers, dessen Spalten über mir teilweise ganz freilagen, erreicht war.

Behaglich streckte ich mich hier knapp über dem Passo Lucendro auf den sonnbestrahlten Blöcken aus, während des Schmausens die Aussicht musternd, die wohl beschränkt, doch sehr kontrastreich ist. Im Süden zeigten sich die Ketten von 1500 Meter an dicht verschneit, während die Urner Berge fast schneefrei mit schwarzen Felsenleibern prahlten. Welche lockenden Gegensätze! Gelt, ihr Tessiner Recken, jetzt wo die weissen, fleckenlosen Winterkleider euch das Adels-prädikat verschafften, reckt ihr eure Häupter noch einmal so keck in den blauen wolkenlosen Himmel. So müssten euch die Nordlandssöhne sehen, die über eure sommerliche Langweiligkeit sich mokieren. Mit einer wahren Wonne vertiefte ich mich schon hier in das Gewirr von Bergspitzen, Kämmen und Graten, das den Fremden fast verblüfft. Zahlreiche ihrer Formen waren mir von Eigenfahrten her wohl vertraut, und freudig grüsste ich sie wieder. Doch wozu hier ihre Namen nennen, die den meisten doch unbekannt bleiben werden.

Auf nun zum Gipfel, der noch immer zirka 400 Meter recht steil da droben sich aufbaut. Möglichst direkt ging 's über das Gletscherchen hoch, später gegen den Grat haltend, denn den oberflächlich verblasenen Spalten traute ich doch nicht ganz. Steil ging 's darum an der Kante hoch, die Fibbia sank längst, über ihr hob sich der Centrale empor, Susten- und Dammagipfel grüssten herein. Über dem Tessin selbst lagerte ein Meer von Licht auf einem Gewoge von Gipfeln, die in den vielen Atempausen mich immer wieder beschäftigten. Langsam, Schritt für Schritt ging 's höher, den Italiani drunten wollte ich denn doch nicht sagen müssen, dass Neuschnee mich hier abblitzen liess. Zähigkeit ist Vorrecht und Tugend nordischer Rassen, also weiter hinan! Schliesslich musste ich mich streng an die Gratkante halten, denn zwischen den enormen Blöcken lagen grundlose Pulverschneeanhäufungen.

Ohne Mühe kein Preis! Mit diesem Motto betrat ich das Gipfelchen, das nach Süden ansehnlich steil zum Bedrettotal stürzt, aus dem das Rauschen des Tessins noch schwach herauftönte. Und welch ein Preis war mir beschieden! Ein Meer von Spitzen ringsum, ein Gipfel klarer als der andere, kein neidischer Nebelstreif blickhindernd. Nur über dem Westausschnitt schwebte eine Schäfchenwolken-reihe, die dort gewaltig sich aufreckende Gruppe des Rotondo, Pesciora und Wyttenwasserstocks, der, von hier gesehen, eher den Namen Schwarzwand verdienen würde, nur noch famoser erscheinen lassend. Hart links neben dem Rotondoturm, doch weit abliegend, blinkte im Sonnenschein eine weite Firnmulde herüber, der Griesgletscher mit dem überhöhenden Blindenhorn — Skiläufers Sehnsucht! Ein andermal denn zu dir! Und nun zum schönsten Teil der Rundsicht, denn alles anzuführen, wäre vergebene Liebesmüh. Im Anstieg hatte der Gipfelkegel mir das Berner Oberland gänzlich verdeckt; mein erster Blick beim Erreichen der Spitze galt darum seinen Riesen. Fürwahr, leuchtender konnte der Lucendro das Panorama dort nicht bieten, wo das Finsteraarhorn so allgewaltig sein schneidiges Dreieck über die Berggenossen hob, getreulich sekundiert vom wuchtigen Trapez der Lauteraar- und Schreckhornkette. Dagegen kamen die andern Gipfel im Rhonegebiet, die des Glarner Landes und die nähern, den Osten verdeckenden Gotthardberge gar nicht zur Geltung. Immer wieder kehrte der Blick auf die riesigen Berner Recken, bis jauchzend das Skiläuferherz wieder dem Blindenhorn entgegenschlug.

Fast drei Viertelstunden nahm mich das packende Bild gefangen, über dem man bald des Leibes Bedürfnis vergessen konnte. Hundertfach vergolten waren mir jetzt all die zahlreichen Plackereien des scharfen Anstieges. Doch die Tage am Novemberende sind kurz, das Wyttenwasser tief drunten sollte jetzt mein Ziel bilden. Noch einen Blick in die Runde, in die selbst der Monte Rosa zurückhaltend schaut, dann ging 's auf den zum Ywerberhorn führenden Grat abwärts, der schmal, pulverschneegesäumt, beidseitig steil abfallend, ganz nett ist, nur für Schneereifen nicht den rechten Untergrund abgibt. Schritt für Schritt ging 's so hinab, erst weit drunten versuchte ich Abfahrt zum Lucendrogletscher, kam aber vom verharschten Steilhang in so grundlose Schneeverwehungen, dass ich schliesslich immer unter den Gratfelsen zum südlichen Ywerberpass hielt, über dem ganz nahe der Felsbau des Ywerberhorns aufragt. Ohne diesen Gipfel ganz erstiegen zu haben, hielt ich — die Zeit drängte — nach 20 Minuten wieder in die Lücke zurück, noch konnten mir ja weitere Überraschungen blühen.

Der letzte Blick nach Osten galt dem tief drunten in blendend weisser Umrahmung ruhenden Lucendrosee, dessen eisfreier Spiegel wie ein undurchdringliches Geheimnis sich ausnahm. Dann ging 's mit Hurra die steile Firnhalde sitzend hinab gen Westen. An den Moränenblöcken drunten kramte ich mir den nachgefallenen Schnee aus den Taschen und schaute zurück, wo jetzt der schneidig aussehende Lucendrograt schon wieder hoch droben im Licht lag. Famos bietet sich hier auch der Einblick in das spaltenlose Becken des Wyttenwassergletschers, neben dem damals noch keine C. Hütte grüsste.Verschwunden war jetzt der Berner Schar, dafür hob sich über die Urner Vorberge die Dammakette herein, mit den aperen Südflanken ganz seltsam zu den hier angehäuften Schneemassen kontrastierend. Selten war mir das Ausgesprochene dieser Wetterscheide so zum Bewusstsein gekommen, wie heute, wo vom Monte Rosa bis zum Medels im Süden alles weiss und tief verschneit sich zeigte, während nördlich der Gotthardkette allüberall die Berge noch so dunkel wie im Herbst grüssten.

Das hintere Wyttenwasser ist ziemlich steil, so dass ich bald im kleinen Talboden an der obersten Alm stand. Eine regelrechte Quälerei begann von hier. Die von der Sonne aufgeweichte Schneedecke war im Schatten wieder oberflächlich gefroren, brach jedoch bei jedem Tritt wieder durch. Auch das immer schwächer werdende Talgefälle liess mich nur noch langsam vorankommen. Wären nicht ab und zu die hübschen Rückblicke zur Ablenkung willkommen gewesen, so hätte die stumpfsinnige Stampferei eine helle Verzweiflung ausgelöst. Erst bei der Mündung des Muttentales liess die Tiefe des angesammelten Schnees nach, und hinter der gleichnamigen Alp konnten endlich die Reifen abgelegt werden. Das Folgende bietet nicht viel Interessantes mehr. Seit die Wyttenwasserhütte steht, wallfahrten viele Bergfreunde auch im Winter dort hinein, denen ich nicht zu sagen brauche, wie es da ausschaut. Gerade stieg ich nach Realp ab, als die letzten Sonnenstrahlen den spitzen Lucendrogipfel nochmals beleuchteten und im Vorblick die zerrissenen Wände der Spitzliberge scharf in den Abendhimmel projizierten.

