Bemerkungen zu der Zeichnung : Blick vom Furkapaß auf das mittlere Aarmassiv
Durchblättern wir Bücher, die 100—200 Jahre alt sind, und die sich mit den Alpen abgeben, so finden wir darin Gebirgszeichnungen, die uns sonderbar anmuten. Die Böschungen sind meist stark übertrieben, die Formen sonderbar verzerrt. Meistens ist Linienzeichnung, verbunden mit starker Schraffur, angewendet. Der Zeichner hat mit Bleistift nach der Natur gearbeitet, nachher ein in der Kunst geübter Stecher das Bild zur Vervielfältigung vorbereitet. Wollte man allen den Versuchen und Richtungen nachgehen, man würde zu einer interessanten, vielfach unsicher tastenden Geschichte der Auffassung und Darstellung der Berge kommen. Allmählich haben sich die Zwecke klarer differenziert — einerseits Wissenschaft im weitesten Sinne des Wortes mit dem Endziel der Erkenntnis der Wahrheit, anderseits Kunst mit dem Endziel der Schönheit und als ein späterer Nebenzweig Reklame. Gleichzeitig ist die Technik fortgeschritten und hat sich differenziert in sehr viele verschiedene Methoden. Ja, es ist durch die Photographie nach der Natur und die Übertragung des photographischen Bildes zur Reproduktion auf Stein oder Zink sogar für viele Darstellungen das Auge des Beobachters, der Stift des Zeichners und Stechers und der Pinsel des Malers ausgeschaltet worden, und die Photographie hat es so weit gebracht, daß im Gebirge fast alle photographieren, fast niemand mehr zeichnet! Wir bedauern es nicht, daß so viele photographieren, wohl aber, daß so wenige zeichnen! Das Zeichnen ist die Schule des Sehens, die Schule der Beobachtung. Nur, was man genau zu zeichnen versucht, sieht man nicht bloß mit dem körperlichen Auge, sondern mit Geist und Bewußtsein an und prägt es sich ein. Die Schönheit oder Vollkommenheit des gewonnenen Bildes kann dabei Nebensache bleiben, der Gewinn liegt in der vertieften Auffassung, die uns das Zeichnen übermittelt hat. ( Vgl. Alb. Heim „ Einiges über Panoramen ", Jahrbuch des S.A.C. 1873; und „ Sehen und Zeichnen ", Vortrag B. Schwabe, Basel. ) Bei der Abbildung von Bergen oder auch anderen Gegenständen im Interesse der Wissenschaft gibt es viele Fälle, wo die Handzeichnung nicht mit der Photographie konkurrieren kann, aber auch ebensooft solche, wo die Photographie die Handzeichnung nicht erreichen und nicht ersetzen kann. Das letztere hat sich schon früh bei der Aufnahme von geographisch-orientierenden Gebirgspanoramen gezeigt. Die Photographie ist eben ein Kind des Momentes. Sie hängt ganz ab von der augenblicklichen Beleuchtung, und sie gibt den augenblicklichen Effekt. Dabei hüllt sie manche Teile in dunkle Schatten, in dem keine Einzelformen mehr zu erkennen sind; andere, im Streiflicht gestandene Teile erscheinen übergrell gezeichnet und reich an Einzelheiten, wobei die Auswahl oft so fällt, daß eine ganz bedeutungslose Kleinigkeit im Bilde das weit Wichtigere und Bezeichnendere mächtig übertönt. Der Zeichner kann das Wichtige herausheben, der Photograph nicht. Letzterer ist ausgeliefert an alle Zufälligkeiten der momentanen Beleuchtung. Der Beschauer, der bei anderer Sonnenstellung den gleichen Berg betrachtet, sieht daran ganz andere Dinge. Man müßte für das Panorama jede Gruppe bei mehreren verschiedenen Sonnenstellungen aufnehmen, um alles an Formen auf den Platten zu erhalten, was der Berg bietet. Allein die drei oder vier Bilder lassen sich nicht übereinander in