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Bergkameradschaft

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Ernst Bucher, Zürich

VORWORT Dies ist die Geschichte einer Rettungsaktion. Sie wird erzählt, um zu zeigen, wie vielfältig oftmals die Erlebnisse sind, die der Öffentlichkeit nur mit einer lapidaren Zeitungsnotiz zur Kenntnis gebracht werden. Gleichzeitig geht daraus hervor, wie unerwartet man tragischen Situationen gegenüberstehen und wieviel man mit gutem Willen und einigen elementaren Fähigkeiten ausrichten kann. Ausserdem illustriert der Bericht eindrücklich, wie schnell und sicher heute dank der Rettungsflugwacht und anderer moderner Hilfsmittel sowie der vorzüg- lichen Rettungsorganisation des SAC innert nützlicher Frist in Bedrängnis geratenen Alpinisten Hilfe gebracht werden kann. Um nicht in den Verdacht der Sensationshascherei zu kommen, habe ich mich bemüht, das Geschehnis möglichst objektiv zu schildern. Ich hoffe sehr, der geneigte Leser billige mir diese ehrliche Absicht zu. Dieser Aufsatz ist allen Beteiligten, vorab meinen Kameraden, für ihren selbstlosen Einsatz, gewidmet.

Das Wallis ist zweifellos das klassische Bergsteigerparadies der Alpen, nur ist leider eine etwas zeitraubende Anreise erforderlich, wenn man im Osten unseres Landes beheimatet ist. Aus diesen zwei Gründen hegten wir schon lange den Wunsch, einmal eine ganze Tourenwoche in diesem Gebiet zu verbringen. Wir -das ist eine kleine, interne Vereinigung von SAC-Mitgliedern gleichen Berufsstandes. An diesem Montag im August bestiegen unser acht bei monsunartigen Wassergüssen den Zug in Zürich. Das himmlische Nass war Reisebegleiter bis zur Rampe des Lötschberges. Gespannt war man auf die Wetterlage am andern Ende der Tunnelröhre. Bei Goppenstein schienen die Nebelschwaden in Bewegung zu geraten. In Brig, wo der letzte Kamerad zu uns stiess, begann der Bahnhofplatzasphalt eben zu trocknen. Je mehr sich das rote Züglein Zermatt näherte, desto blauer wurde der Himmel und um so aufgeräumter die Stimmung des reisenden Volkes. In frischem, schneeweissem Kleid grüssten die bekannten Häupter der Viertausender. Herrlich, wie gegen Mittag auf unserem Gang durch die Zermatter Hauptpromenade die wärmenden Sonnenstrahlen mehr und mehr durchbrachen und die Feriengäste in Unzahl ins Freie lockten! Nach ein paar letzten Einkäufen hiess es für uns: « Vo jetzt ah mues es obsi gah. » Und es ging bergauf, das wissen alle, die je den Weg dem Triftbach entlang unter ihre werten Füsse genommen haben. Angesichts der noch zu bewältigenden sechzehnhundert Höhenmeter bis zur Hütte war man nicht betrübt, teilweise im Schatten aufsteigen zu müssen. Die reissenden Wasser zeigten an, dass auch diese Region ordentlich geduscht worden war. Zahlreiche Wanderer aus aller Herren Ländern sorgten bei den Begegnungen für etwas Abwechslung, wurden doch oft ermunternde Scherzworte hin- und hergeworfen. Nachdem wir die Ruine des ehemaligen Hotels Trift hinter uns gelassen hatten, wurden Vegetation und Passanten immer spärlicher; dafür begleitete uns ein steifes, kühles Lüftchen, dem wir aber nicht gram waren, verdankten wir ihm doch sicherlich die Wetterbesserung. Während des letzten Teils des beinahe endlosen und steilen Moränenwegleins hatte jeder Musse, mit sich selber ins reine zu kommen. Bei einsetzender Abenddämmerung war die Rothornhütte auf 3200 Meter erreicht. Der liebenswürdige Willkomm durch die Frau Hüttenwartin liess bald einmal das Gefühl einer gastlichen Geborgenheit aufkommen. Eine kräftige Mahlzeit nebst Tranksame versetzte die Lebensgeister in aufgeräumte Stimmung. Es ist Bergsteigerbrauch, abends nochmals vor die Hütte zu treten, um nach dem Wetter zu sehen. Das wundervolle Sternenzelt versprach für den folgenden Tag nur Gutes. Mit dieser beruhigenden Gewissheit legte sich männiglich zur Ruhe.