LangweiHg ist der Strassenmarsch hinaus zur Station, langweiliger noch die nächtliche Bummelfahrt nach Mailand in kalten Waggons, nassen Stiefeln und Kleidern, aber all die Mühsale vergalt mir doch reichlich die Wunderschau, die der Piz Lucendro mir geboten hatte. Leuchtend ist dies Bild mir im Gedächtnis geblieben; der Berg hielt, was sein Name versprach!

Es war noch zur Zeit der Hochlandserschliessung für den Ski, als ich mit ihm einen Berg anging, der sich nicht dafür eignet. Und da die Jugend Erfahrung nützen soll, mögen hier die Notizen über diese Taneda-Winterfahrt als abschreckendes Beispiel verzeichnet sein.

Nach ErstHngsquerungen und Erstlingsskihochtouren schien mir die Lücke im Tourennetz zwischen Gotthard und dem Medels zu gross; ich suchte hier neue Maschen einzuflechten und verfiel so auf die Val Piora, von der ich durch Dr. Hœk wusste, dass sie treffliches Skigelände enthalte. Doch uns war es nicht um Passo dell'Uomo oder Scai zu tun. Über dem stillen Ritomsee ragte ein mächtiger Felsklotz auf, den wir auf Schleichwegen zu überlisten suchten. Der Berg hatte ob seiner Steilheit noch keine zünftigen Skiläufer angezogen, was uns Anlass genug war, einen kecken Versuch zu wagen.

Zu zweit fuhren wir im Nachtzug aus der Poebene heran. Kurzen Stunden Ruhe in Airolo folgte nächtlicher Marsch auf eisigen steilen Ziehwegen, die über Altanca uns bei Morgenanbruch zur Schlucht brachten, wo die Wasser des Ritomsees sonst abwärts tosen. Heute füllte eine einzige Eismasse das felsige Bett. Rückwärts gewandt, geniesst man von dem steilen Rande hübsche Blicke in die Taltiefe, auf die an den Hängen klebenden Hirtendörfchen, über denen die zackigen Gipfel des Mezzodì, des Campolungo und Rotondo hereingrüssen.

Wenig später bot sich eine andere Welt. Tiefe Stille lastete im flachen Ritombecken, über dem nordwärts aufwuchtend das Trapez des Taneda unsere vollste Aufmerksamkeit fand, denn jetzt ward 's Ernst. Wochen hellen Wetters hatten die Schneehalden von überflüssigem Ballast befreit, so dass Lawinenstürze hier wohl kaum in Frage kamen, doch eine andere Gefahr drohte. Flugschnee, vom steten Höhenwind über die Kämme und Lücken gefegt, musste vielfach Schneeschilde erzeugt haben. Im Verein mit den steilen, eisigen Halden war das recht ernst zu nehmen. Doch wir wollten es wagen, wenigstens versuchen und erkoren für den Anstieg die Tanedaflanke, die nordwestlich gegen die Puntanera etwas zurückweicht.

Wer als Skiläufer schwelgen will, mag unbesorgt ins Pioratal gehen, wo gegen den Passo dell' Uomo sich prächtige Möglichkeiten ergeben. Wir aber verzichteten auf den Genuss und zogen entschlossen über den weiten Seeplan in die Mulde, die zum Lago Tom hochführt. Warm schien hier die Sonne herein und der herrliche Tag hob unsere Zuversicht gewaltig, nur die langen Schneefahnen, die der Sturmwind droben von den Graten riss, mahnten, des Kommenden eingedenk zu sein.

Vom nördlichen Seeufer aus sehen die Tanedawände fast noch drohender aus, aber energisch rückten wir vorwärts und entdeckten immer wieder Einschnitte, die Umgehungen zu höhern Lagen besser boten, als das Gelände zuerst glaubhaft machte. Hier liegen eine Anzahl kleiner, tief verschneiter Seen, deren Kessel sämtlich durch solche Steilstufen verbarrikadiert waren. So sieht besonders die Rückwand des Kars, in dem der Lago Tom sich bettet, ganz unzugänglich aus; wer sich aber nicht verblüffen lässt, findet im Hintergrund eine steile Rinne, die wiederum zu einem höheren Kessel Wegleiter wird. Schön war 's ja nicht gerade, einmal an harstigen Halden zu kratzen, dann wieder in mehligem Schnee tief zu versinken, wenn die Ski, was oft geschah, ausgezogen werden mussten. Dann folgten wieder ziemlich ausgeaperte Grashalden, darauf die eisigen Schöpfe unsern ungenagelten Stiefeln nicht gerade willkommen waren. Es blieb im wahren Sinne des Wortes eine regelrechte Schinderei, doch wir hatten es angefangen, und Dinge nur halb durchzuführen, das war just nicht unsere Sache.

Es mag ungefähr in der Mitte der vom Grat noch trennenden Höhe gewesen sein, als strahlende Sonne uns verlockte, auf einem aperen Grasband kurze Rast einzuschieben. Die vorhergehenden Stunden hatten unsere Fussknöchel bedeutend angestrengt und der schwerste Teil der Fahrt schien jetzt erst vor uns zu liegen. Fast senkrecht unter uns lag im Kessel der Lago Tom, dazwischen ein paar andere Seelein in Karen, die unsere Spur durchlief. Weiter draussen über dem fleckenlosen Ritombecken grüssten die Berge der Leventina herein, bis weit nach Faido hinab sich zeigend. Nur hinter und neben uns wuchteten die dunklen Felswände des Taneda auf, von dessen Höhe der Sturm sich schon jetzt bemerkbar machte.

Frohgefühl und Zuversicht lösten helle Jauchzer aus, die unerwidert in der feierlichen Weite verklangen.

Doch nun bequem auf den Graspolstern ausgestreckt zur Festlegung des letzten scharfen Anstieges über uns! Das Ziel blieb der Sattel zwischen Taneda und Puntanera, zu dem eine mächtige Steilhalde sich aufschwingt. Nur der sehr wechselnde Schnee, die Steilheit und Glätte des Untergrundes blieb unsere Sorge, alles andere war reine Energiefrage. Wie ich noch fleissig photographierte, stapfte Ernst schon munter kerzengerade gegen die Puntanera auf dem Harsthange an. Diese Art war dem Hochkommen sehr förderlich. Nur droben, wo es dann galt, die ganze Wandbreite zum Sattel zu queren, kamen die grossen Schwierigkeiten, die uns heillos viel Schweisstropfen, mitunter auch einen derben italienischen Ausdruck entlockten. Es ist nicht jedermanns Sache, in dachsteilem Gehänge auf harter Kruste zu kanten oder, wenn der Bergschatten hinter uns lag, im breiweichen Schnee fortgesetzt das Abgehen der ganzen, unzuverlässig gebundenen Halde erwarten zu müssen. Die Ski konnten wir hier meist nicht mehr gebrauchen; die Gefahr wäre dadurch vergrössert worden. Dass nun ihr pendelndes Gewicht unser Vorwärtskommen sonderlich förderte, möchte ich nicht behaupten. Wie fluchte ich jetzt insgeheim, dass wir aus lauter Bequemlichkeit die Pickel nicht hatten mitgehen heissen. Doch hatten wir auf zahlreichen Skihochtouren manches gelernt, und dieser grossen Vorsicht, die manchem Draufgänger vielleicht übertrieben vorgekommen wäre, haben wir es zu verdanken, dass die beträchtlich breite Strecke, auf der fortgesetzt Unheil drohte, ungefährdet passiert wurde. Unser Ziel blieben schliesslich einige Geländestreifen, auf denen die Sonne grössere Strecken des Untergrundes freigelegt hatte.Von da an kam bessere Bahn, die uns endlich vor 2 Uhr den lang ersehnten Sattel erreichen liess. Gewonnen war 's, so dachten wir, die Ski hier einrammend und rasch über den blockigen Grat hochhastend; denn schon der erste Blick vom Sattel liess erkennen, dass die Gipfelschau eine hervorragend schöne sein müsse.