einem Male sehen. So schön Schatten neben dem Licht wirkt, so sehr jede künstlerische Darstellung oder jedes auf packenden Effekt berechnete Bild des Schattens bedarf, so sehr ist er uns im Wege bei wissenschaftlicher Darstellung eines Berges, bei Zeichnung von Panoramen. Da suchten wir immer nach einer Darstellungsart, die die Formen alle unabhängig von Beleuchtung, frei vom Momente wiedergibt, die den Berg nach seiner Form und nach seinem individuellen Charakter so darstellt, daß man ihn bei jeder Beleuchtung danach erkennen kann. Heinrich Keller hat in seinen trefflichen Panoramen wohl zuerst bewußt die Bergzeichnung unabhängig von Beleuchtung betrieben, und er hat dann Töne und Schraffuren nicht zur Formwiedergabe, sondern nur zum Ausdruck der geographischen Entfernungen benützt Ihm ist in diesem Sinne J. Müller-Wegmann nachgefolgt, und eine ganze Schule hat sich in die Lösung des Problems vertieft. Oft haben wir, ich selbst, dann X. Imfeid, S. Simon, Alb. Boßhard, Ludwig Schröter, Karl Meili etc., wenn es galt, noch eine kräftige Plastik in das Bild zu bringen, den Berg erst ganz nur in Linien, unabhängig von der Beleuchtung, fertig gezeichnet und dann noch als einen nebensächlichen, aber gut wirkenden Schmuck scharfe Kanten oder Furchen durch schattierenden glatten Ton oder durch wirkliche Farbtöne hervorgehoben. Für rein wissenschaftliche Zeichnungen ( z.B. von Alb. Heim im „ Mechanismus der Gebirgsbildung " und in „ Beiträge zur geologischen Karte der Schweiz ", Bd. 25 und neue Folge 16, von Arnold Heim ebendort, neue Folge, Bd. 20 etc. ) hat sich uns stets als das Erstrebenswerteste die reine Linienführung erwiesen, in welcher die relativen Entfernungen nur durch die Stärke der Umrißlinien und teilweise Stärke und Menge der inneren Linien zum Ausdruck gebracht werden. Auch ein solches Bild gewinnt sehr an Tiefe bei Betrachtung mit bloß einem Auge. Der große Vorteil für wissenschaftliche Zwecke liegt dann darin, daß irgendwelche Bezeichnungen, z.B. der Gesteine, durch Farbtöne keinem Hindernis begegnen und durch keine Schattierung in ihrer Eindeutigkeit gestört werden.
Die bisher erreichten extremen Endglieder der verschiedenen Darstellungsarten von Bergen im Bilde sind somit:
I. In künstlerischer Richtung: Das Farbenbild ohne Umriß und Strich-linien, nur in Farbtönen oder, in einer gewissen Annäherung bei der Photographie, in Tonwerten. Die Darstellung durch Flächen verlangt Töne und bestimmte Beleuchtung. Gewiß ist diese Darstellungsart, die ja auch genaue Wahrheit geben kann, unserem Sehen selbst am besten angepaßt. Da entstehen die Linien nur als Grenzen verschiedener Töne. Töne sind an Beleuchtung, Beleuchtung an Moment gebunden.
Das Kunstbild aus dem Gebirge soll eine typische Stimmung der Landschaft geben. Der Künstler hat das Recht, nicht nur die Beleuchtung zu wählen, er darf auch Bäume, Hütten, Berge versetzen oder anders formen, wenn er nicht eine bestimmte Gegend uns vorführen will, sondern einen Typus. Nur muß er die Grenzen des Möglichen einhalten, denn alles Unmögliche stört und wirkt auf ein geübtes Auge sogar häßlich. Nach meiner Erinnerung habe ich freilich schon hunderte schöner Kunstgemälde von Gebirgslandschaften gesehen, bei denen aber schöne charaktervolle Bergformen oft mißverstanden und etwas verdorben waren, aber noch kein einziges, wo es dem Künstler gelungen wäre, eine natürliche Bergform veredelnd zu verändern.