Will man erfolgreich Hochtouren unternehmen, so wird die Tagwache gegenüber den landesüblichen Gepflogenheiten tunlichst um einiges vorverschoben. Auch für uns, die wir dem Zinalrothorn zu Leibe rücken wollten, begannen die angeblich goldenen Morgenstunden noch bei Nacht. Recht bald herrschte im Scheine von Taschenlampen ein emsiges Treiben innerhalb und ausserhalb der Hütte. jedermann war mit seinen eigenen Utensilien beschäftigt. Allenthalben ist Aufbruchstimmung. Es hat immer etwas Unwirkliches, ja Fremdartiges an sich, dieses fieberhafte Tun und das Drängen hinaus ins Ungewisse. Ist es der noch leichten Schlaftrunkenheit zuzuschreiben, oder liegt es daran, dass der junge Tag noch kaum recht erwacht ist? Doch das ändert sich schnell, sobald man einige Schritte getan hat und sich Körper und Geist erwärmen. Nicht jeder Berg gönnt einem als Ouvertüre ein so gemächliches Einlaufen wie das Zinalrothorn. In massiger Steigung überschreiten wir das grosse Firnplateau des Hohlichtgletschers an seinem oberen Ende. Man kann nicht fehlen. Es gibt Spuren, die deutlich auf dem weissen Teppich zu erkennen sind. Um 5 Uhr sind wir losmarschiert, als letzte auf dieser Route, aufgeteilt in drei Dreierpartien. Ein Stück vor uns können wir eine weitere Seilschaft erkennen, während die ersten bereits über einen leichten Felsriegel steigen, den Gletscher verlassend. Langsam beginnt der Schimmer im Osten der Sterne Glanz zu löschen, und die Konturen des Geländes nehmen deutliche Formen an. In stetem Gleichtakt der Bewegungen kommen wir höher und höher, oft über harten Schnee, der mit sauberem Fels wechselt.

Nach zwei Stunden sind wir am Anfang eines Firngrates, dem sogenannten Frühstücksplatz. Wir halten im warmen Sonnenlicht kurze Rast. Das Wetter ist nach Wunsch, und so ist man mit sich und der ganzen Welt zufrieden. Das folgende Wegstück wird mit Vorteil steigeisenbewehrt angegangen. Die scharfe Firnschneide ist noch hart und erfordert Aufmerksamkeit, sind doch die Flanken beidseits von beachtlicher Länge und Steilheit. Wie beruhigend ist es daher, wenn man sich auf die Vorsicht und Zuverlässigkeit seiner Kameraden verlassen kann! Eine halbe Stunde dauert der Gang auf dem Schneefirst, bis man zum eigentlichen Einstieg am Südostgrat gelangt. Der Fels ist zwischendurch mit Neuschnee bedeckt, und stellenweise tritt Wassereis auf. Abweisend wie eine Sphinx thront hoch über uns der Gipfelaufbau. Aber vorerst gilt es unser nächst-liegendes Ziel anzupeilen, die Scharte im Südgrat. Die beiden Spitzenpartien sind schon eine gute Weile an der Arbeit. Unserem Tourenleiter fällt auf, dass sie nicht der Normalroute folgen, wonach eine Rinne im unteren Teil zu über- schreiten wäre, um hierauf jenseitig weiterzusteigen. Ein entsprechender Zuruf bleibt aber ohne Wirkung. Nun, Ratschläge in den Bergen sind für Geber und Empfänger immer etwas problematisch. Mit gelegentlich nicht ganz sorglosen Blicken nach oben widmen wir uns wieder der eigenen Aufgabe. Das Gelände erlaubt ein gutes Vorwärtskommen. Eine herrliche Tour in grossartiger Umgebung. Da - ein erstaunter Ausruf, oder war es ein unterdrückter Schrei? Alle schauen hinauf und halten erstarrt inne. Die obersten zwei stürzen! Es ist ein grauenhafter Anblick, wie die beiden völlig hilflos das Couloir hinabkollern, aufschlagen, im Weiterfallen sich überschlagen, unter dumpfem Stöhnen und schmerzerfülltem Ächzen, immer weiter, immer tiefer, inmitten von Steinen und Schneeklumpen, wie willenlose Spielbälle der Schwerkraft. Ist das Wirklichkeit oder ein Alptraum? Körper und Geist sind verkrampft. Und immer noch dauert das unfassbar schreckliche Drama an. Einen Augenblick scheint es, als werde die grausige Fahrt gestoppt. Aber nein! Einer reisst den andern wieder mit, weiter dem Abgrund zu. Unaufhörlich geht das Fallen und Aufschlagen weiter. Gibt es denn kein Halten? Wir sind zum tatenlosen Zuschauen verdammt. Noch ein kurzes Stück, und sie sind verloren! Doch das Wunder geschieht: An einer letzten Felsrippe über dem gähnenden Abgrund verfängt sich das Seil, streckt sich und - hält. Einige Steine prasseln noch in die Tiefe, dann Grabesstille. Es ist, als müsste die Natur Atem holen. Nichts regt sich, kein Laut ist zu hören. Alle starren wie gebannt auf die Stelle, kaum fünfzig Meter vor uns. Wie lange — zehn Sekunden — eine Minute — oder mehr? Jeder Zeitbegriff geht verloren. Das Unheilvolle ist spürbar. Ein Gefühl grenzenloser Ohnmacht und die eine, unerbittlich zwingende Frage legen sich schwer auf das Gemüt. Langsam nur löst sich die Spannung. Um der Verzweiflung zu weichen? « Nein, seht »! Einem Schemen gleich erhebt sich eine Gestalt und beginnt wie in Trance aufzusteigen. Nur einige Schritte zwar, aber es ist noch Leben da.