Fast 2 Uhr war 's, als wir beim Tanedasteinmann auftauchten. Die Höhe dieses Berges ist keine aussergewöhnliche, doch genügen die 2670 Meter und die vorgerückte Lage, hier ein Bergpanorama zu entwickeln, das traumhaft schön genannt werden kann, besonders wenn es noch von solch strahlender Wintersonne, wie heute, überflutet ward. Sonderlich freundlich war der altersgraue Bergherr, dem wir eben einen Besuch abstatteten, ja nicht; er schnob uns ein paarmal gewaltig an, erzürnt ob des unverantwortlichen Überfalles mitten in der Winterruhe, dann aber neugierig, was die Knirpse auf seinem Scheitel wohl mochten, bot er uns windgeschützte, warme Felsblöcke, hinter die wir uns duckten, um in Ruhe ein paar der wundervollsten Seiten im grossen Bilderbuch der Mutter Natur staunend zu betrachten.

Bezüglich der Tessiner Berge ist die Ausschau wirklich einzigartig! Hier hat man das ganze obere Bedrettotal vor sich zur Einsicht und über ihm, ganz besonders in der prächtigen Gleichmässigkeit der Gruppierung fesselnd, die drei Hauptgestalten dieses Berggewirrs, die sonst so weit auseinandergezogen erscheinen, von einem Blick umspannt. Mitten im Bilde thront der schöne Blindenhornstock mit dem lang herabwallenden Griesgletscher, der uns heute höhere Wonnen hätte bieten können. Links davon ladet breit das Basodinomassiv aus, auf dieser Seite ebenfalls mit Ski zugänglich, während rechts im Blickfeld der Rotondo mit seinem dem Tal in einem Schwung enteilenden Felsengrate zierlichere Formen aufweist.

Tief unter uns lag die stille Val Piora, über der des Lucomagno Aufbau, wunderschön beleuchtet, das Auge südwärts fesselte. Doch auch die Gotthardberge nahebei machten sich breit und liessen die spähenden Blicke manche Skifahrt entdecken, wozu besonders das weite Gelände um die Val Cadlimo mit der darüber sich aufbauenden Kette vom Ravetsch bis zum Rondadura sich trefflich zu eignen schien. Dann rückten die Medelser Gipfel ins Panorama, bis der breite Scopi sich vor den Osten schob. Vergessen soll nicht sein, des schneidigen Finsteraarhorns und der Schreckhörner zu gedenken; doch so sehr wir die Berner Formen sonst schätzen, soviel mehr zog 's heute unsere Augen zu dem wundervollen Dreigestirn dort über dem Ticinobecken. All unsere Mühen waren uns damit reichlich vergolten.

Um 3 Uhr mahnte der Sonnenstand des Abstieges zu gedenken. Das Einfachste wäre gewesen, die Val Cadlimo hinab gegen den Passo dell' Uomo, dann in die Val Piora zu lenken, die uns tessinwärts geleitet hätte. Doch ich hatte die Val Canaria im Sinn. So sprangen wir froh die Blöcke hinab zu den Skiern und flitzten gleich darauf zum Lago Scuro, der dort eingebettet ist. Prächtiges Skiterrain ist hier weitum, nur muss vermutlich in der untern Val Cadlimo allenthalben vor Steilhängen und Lawinengefahr gewarnt werden. Man gedenke des Falles Gröbli, der unweit von da sich ereignete. Welliges Gelände brachte uns bald zur Bocca di Cadlimo, auf der jetzt wohl auch ein neues Hüttlein des S.A.C. steht. Eine Rast war da geplant, doch als ich über die tiefe Furche der Val Canaria hinweg die Gotthardabstürze entlang sah, drängte ich weiter. Sauber war das Kommende sicher nicht und die nächsten Stunden haben uns denn auch derart in Atem gehalten, dass es uns heute noch wundert, wie wir damals so unge-rupft davongekommen sind.

Die obersten Mulden jenseits boten wohl keine Schwierigkeiten, bis der die oberste Val Canaria säumende Felsabbruch plötzlich Halt gebot. Wie sollten wir hier durch die steilen, teilweise schon blankes Eis zeigenden Rinnen ohne Nagelschuhe, ohne Seil und Pickel hinabkommen? Nach mehreren Versuchen, die Sache zu forcieren, stiegen wir gegen die Puntanera zurück, wo ich südlich eine breitere Rinne entdeckte, die seitliches Abfahren zuliess. Die erste Hälfte ging es gut, doch trotz aller Vorsicht brachten Steilheit und Glätte der Bahn mich mitten im Couloir zum Sturz, der zwischen den vorbeihuschenden Felskulissen bös hätte auslaufen können, wenn nicht Ski, Stöcke und Mann in unmöglicher Situation sich verklemmt hätten, aus denen mich Ernst befreien musste. Eine Warnung mehr zur steten Vorsicht!

Langsamer ging 's jetzt zum Grund des einsamen Kars, das allseitig von dunklen Felswänden umzogen wird. Für den Kletterer mag das ein erhebender Anblick sein; für uns bedeutete es ein Lawinenloch schlimmster Sorte. Jetzt war 's schon einerlei, der Rückweg war mindestens so prekär und lang, drum blieben wir dabei, den Stier bei den Hörnern zu packen. Ein Versuch, in dem schneeverklei-deten Bett des Baches abzusteigen, der, vom Piz Alv kommend, in die das Kar nach unten abschliessende Felswand eine Schlucht gefressen hat, fallierte, verdeckten blanken Eises halber. Nach drei, vier zeitraubenden Versuchen, einen andern Durchstieg zu finden, musste die letzte Möglichkeit benutzt werden, den nächsten Boden auf der riesigen Bahn zu erreichen, die eine von der Barbera-ostseite herabgegangene Lawine dort aufgerissen hatte. Einige grosse Schneebretter waren droben losgebrochen, im Sturz alles rasierend, was in den Weg kam. Einem mächtigen Strome gleich hatten die verschiedenen Züge vereint die abstürzenden Massen über eine trennende Felsbarre zum zweiten Talboden gejagt, ihn dort auf weite Strecken aufwühlend.

Unendlich lang währte hier die saure Arbeit des Stampfens in der harten jähen Bahn, unheimlich dünkt mich noch heute die katzenhaft sachte Arbeit an der kritischsten Stelle, wo wir in 10 Minuten währender Umgehung, während der alle Nerven und Muskeln aufs äusserste angespannt waren, den kurzen Abschnitt überwanden, wo dünne abrutschbereite Auflage über steilem Fels ebenso warnte, wie der darunter verborgene, doch sehr vernehmlich tosende Bergbach. Ebenso unsicher blieben die folgenden 100 Meter, wo die nur lose auf vereistem Rasenhang lagernde Schneeschicht uns fast noch mehr Sorgen bereitete. Was hätten wir jetzt um unsere getreuen Pickel gegeben. Endlich wuchs die Schneelage wieder, Schritt für Schritt konnte direkt in Fallirne abgestiegen werden. Wie leicht ist das mit wenig Worten ausgedrückt, was schwere Arbeit uns schuf. Schon war die Sonne gesunken, rasch einsetzende Dämmerung ward freudig begrüsst, denn sie festigte die Hänge im Nu wieder, bot aber neue Schwierigkeiten, denn nun hatten die ungenagelten Schuhe doppelte Arbeit. Ganz gefühllos waren bereits die Füsse in den eisigen Gefängnissen. Was wollten dagegen die klammen Flinger besagen, mit denen man sich im krustigen Hang verkrallen musste, da die hängenden Ski die Gleichgewichtslage stark beeinflussten.