II. In wissenschaftlicher Richtung: Die Linienzeichnung frei von jeder besonderen vorübergehenden Beleuchtung. Wenn wir die reinste Ausbildung dieser in gewissem Sinne abstrakten konventionellen Darstellungsart suchen, so kommen wir zu folgenden Anforderungen: Strengste treue Wahrheit der Zeichnung, keine Erfindung. Keine Linie soll bloß einem Beleuchtungseffekt dienen, keine eine bloße Schraffurlinie sein. Jede Linie muß aus Beobachtung hervorgehen, jeder Strich soll Form darstellen. Schon der Zug der einzelnen Linie soll Fels, Rasen, Schnee, Schutt unterscheiden lassen. Die relativen Entfernungen und die ungleichen Werte der Linien in der Form sollen nur durch ihre Stärke gegeben werden — Kanten stärker, Furchen schwächer.
Selbstverständlich sind nicht nur diese beiden Endglieder in den Reihen der bildlichen Darstellungen des Gebirges möglich. Je nach dem Zweck oder der Art der Durchführung sind auch eine Menge von Zwischentypen berechtigt und erfreulich. Die Mannigfaltigkeit ist immer schön, die Einseitigkeit verwerflich.
Viele Menschen empfinden beim Anblick von Bergen nur Beleuchtungseffekte, und wenn sie zu zeichnen versuchen, so beginnen sie nach dem ersten Umriß gleich mit Schraffieren. Man ist verwöhnt und verführt durch die Photographien. Wer aber einen Berg recht verstehen will, muß tiefer eindringen. Dazu ist das beste und leichteste Mittel die Linienzeichnung mit Bleistift auf Papier, nicht die Nachahmung der Photographie. Unser Bild soll den Photographieverwöhnten vor Augen führen, daß auch bloße Linienzeichnung den Bergkörper mit allen Charakterformen festhalten und wiedergeben kann, und daß sie der Photographie vielfach überlegen ist. Unser Bild wurde in einem Male in 2!/2 Stunden unter Zuhülfenahme des Fernstechers nach der Natur gezeichnet. Um alle darin enthaltenen Formen auf die photographische Platte zu fesseln, müßten wir bei bester Witterung im Hochsommer etwa 4—6 Aufnahmen zwischen kurz nach Sonnenaufgang und vor Sonnenuntergang machen. Wir könnten aber niemals alles in ein Bild bringen, und in jedem Bild wären störende Beleuchtungszufälligkeiten vorhanden. Erst aus den verschiedenen Photographien könnte ein guter Zeichner das objektive vollständige Linienbild gewinnen.
Wenn wir einem Bergfreudigen Papier und Bleistift empfehlen, so erhalten wir gewöhnlich die Antwort: „ Hier ist meine Kamera " oder „ Ich kann nicht zeichnen ". Die letzte'Behauptung beruht vielfach nur auf der irrtümlichen Meinung, daß Stift und Papier in der Hand sofort, halb automatisch, ein richtiges Bild entstehen machten. So geht es auch bei dem talentiertesten Zeichner nicht! Richtig zeichnen bleibt auch beim Geübten eine bedeutende geistige Anstrengung, ist aber zugleich auch ein geistiger Genuß. Um das Bergzeichnen zu lernen, kopiere man zuerst am Tisch Stücke aus guten Panoramen, eventuell vergrößert. So lernt man am raschesten die Hülfsmittel der Linienführung zur Darstellung der Formen kennen. Dann gilt es, mutig nach der Natur zu versuchen. Erst geht es langsam. Das Bild braucht gar nicht schön zu werden, nur kenntlich. Wenn sich der Anfänger ernstlich zusammennimmt, wird er bald Resultate erhalten, die ihn freuen und die ihm und anderen nützlich sein können. In seiner Skizze kann er seine Anstiege einzeichnen und anderen erläutern. Ich erinnere nur an die nützlichen, einfachen, treulichen Linienzeichnungen von Karl Meili in einzelnen „ Klubführern ". Niemals betrachtet man die Formen so genau, niemals freut man sich so daran, niemals bleiben sie so gut in der Erinnerung, niemals erkennt man die gleichen Gipfel auch von anderen Standpunkten aus wieder so genau und sicher, als wenn man sie gezeichnet hat.
Zeichnen und Photographieren können einander niemals ganz ersetzen, wohl aber ergänzen. Möge das Zeichnen ob dem Photographieren nicht zu sehr in Vergessenheit geraten und in unsern Jahrbüchern auch das gezeichnete Bild in Ehren bleiben,Alb. Heim.