Kurz ist die Erscheinung und unfassbar. Ist das möglich, nach einem solchen Sturz über hundert Meter? Ungläubig nimmt man es allmählich zur Kenntnis. Vorsichtig gehen wir etwas näher und sehen nun ebenfalls den andern auf einem Felsbuckel sitzen. Auch er bewegt sich. « Hallo—Kamera-den, wie geht 's? » Keine Reaktion. Nochmals rufen wir sie an - ergebnislos. Sie müssten uns doch hören; doch nichts deutet darauf hin. Fritz versucht es auf französisch - umsonst. Sind sie abwesend? Was ist zu tun? Sie stehen vermutlich unter Schockwirkung. Jemand probiert es gar in englischer Sprache. Jetzt gelingt 's. Einer hebt leicht die Hand und antwortet schwach: « We are English. » - « Wait, we shall help you », rufen wir ihnen zu. Augenblicklich kommt Leben in unsere Gesellschaft. In kurzer Zeit sind wir beisammen und besprechen die Lage. Jedem ist sofort klar, dass wir Hilfe leisten. Bald steht auch fest, dass wir die Verunglückten mit unseren Mitteln nicht bergen können. Daher drängt sich das weitere Vorgehen von selbst auf. Unser vier bleiben an der Unfallstelle, und die andern gehen zurück, um raschmöglichst die Rettungsstation zu alarmieren. Damit hatten wir eine Aufgabe übernommen, von der wir noch nicht ahnten, was sie von uns fordern würde. Die Abstiegsseilschaft ist bald gebildet und verlässt uns. Im obern Teil bleibt sie zusammen, hernach, im gangbareren Gelände, seilt sich Fritz los und eilt mit Sturrnes-schritten der Hütte zu.