Als endlich der oberste Pian Bornengo erreicht war, blieb die erste Sorge unsern Fussen und Händen neue Blutzufuhr zu verschaffen; brennendes Weh bewies bald, dass die Zirkulation wieder anhub. Nun durften wir uns gerettet glauben, denn die letzten Stunden hatten eine Hochspannung der Nerven gebracht, dass Kleinigkeiten, wie die uns umfangende Dunkelheit in völlig fremdem Gelände, vollkommen zurücktraten. Eine kurze Strecke ging 's wieder mit Ski torkelnd über den aufgepflügten Lawinenboden, bis eine neue Felsbarre bei der nächsten schroffen Talbiegung wiederum zum Ablegen der Hölzer zwang. Zu guter Letzt blieb nur der Ausweg, eine steile Schneekehle ebenso hinabzustampfen, wie zum Pian Bornengo, nur mit dem Unterschied, dass wir völlig ins Ungewisse hinein manöverierten. Zum Glück ging die Sache gut aus, der in die Schlucht geblasene Flugschnee hielt vorzüglich, und verhältnismässig bald konnten wir von unten die dunkle Gasse hinanschauen, die im Ungewissen Sternenlicht fast unmöglich aussah. Das Kommende bietet weniger Interesse mehr, geschah doch alles in tiefer Dunkelheit. Lawinenzüge, andere im Boden unerwartet auftretende Hindernisse, später Baumkörper, die starken Unebenheiten des Bachlaufes, dem wir uns anvertraut hatten, pressten manchen Unmutsruf aus, doch mit zusammengebissenen Zähnen ging 's immer weiter abwärts, wenn auch zahlreiche unerwartete und unerwünschte « Fälle » dazwischen zu verzeichnen waren.

Plötzlich tauchten aus dem Nachtdunkel Umrisse einiger Hütten vor uns auf, die Alpe Canaria. Hier hielten wir gern, das Mittagsmahl nachzuholen, um das uns die Tanedageister gebracht hatten. Doch in unsere dachlose Stallecke streute der Wind gar freigebig feinen Flugschnee auf das Essen, so dass wir bald wieder aufbrachen, um die Lethargie nicht aufkommen zu lassen, die fast unver- meidlich blieb. Lawinenzug auf Lawinenzug ward gequert. Wäre mir das vorher bekannt gewesen, hätten wir es wohl besser haben können. Nachfolgenden sei es besonders vermerkt! Mir selbst hatte der Taneda für den Plan, ihn aus seiner winterlichen Beschaulichkeit zu stören, eine Extrabelohnung vorbehalten. Im Ungewissen Licht verlor ich auf hartem Untergrund den Halt, die steile Böschung rettungslos zum hier schon offenen Bach sausend, in dessen kalten Wassern ich fast bis zum Leib verschwand. Es bedurfte energischer Hilfe seitens Ernsts, mich solch frostigen Liebkosungen zu entziehen. Völlig apathisch ob der zu erwartenden Qual, die von den sofort gefrierenden, nassen Ski im Schnee nun zu erwarten war, tappte ich jenseits hoch — da standen wir zum guten Glück am Beginn einer ausgetretenen Pfadspur, der folgend wir nach manch weiterem « Umfall » unsern Ausgangspunkt, Airolo, nach 10 Uhr nachts wieder erreichten. Manch beherzigenswerten Wink hatten uns die Berge wieder gegeben, trotzdem kehrten wir befriedigt in unser lombardisches Nebelheim zurück, frohen Herzens, dass Energie unsern Plan hatte verwirklichen lassen, doch auch dankbar, dass die Naturgewalten uns wieder einmal gnädig gesinnt geblieben waren.

Der formenschöne Gipfel des Bedrettotales, der während der langen Talwanderung stetig zu fesseln vermag, hatte mich schon lange gereizt, doch im Winter ist es schwer, rechte Begleiter für eine Fusstour auf den Pizzo Rotondo zu finden. Jetzt, wo das Barometer standhaft blieb, hielt es mich aber nicht mehr im nebelverhangenen Mailand. Der nächste Samstag Mittag sah mich auf der üblichen Fahrt zum Gotthard hinauf, wo die Capostazioni und Guardie schon den allwöchentlich mit geschwollenem Lederrucksack anrückenden « Tudesc » kannten. Gottlob, dass ich dann in Airolo den vorausgeeilten Albert Röllin traf, der mit Feuer und Flamme dabei war, den Rotondo zu stürmen, trotz der reichlichen Schneelage. Ski waren damals leider nicht zu unserer Verfügung, sonst hätten sie uns grosse Hilfe geboten.

Rasch musste die Pasticceria im Ort den Proviant ergänzen helfen, dann ging 's zügigen Schrittes das nächtliche Tal hinein. In seltener Pracht leuchteten Myriaden von Sternen am Firmament, zahlreiche Sternschnuppen kreuzten den samtschwarzen Horizont, über der Cristallina leuchtete der Orion in geradezu feenhafter Pracht. Endlich kam der Wald, hinter dem All' Acqua, die lang ersehnte Raststätte, liegt. Fast war 's Mitternacht, als wir anlangten, rasch noch einen Glühwein nehmend, um für die durchkälteten, feuchten Betten des Ospizio gewappnet zu sein. Wir kannten die uns erwartenden, nächtlichen Genüsse zur Genüge und waren der Vorsicht froh, die denn auch leidliche Nachtruhe zuliess.

6 Uhr 15 verzeichnet mein Tourenbuch als Aufbruchszeit am folgenden Morgen. Die Rotondobesteigung ist die denkbar einfachste. Man steigt fast in einer Geraden allerdings sehr steil an, kommt dafür aber rasch hoch. Erschwerend war der stete Wechsel der Schneelage, die in den steilen Waldbeständen, wo Reifen nicht in Frage kamen, uns tief einsinken liess. Die freien Zwischenstücke narrten dann wieder mit starkem Harst. Unentwegt geht es so gegen das hoch droben hereinschauende Kühbodenhorn hinan, bis mit dem ersten Frühlicht die Terrasse über dem untersten Steilhang erreicht ist, die in gleicher Höhe mit dem Piano secco liegt. Dessen wüste Geröllmassen waren heute mit einem glatten Schneetuch verdeckt, was uns aber grosse Nachteile schaffte, denn die Pulver-schneegruben zwischen den mächtigen Blöcken bildeten unzählige, tückische Fussangeln. Hier zeichnete Rollin sich in jugendlicher Draufgängerei durch tapferes Vorausstampfen aus. Als der scheussliche Boden gequert war, konnte ein Blockwall, dessen Kante teilweise ausgeapert war, benutzt werden. Längst war inzwischen die Sonne herausgekommen, gleissendes Licht lag über uns. Wo der die Alpe nuova östlich einengende Felsgrat eine Schulter bildet, querten wir ihn, in den Kessel haltend, der vom Kühbodenhorn und Rotondo gebildet wird. Von letzterem sieht man nur verschämt die oberste Spitze über die Firnkante lugen, dafür nimmt der zu ihr aus dem Tale steil aufschwingende Südostgrat mit kecken Zacken und scharfen Kanten sich recht schneidig aus.

Wundervolle Tiefblicke boten sich bereits hier ins Bedretto und auf die es einrahmenden Steilgipfel. Am gegenüberliegenden Giacomopass mass ich unsere Höhe ab, was neuen Ansporn gab, denn die Stampf erei hatte uns arg in Rückstand gebracht. Wieder begann hier das Spiel zwischen den trügerisch verdeckten Blöcken bis zur Moräne; aber wie eine der scharfen Gratzacken nach der andern zur Tiefe sank, ward auch der Schnee besser. Endlich konnten wir das Gletscherfeld unter dem Rotondopass betreten und die Schneereifen hier anlegen, die uns auf der fast spaltenfreien Fläche wesentlich rascher hochförderten. Schon zeigte sich auch drüben das breite Eisfeld am Basòdino; der Campo Tencia hob das Haupt über die jenseitige Talkante. Jetzt konnte ich an dem ermüdeten Rollin gute Vergeltung üben, zog in einer, wenn auch steilen Linie vom Gletscherhang quer über den Rotondopass zum untern Teil des Couloirs, das unser Gipfel nach Südwesten entsendet und konnte während der zahlreichen Atempausen, die das jähe Gelände uns abzwang, ihm all die Wunder der am Pass mit einem Schlage auftauchenden Berner Berge erklären. Da an die vorgehabte Traversierung der späten Stunde halber nicht mehr zu denken war, blieb das Gepäck am Couloirfuss zurück, und nur Pickel, Steigeisen und der unentbehrliche Photoapparat begleiteten uns auf der nächsten Etappe.Von hier geht 's nur noch direkt, entweder auf dem Grund der Rinne oder in den Begrenzungsfelsen, die leider öfters plattig und vereist waren, zur Höhe. Doch auch dieser Panzer half dem Rotondo nichts mehr, um 3 Uhr 15 tauchten wir zwei beim Steinmann in ein Meer von Licht und Schönheit.

Wenn je im Gotthardgebiet ein Gipfel den Namen Aussichtsberg verdient, so ist es der Rotondo. Seine « splendid isolation » bietet ein riesenhaftes Gesichtsfeld, in dem uns weniger die Namen der tausende darin sichtbaren Zacken interessierten, sondern mehr die herrliche Beleuchtung fesselte, die in das strahlende, vielfach getönte Weiss überall schwere blaue Schatten verschiedener Dichtigkeit zeichnete und damit alles ungemein plastisch wirken liess, kurz gesagt, den ganzen unbeschreiblichen Zauber winterlicher Hochlandswelt bot. Sonntag war 's heute, ein gnadenerfüllter Sonnentag, Feiertag der Seele, der hier sich immer neue Wunder an Einfachheit und Grösse der Natur erschlossen. Wie sagte doch Goethe: « Wenn ihr 's nicht fühlt, ihr werdet 's nie erjagen! » Konnte Rollin seinen 21. Geburtstag besser feiern als hier oben, wo in leuchtender Schöne sein Vaterland, das ihm heute die politischen Rechte bot, zu Fussen lag, das Land der Freiheit und gesunden Entwicklung. Jauchzend scholl sein Juhschrei hinaus, grüsste die Berner- und Walliser- ebenso wie die Glarner- und Tessinerberge, die sich rings zeigen, bis unser beider Augen immer wieder gebannt an der breiten Griesgletschermulde hingen, die da neben dem breiten Kühbodenhorn sich zeigt. Jedem Skifahrer muss ob der Pracht dieser Linien, die das Blindenhorn überhöht, das Herz lachen. Wir schworen es uns denn auch, es bald dort drüben mit Ski zu versuchen.

Doch die Sonne stand schon tief, mahnte zum Aufbruch und liess nach letztem Blick über die steile Ostflanke uns rasch durch die Couloirmitte absteigen, was besser als in den plattigen Felsen ging. Schon um 4 Uhr standen wir unterhalb der Steilrinne und hatten nach weitern 20 Minuten die Moräne wieder erreicht. Jäh geht 's von da in die Tiefe, doch das war uns recht, denn wir wollten ja den Zug 7 Uhr 20 in Airolo noch packen. Trotzdem mussten wir doch immer wieder aufschauen, wie langsam einer der hohen Berge nach dem andern hinter dem Walle der Bedretto-Trabanten verschwand, die nur oben noch brennende Lichter trugen, während drunten alles schon in blauer Dämmerfarbe schwamm. Wieder hemmte der Pulverschnee am Piano secco unser Abwärtsstürmen, doch dem folgten die jähen Hänge über dem schon vernehmlich rauschenden Tessin, wo wir im letzten Zwielicht zwischen den Waldbeständen hinabtorkelten, bis ein Lichtlein freudig von uns begrüsst ward. Forni war vom Ospizio noch nicht abgezogen und konnte mit einigen Litern heisser Milch uns laben, denn nun musste doch endgültig auf den Abendzug verzichtet werden. Um so grössern Genuss hatten wir dann, um eine köstliche Erinnerung reicher, gemächlich talaus bummelnd, leuchtenden Mondschein zu Häupten.

IV. Blindenhorn und Basodino.

Eine unverdiente Nichtachtung haben diese beiden in entlegenen Gebieten aufragenden Bergstöcke vom Gros der Alpenfreunde erfahren, denn dem, den lange Anmärsche und karge Unterkunft nicht schrecken, bieten sie den Zauber der Einsamkeit, gepaart mit einer Fülle schöner Landschaftsbilder und prächtiger Rundsichten, so dass jeder, der einmal da weilte, gern wiederkehrt. Wer für diese Gruppen sich weiter interessiert, sei auf O. Hugs verdienstvolle Arbeit im « Ski 1923 » verwiesen, wo zahlreiche dankenswerte Aufschlüsse gegeben werden. Mir aber sei hier gestattet, einige Episoden aus meinen sechs Fahrten zur spröden Schönen ob dem Griespass zu schildern.

Ein jeder weiss, dass das Bedrettotal lang ist, doch bietet es viele geheime Reize. Wenn man dann wintersüber das Glück hat, Forni auf All' Acqua zu wissen, so ist damit eine gute Wegteilung geboten. Auch wir hielten es so, als eine internationale Verschwörung gegen den Gesellen ob dem Gries zustandekam. Ernst, der Schweizer, pilgerte gemeinsam mit dem Holländer Speken, dem Italiener Carlo Eng, dem Österreicher Schloss und dem Tedesco Rgr. nach genannter letzter Raststätte. Mondzauber lag über dem schlummernden Tale und hob unsere Zuversicht. Doch wie nach kargem Schlaf die kleine Kolonne aufbrach, schlug warme Luft mit schwachem Schneetreiben ihr entgegen, das mit dem Erreichen der Val Corno, wo die bequeme Talwanderung endet, in soliden Schneesturm überging. Die Entlegenheit der Gegend liess uns für Weitermarsch entscheiden. Steil geht 's nun, getreulich die Ablösung der schwer Spurenden kontrollierend, hoch. Doch im obersten Teile des Tälchens hatten wir gegen den immer stärker werdenden Weststurm derart anzukämpfen, dass angesichts der grossen Unsichtigkeit eine Fortsetzung Unsinn gewesen wäre. Ein längerer Halt am Valdoeschpass, der uns hinter den grossen, verblasenen Blöcken notdürftige Deckung gegen das Rasen der Eisnadeln bot, ergab schliesslich Übereinstimmung meiner Meinung. Die nach langer Beratung angetretene Rückfahrt zeigte uns erst recht die Steile unseres Anstieges im Cornotal, dem dann gemächlicheres Talauswandern nach Airolo folgte, denn Forni war bereits wieder abgezogen, und wir konnten nicht mehr wie weiland Hœk und Reichert, seine Astiflaschen aufstöbern. Das war der erste Streich!

Der zweite Angriff fallierte gleich eingangs. Blendendstes Osterwetter hatte uns die Querung des Berner Oberlandes auf Ski ermöglicht. Wie wir dann von der Furka aus zum Blindenhornangriff ansetzten, kam jäher Umschlag, und die hohe Lawinengefahr hielt uns ab, den Cavannapass als Einfallstor ins Bedretto zu wählen. Da das Wetter schlecht blieb, musste auch ein schwacher Versuch, von Airolo aus hineinzugelangen, bald aufgegeben werden, die zweite Enttäuschung bringend.

Ein drittes Mal ging ich Ende April einsam nächtens hinein nach Ronco zum Forni, wo Engelmann und Ernst bei Salami und Rotwein schon warteten. Das war mir schon lieber als der unterwegs einsetzende, strömende Regen. Resigniert quartierten wir uns in unheimlich engen Betten ein, unternahmen am nächsten Morgen einen schwachen Versuch, über All' Acqua vorzudringen, mussten aber einsehen, dass das schlechte Wetter doch konstanter als unserer Wille war, und bummelten niedergeschlagen zurück, die Ski liessen wir aber wohlweislich hinten im Tale.

Dies war auch der Anlass zu einem vierten, ernstlichern Versuch, der Ende Juni 1908, also quasi als Sommerskitour, unternommen ward. Wieder zogen Engelmann und Ernst mit hinan, zwei Mailänder Freunde schlossen sich an, und unser Quintett war trotz des unterwegs zweifelhaft werdenden Wetters guten Mutes. Hinter Ronco verstummte aber das lustige Geplauder, die gespickten Rucksäcke wurden fühlbar, dass jeder froh aufseufzte, als Forni auf unsern Zuruf « Amici! » in All' Acqua uns öffnete. Andern Tags grüsste blauer Himmel, weisse Wolken segelten in langen Streifen über ihn, auf den neuschneeverkleideten Gipfeln der Valleggiagruppe lag blendende Sonne. Nun ward 's Ernst! Herzhaft stiegen wir nach dem eintönigen Talmarsche in die Val Corno hoch, von hier ab die drunten verstauten Ski nutzend, die im meterhoch noch liegenden Schnee recht willkommen waren. Welcher Gegensatz eine Viertelstunde früher, wo wir bei Cruina in blühenden Alpenrosen gelegen, deren leuchtendes Rot so eigenartig zu dem frischen Grün der Talsohle, den sonnglitzernden Schneegipfeln und dem blauen Himmel darüber kontrastierten. Rasch kamen wir in dem nun bekannten Gelände hoch. Die Passhöhe unterm Nufenenstock bot jetzt freien Ausblick gen Westen, wo über die weite Griesgletschermulde rastlos Wolkenschatten wanderten. Das Blindenhorn selbst blieb verdeckt, nur sein markanter Ostpfeiler, das Bettelmatthorn, fesselte im Abstieg zum Griespass unsere Blicke fortgesetzt. Nach kurzem Anstieg ward drüben an seinem Fusse in der südlich vorgelagerten Moräne alles für die Blindenhorntour Mitgeschleppte, wie Ski, Felle usw., vergraben und sofort der Abstieg südwärts fortgesetzt, der zuerst steil über Schnee, dann durch ein jähes Couloir auf aperes Gelände führt, wo der Griespassweg erreicht wird.

Bei quellendem Wässerlein ward hier abgekocht. Inzwischen genoss ich ungestört die ungemein stille grosse Landschaft.

Wie einem Guss entstammend, thront hier das mächtige Banhorn über dem Hohsandgletscher, glatt gescheuerte Riesenplatten am Fusse besagen deutlich, dass Jahrtausende zuvor das Eis hier in mächtigem Strome sich um die Ecke gezwängt haben muss. Verschiedene Talstufen sind ferner nach Süden zu überblicken, die ins Formazzatal leiten, sonst imponiert der Fleck besonders wegen der eindrucksvollen Einöde. 3 Uhr war 's, als wir weiter trollten, die Rasenhänge zur Bettelmattalp hinunter, dann den Pickel lässig unterm Arm, leichten Sinnes den schmalen Pfad über den letzten Stutz, Lawinenreste querend, an Alpenrosen-halden die roten Blüten pflückend, zu den verlassenen Hütten von Morast, hinter denen bald der Giacomopassweg hinzustösst. Wenig später, nachdem auf grossen Steinplatten der wassertriefende Boden, in dem der Tosabach reizende Mäander schlingt, überschritten, steht man am stillen Hotel an der Frutt.

Hier stürzen in mächtigem Falle zirka 150 Meter Höhe verlierend, die stark angeschwollenen Toggiawasser zur nächsten Talstufe. Zwei breite volle Schleier formend, geben sie ein wundervolles, stark an Skandinavien erinnerndes Landschaftsbild. Hell schien bei der Ankunft warme Sonne auf das packende Bild. Eine Stunde darauf strömte wieder feuchtes Nass vom Himmel, doch verging uns der Tagesrest rasch. Frühzeitig ging 's zur Ruhe, denn schon um 2 Uhr nachts war Tagwacht. Doch nur 3 Mann stiegen um 3 Uhr 15 in der stockdunklen Nacht mühsam den kaum zu findenden Pfad zur Gigeinalp an. Dort liess ein neuer Dauerregen die Begleiter streiken, doch mir war 's bei der schweren Erreichbarkeit dieses Winkels um Durchdrücken der Fahrt zu tun. Es gelang schliesslich auch, die Freunde in Richtung auf den Pizzo Cavergno mitzuziehen, wo das Terrain sich am besten anliess. Mählich leiten hier Buckel und Rinnen unter die hohe Felsmauer, die vom Kastelhorn bis zum Tamierhorn eine pralle Flucht bildet und der die Basodinospitze als höchster Punkt entragt.

Die Wand selbst sieht unzugänglich aus. Mit gegenseitigem Anfeuern kamen wir an ihrem Fusse trotz des schlechten Schnees relativ gut hoch, nur erforderten die Anstrengungen mehrfache Rasten. Die nutzte ich gut, mir die Formen der Banhorngruppe über dem Tale einzuprägen, die hier äusserst wirkungsvoll ins Blickfeld treten. Hocherstaunt über diese im verstecktesten Winkel gelegenen wilden Schönheiten, notierte ich die Berge für einen demnächstigen Aufenthalt, vergass aber nicht zum Kastelhorn aufzuschauen, das die lange Felswand nördlich sehr gut abschliesst. An seinem Fusse blaut der grosse Kastelsee, der seine stillen Wunder nur den Zähen weist. Neugestärkt ging 's dann zu weiterem Stampfen, denn der Anstieg auf dem Gletscher wurde jetzt direkt ermüdend. Wäre nicht ab und zu ein blauer Fleck am nüchternen Himmel erschienen, hätten sicher die Bedenken der Kameraden meine Hartnäckigkeit überstimmt. Doch nun zogen wir schon an den letzten steilen Hängen — der wenig markante Schrund war rasch passiert — im grossen Haken unterm Grat direkt hoch, zum Schluss in bröckligen, miserabel geschichteten Felsen zu einer Lücke haltend, von der man schon in die Ostfront des Berges hineinsehen konnte.

Ein Aufwallen der die Grathöhe umwogenden Nebel zeigte, dass wir den richtigen Ort gewählt hatten. Bald standen wir, die letzten Granitblöcke hinan-turnend, auf Basodinos Höhe ( 3277 m ) und konnten kurz nach Mittag uns da von der fortgesetzten, scharfen Arbeit etwas erholen. Zu sehen war ohnedies kaum etwas, es sei denn der felsige Grat erwähnenswert, der südwärts zum Tamierhorn leitet und sich einige Male leicht entschleierte. Das hätte eine feine Abstiegskante gegeben, wäre nicht die starke Neuschneeauflage in den scharfkantigen Blöcken gewesen. Auf der Ostseite zeigte sich mehrere Male die Alpe Robbiei, der Ausgangspunkt für die von Osten kommenden Tessiner Freunde. Ausser der zum Kastelhorn ziehenden Felsenmauer sah man nichts mehr, doch befriedigte uns die Genugtuung vollkommen, trotz Wetterungunst wieder einen Gipfel erobert zu haben. Als nach rasch vergangener Halbstunde wir gemäss unserer Gewohnheit eine andere Route zum Abstieg suchten, verleitete der westlich direkt zum Gipfel ziehende Firnhang zu einem Versuch. Jäh zieht der Hang talab. Mit dem Gesicht an der Wand ging 's vorsichtig hinunter. Nur langsam kamen wir vorwärts, rutschten doch fortgesetzt links und rechts grössere Schneelager zu den drunten ansetzenden Rinnen, kleine Lawinenzüge formend. In kurzen Abständen drang dazu das Geknatter der Lawinen herüber, die der Pizzo Cavergno abschüttelte. Da heisst es kaltes Blut bewahren und keine Überstürzung aufkommen lassen. Wie denn endlich die Neigung schwächer ward, konnten wir, jetzt zurückschauend, erst erkennen, wie beträchtlich der Fallwinkel dieser Firnwand tatsächlich gewesen.

Des Stampfens müde, warf ich hier Ernst das Seil zu und jagte den Freunden über den Firnbrei voraus, oft darin versinkend, oft durch ihn zu Fall kommend. So war ich heilfroh, an aperen Moränenblöcken auf die Nachkommenden unter dem grossen Kessel warten zu können, zu dem die Steilcouloirs des Cavergno in regelmässigen Abständen Lawinen zu Tal sandten, Eis und Felstrümmer mit sich reissend. Vom sichern Port aus war das ein prächtiger Anblick. Gemeinsam trollten wir dann in fürchterlicher Hitze zu Tal, die ersten Streifen aperen Landes froh grüssend. Lange Wolkenfahnen zogen droben an unserem Gipfel, unter dem unsere Doppelspurenreihe klar aus dem Firnweiss sich hob. Über dem Tal reizten uns wieder die Banhörner mit den zersplitterten Zacken des Neufelgiustockes, dann tauchten wir um 5 Uhr in kühle Zimmer der Frutt unter, denn selbst für unsere, an krasse Wechsel gewohnten Gesichtshäute, waren die heutigen Angriffe der Lichtreflexe schmerzhaft zu verzeichnen.

Vertrauensvoll schauten wir zum aufklärenden Abendhimmel, gingen zeitig zur Ruhe, um schon 12 Uhr 30 wieder munter zu sein. Nüchternen Magens ging 's gegen den Griespass zurück, lau war die sternlose Nacht, und schon bei den Hütten von Morast erwischte uns Schnürlregen. Über feuchte Weiden, glitschige Hänge, tropfende Alpenrosenstauden ging 's schweigend weiter zur kleinen Ebene von Bettelmatt. Während Orsi hier das Frühstück bereitete, inspizierten Ernst und ich die ärmlichen Hütten, entdeckten ein wenig Heu und waren flugs auf den Sennpritschen wieder schlafumfangen. Eine Stunde darauf konnte den andern mit Mühe ein Schluck heissen Trankes abgejagt werden, dann ging 's in stetem„ eindringlichem Riesel weiter bergan. In grosser Eile zogen droben zerfetzte Wolken am trüben Morgenhimmel, bald machte sich auch sehr kalter Wind bemerkbar, und wie nach manchem Gestöhn unser Depot an der Moräne unter dem Bettelmatthorn erreicht war, schlug dichtes Wolkenmeer über uns zusammen. Doch wir liessen uns nicht entmutigen, harrten bei stetem Abkochen zwei Stunden im Schutze einiger riesiger Blöcke aus, bis mit einsetzendem, dichtem Schneetreiben die Aussichten noch schlechter wurden und wir resigniert eine weitere Abfuhr verzeichnen mussten. Wütend schüttelten wir die frostigen Fäuste in der Richtung, wo vermutlich das tückische Blindenhorn lag, und zogen zur Griespasssenke ab. Wenig später zwang eine mächtige, unsere Aufstiegsspur deckende Lawinenbahn unterm Grieshorn zum raschen Ausweichen. Die vom Valdoeschpass folgende Abfahrt entschädigte uns dann einigermassen für die entgangenen Skigenüsse im Gries, doch hartnäckig verstauten Ernst und ich in der verblasenen Alpe Corno unsere Ski und reinigten die Pritsche vom vereisten Winterschnee in Voraussicht kommender Dinge, den unterdessen ins Heu der Cruina-Alp sich ahlenden Kameraden nachhastend. Strömender Regen erfreute uns weiter, bis All' Acqua mit heisser Minestra uns retablieren konnte, wo als Vorschuss für kommende Blinden-hornfreuden auch Asti nicht fehlen durfte. Mit nassen Sachen, vollen Magen und heissen Köpfen rannten wir dann das jetzt endlos uns dünkende Tessintal nach Airolo. Gottlob, dass überall strömender Regen uns beschieden war und neidlos an die abermals verpfuschte Blindenhornfahrt denken liess.

Zwei Wochen später trieben unsere Testi duri wie die Sorge um die deponierten Ski Ernst, Orsi und mich wieder nach All' Acqua, wo unser vergebliches Werben um das Blindenhorn schon sagenhaft geworden war. Sonne noch an den Seen, Regen in Airolo, strömendes Nass im Bedretto, das war die Signatur des Anmarsches. Verärgert legten wir uns mit den nassen Sachen in Fornis enge Bettchen, schliefen ein paar Stunden, um erstaunt ein paar Sterne am Morgenhimmel noch zu sehen. Darum wagten wir einen Versuch im neuschneeverkleideten Tal, erreichten im kühlen Morgen auch gut das Skidepot, doch beim Weitersteigen zum Val-doesch erwischte auch uns jener greuliche Wolkenwurm, der von Airolo von Süden hereindrang und trieb uns Schnee und Eiskristalle mit beissigem Wind bei der Abfahrt zum Griespass derart ins Gesicht, dass wir stutzig wurden, bis die verdächtigen, dumpfen Rucke der Neuschneehalden wiederum hohe Lawinengefahr verkündeten. Meine Freunde waren arg verdutzt, dass gerade ich, der sie sonst immer vorwärtstrieb, zur Umkehr mahnte. Aber was sollten wir auf der stark vernebelten Griesgletschcrfläche machen?

Völlig niedergeschlagen kehrten wir diesmal heim. Schwer lasteten die tropfenden Ski auf den durchnässten Schultern. Tragikomisch aber war 's, Ernst im Talmarsch zu sehen, der mit Ski, Pickel, Rucksack und einem irgendwo aufgetriebenen, vorsintflutlichen Regenschirm bahnwärts zog, zum Glück uns immer neuen Anreiz zum Lachen gebend.

Die steten Niederlagen an einem nicht schweren Berge hatten mich zu guter Letzt gereizt, und wie dann nach dem Verschlagen in nördliches Flachland die alte Betätigung wieder aufgenommen werden konnte, gewann das Blindenhorn-projekt neue Zugkraft. In vielstündiger Schnellzugsfahrt ratterte ich Tag und Nacht von Brüssel nach Airolo und traf dort am Weihnachtstage 1913 einen Mailänder Freund. In bitterer Kälte wanderte man gemeinsam nach AH'Acqua, bedauernd, dass die leidigen Unterkunftsverhältnisse so tief ins Tal bannten, statt auf dem noch gut erreichbaren Valdoeschpass nächtigen zu können. Klappernd vor Frost, doch hoffnungsfroh zog nach scheusslicher Rast das Duett in dunkler Nacht die steile Val Corno hoch gegen schweren Sturm hart ankämpfend. Bei der Alpe Corno war wenigstens die ärgste Schinderei des direktesten Anstieges in steilen Rinnen vorbei. Während hier die ersten Morgenlichter hereinfluteten, rasteten wir kurz. Auf den Höhen musste rasender Sturm fegen, wir sahen es am Rotondoturm, an dem lange Wolkenfahnen hin und hergefetzt wurden. Doch die arge Kälte sorgte für baldigen Aufbruch. Um 8 Uhr 15 war bereits voller Tag, der gutes Wetter versprach, was uns weiter antrieb, den Valdoeschpass zu erreichen. Wenn man von da nach all den Irrfahrten das Ziel in solch blendender Sonne liegen sieht, schaut man wie in Traumland hinein. Lange, seitliche Schatten der Gletscherwächter lagen auf der weiten Gletschermulde, zu der wir mit wachsender Zuversicht abfuhren, drüben unterm Bettelmatthorn eine zweite Rast einschaltend, denn nun kam der ermüdendere Teil.

Grausam rasch verfliegen die kostbaren Stunden der kürzesten Wintertage dem Alpenskimann. Um 10 Uhr 40 brachen wir wieder auf, Sonne und Ruhe hatten uns gestärkt für die letzte Etappe. Direkt die Mitte des breiten Gletscherstromes einhaltend, geht 's in leichter Steigung, fast ungeniert von wenigen offenen Spalten, die verschiedenen Firnterrassen hinauf. Am Griespass war der Schnee sehr verblasen, doch in den Mulden ward er ausgeglichener, dass die stärkere Steigung kaum aufhielt. Nur die mählich in den Firnkessel brütende Sonne brannte so derb herein, dass sich mir bald starke Müdigkeit aufzwang. War's die Hetze der Anfahrt oder der direkte Angriff auf grössere Höhe vom Meeresniveau aus? Kurz, es bedurfte grosser Energie, dem leicht vorauseilenden Br. hier zu folgen. Guten Vorwand zu öftern Halten gab wenigstens die immer famoser sich entwickelnde Aussicht, die uns die schweren Mühen reichlich vergalt.

Schon am Griespass, wo die Dammakette nordwärts grüsst, konnte ich Br. das machtvolle Schreckhorn zeigen, dann entwickelte auf der nächsten Firnterrasse sich das Basodino-Massiv wundernett, und wie beim Höherkommen einer der Griestrabanten nach dem andern versank, tauchte auch in der Lücke zwischen Merzenbachschien und dem ersehnten Blindenhorn das edle Finsteraarhorn nebst andern Berner Bergen auf. Über der breiten Griesmulde aber, die unsere schmale Doppelspur durchzog, entwickelten sich neben den Tessiner- und Gotthardgipfeln die Glarner- und Bündnerketten. Vom Merzenbachschien führt die Trasse dann südlich in den Sattel zwischen Sidelrot- und Blindenhorn. Der hier fegende Höhenwind tat nach Verlassen des glutdurchzitterten Firnkessels uns wohl, und wie wir jetzt den letzten Hang unterm Blindenhorn vom Hochpass westlich hochhielten, da zeigte sich jetzt auch Neuland in dem weiten Becken des Ofen-Hohsandhornes, so dass ich nur bedauerte, keine Zeit mehr zu haben, auch dies wohl sehr dankbare Gebiet mit Ski etwas erkunden zu können.

Langsam wandten wir uns die letzten stark verblasenen Halden am Blinden-horngrat hoch, der Gangeln froh, die das Rückrutschen verhinderten. Immer weiter ward der Blick nach Westen auf das Wallis, gegen die Rhonesenke und die Berner Berge, doch die bereits tiefstehende Sonne schreckte immer wieder aus der Beschaulichkeit auf. Schön ist am Blindenhorn, dass es mit Ski bis zum Gipfel begangen werden kann, nur sollte man, um im Geniessen der Rundschau schwelgen zu können, sich andere Jahreszeit wie wir damals aussuchen, denn als ich den vorausgeeilten Br. am Gipfel auftauchen sah, zeigte mir ein Blick auf die Uhr bereits 4 Uhr. Solch vorgerückte Zeit am kürzesten Wintertag in dieser Höhe ( 3384 m ) erfordert rasches Handeln. Kaum, dass wir der immer blendendem, immer weiter sich dehnenden Rundschau noch einen bewundernden Abschiedsblick geschenkt, ward talwärts gerast zu den Säcken am Pass. Von da ging 's in der Anstiegsspur in Windeseile die grosse Gletschermulde zum Griespass hinab. Rauschen dröhnte in den Ohren, wie eine Gletscherwelle nach der andern durchpflügt ward, die Berge wieder rasch höher wuchsen, bis die verblasenen Flächen drunten am Pass unsere Knie stark beanspruchten. Ein reiner Genuss war diese lange Abfahrt geworden, wenn auch die starken Gangeln, der oft ungleiche Schnee unsere Sehnen ordentlich mitnahmen. Doch die Freude, Beherrschung alpiner Fahrweise hier beweisen zu können, spornte die beiden Fahrer immer wieder an, ihr Bestes gegenseitig zu zeigen. Einen einzigen Stern sah ich Br. während langer, brausender Fahrt schlagen, alles andere konnten die federnden Knie wundervoll abfangen und ausgleichen.

So war 's denn endlich wahr geworden, der Sturm geglückt. Dessen froh, hielten wir hier bei der Moräne kurze Zeit, denn während langer Stunden hatte keiner von uns an Wärmezufuhr, gleich welcher Form, gedacht. Um wieviel leichter, genussvoller müsste eine solche Tour sein, stünde hier eine kleine Hütte. Doch die Sonne war schon gesunken, rasch kam der Abend, dunkel färbten sich die Berge, über denen ein apfelgrüner Streifen stand, die Verbindung zum rot-lodernden Westhorizont abgebend, von wo unser Blindenhorn als pechschwarzes Dreieck herabschaute, während im Tessin blaugrau schon die Nacht herankroch. Wieder standen wir wenig später auf dem Valdoeschsattel, ein letztes Mal das wie eine Sphinx mich anmutende Blindenhorn grüssend, das so oft mich anzog, nun den Zugang zu seiner weitschauenden Höhe gestattet und doch mich nicht restlos befriedigt hatte. War's die Anstrengung, die Hatz am kürzesten Tag oder die Reaktion, die nach solch langem Werben um jene Zinne jetzt eintreten musste? Und doch blieb ich dem Geschick dankbar, dass es mir solch strahlenden Wintertag wieder geboten.

Aber die Schlussabfahrt in die Nacht hinein erforderte volle Aufmerksamkeit. Kalt standen die Berge ringsum, nur im Norden lief noch Abglanz des Dämmer-rots. In wesenlosem Grau fuhren wir dem Tessin entgegen. Tückische Gangeln hielten in Atem, Sturm toste wieder um uns. Krumm vor Frost, der uns schlottern liess, reagierten die Finger kaum noch. Übergehen wir die Leiden der nächtlichen Abfahrt durch die Val Corno, des Ausmarsches nach All' Acqua, wo Forni uns nicht einmal eines seiner armseligen Betten reserviert hatte. Hundemüde lenkten wir andern Tags die Ski zum Gotthard, neuen Zielen entgegen. Doch die am Griesgletscher empfangenen, tiefen Eindrücke wichen nicht von uns; manch tristen Alltag erhellten sie uns, den Namen Blindenhorn uns so wertvoll gestaltend.

Noch oft bin ich mit Pickel und Ski in jenen vernachlässigten Bergen herumgezogen. Bergfreude habe ich dort genossen, Bergsehnsucht fasst mich, denke ich der Stunden dort, die jetzt mich treibt, des Geschauten zu erwähnen, damit auch andere sich dieser Berge und Gruppen erinnern möchten.

Es sind nicht jene begehrten Gipfel, die mit scharfgeschnittenem Klettergerüst oder drohenden Eisflanken den Wagemut unserer Jungmannen herausfordern, aber wirklicher Genuss winkt auch hier, wo die Eigenart der Berge zur innern Verarbeitung empfangener Anregungen und Gedanken zwingt. Dem Alpinismus von heute aber tut es gut, dass man ein wenig in der Tiefe schürfe, über die der Strom der Mode rasch hinwegspült. Tauchet, ihr Bergfreunde, hinein in diesen Gesundbrunnen!

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