Das Dringendste ist nun vorerst, die beiden Unglücklichen zu sichern, damit sie nicht nochmals abstürzen. Werner arbeitet sich, gesichert von. Toni, zum Kleineren vor, indessen Ruedi an unserem Seil dem Grossen Hilfe bringt. Wie man sich denken kann, ging das Ereignis an uns nicht spurlos vorüber. Um der Sicherheit willen müssen wir daher ruhig und überlegt handeln. Mit unseren medizinischen Kenntnissen lassen sich bei beiden keine lebensgefährlichen Verletzungen feststellen. Der Zustand des Kleinen scheint eher schlimmer zu sein. Er hat eine stark blutende Wunde am Knie. .'Zweifelsohne haben beide einen psychischen Schock, sind sie doch kaum ansprechbar. In ihren zerrissenen Kleidern sehen sie bedauernswert aus. Jetzt ist aber keine Zeit, lange Studien anzustellen, erfordert doch ihre exponierte Lage in der steinschlaggefährdeten Runse dringend eine Dislokation. Allein, das ist schneller gedacht als getan. Einen günstigen Platz finden wir unweit am Fusse eines senkrechten Felsaufschwungs, der zugleich gute Sicherungsmöglichkeiten bietet. Vorerst müssen die Seile geordnet werden. Die Neigung der Flanke ist nicht übermässig, aber mit Neuschnee bedeckt, und daher ist grösste Vorsicht am Platze. Kaum zwei Meter auseinander sind Toni und ich auf dem Sicherungsplatz installiert. Wir kommen uns wie Marionettenspieler vor ob der vielen « Fäden », die bei uns zusammenlaufen. Inzwischen beginnt Ruedi behutsam Schritt für Schritt mit dem ersten aufzusteigen. Mühsam wird jeder Meter erkämpft, obwohl der Verletzte tapfer mithilft. ( Erst nachträglich stellte sich heraus, wie tapfer er war, als der ärztliche Befund auf Beckenbruch lautete. ) Immer wieder müssen Pausen eingelegt werden, wobei er schmerzerfüllt die noch zu bewältigende Strecke misst. Mit meinen spärlichen Sprachkenntnissen versuche ich, ihm den Sinn dieser Tortur klarzumachen und gleichzeitig Lob und Mut zuzusprechen. Unterdessen widmet sich Werner dem andern. Das Knie erhält einen Druckverband, damit der Blutverlust endlich eingedämmt wird. Sein Stöhnen beweist, dass er offensichtlich Schmerzen hat. Mit etwas Tee erhält er zwei Tabletten. Werner ermahnt uns immer wieder vorwärtszumachen. Die Sonne scheint inzwischen steil in die Rinne, und wenn einmal der Schmelzprozess richtig einsetzt, dürften die Steine niederprasseln. Wir begreifen daher den Wunsch zur Eile in seiner ungemütlichen Lage recht gut. Doch sind wir exakt auf 4000 Meter, und was es heisst, auf dieser Höhe Schwerarbeit zu leisten, dürfte jeder Erfahrene wissen. Endlich sind die 25 Meter bewältigt, und der Verwundete wird gleich neben mir sachte hingebettet und gesichert. Unverzüglich geht Ruedi wieder zurück. Ich beschwichtige meinen neuen Nachbarn, der sich um seinen Kameraden sorgt. Um ihn etwas abzulenken, stelle ich ihm einige Fragen. Beide sind zwanzigjährige Studenten. Er verbringe die zweite Saison, sein Freund die erste in den Bergen. Meine Bemerkung: « You are very lucky boys », quittiert er mit einem wehmütigen Nicken. Werner und Ruedi versuchen nun den Kleinen aus der Gefahrenzone zu bringen. Gar bald muss jedoch Werner seine Meinung ändern, sich das schmächtige Bürschchen einfach auf den Buckel zu laden. Sobald sie ihn aufheben wollen, beginnt er heftig zu wimmern. So geht es nicht. Auf allfällige innere Verletzungen muss Rücksicht genommen werden. Der Versuch, ihn zu zweit zu tragen, scheitert ebenfalls. Und doch, sie müssen dort drüben wegkommen. Wenn er nur nicht gänzlich apathisch wäre! Auf Fragen gibt er keine Antwort. Dadurch können wir weder eine Verletzungsdiagnose stellen noch auf irgendwelche Unterstützung seinerseits hoffen. Eine weitere Methode wird ausprobiert. Ruedi richtet einen Flaschenzug ein, worauf sie den Verletzten in sitzender Stellung jeweils um ein kleines Stückchen verschieben. Dank dieser Dreipunktaufhängung ist es für ihn erträglich. Diese Fortbewegungsart ist aber ein wahres Geduldspiel. Sorgfältig aufheben, ein wenig vorwärts, neuen Stand fassen und wieder absetzen, aufnehmen und so weiter. Unendlich mühsam kommen sie höher, aber es geht — bis zu der Stelle, von wo aus ausschliesslich Schnee liegt. Hier rutscht der Bursche gleichviel zurück, wie er hinaufgesetzt wird. Ein Treten an Ort. Von neuem muss eine andere Lösung gefunden werden. Werner will nochmals versuchen, ihn auf dem Rücken zu tragen. Er kauert sich nieder, und Ruedi schiebt ihm die schwere Last vorsichtig auf den Rücken. Da sich der Patient passiv verhält, ist dies allein schon ein schönes Stück Arbeit. Nach verschiedenen Wehlauten ist es endlich soweit, und Werner stapft tapfer voran, wie weiland Christophorus. Mit der einen Hand muss er seine Bürde festhalten. Ruedi hilft so gut als möglich von hinten nach, während Toni und ich fleissig Seil einziehen. Keuchend und schweren Schrittes kommen sie bergan. Werden sie es schaffen? Werner gibt sein Letztes her. Er, der des Tragens nicht gerade ungewohnt ist, ächzt und ringt nach Luft, aber er will durchhalten. Noch drei Schritte - noch einer - es ist getan. Mit letzter Kraft lässt er seine Last zu Boden gleiten und ist einer totalen Erschöpfung nahe. Werner hat eine ausserordentliche Leistung vollbracht. Es dauert eine Weile, bis er sich wieder erholt hat. Wir betten den Unglücklichen neben seinen Partner, und beide tauschen einen stummen Blick des Wiedersehens. Sie erhalten ein wenig Tee und Schokolade. Ruedi sammelt ihre Utensilien ein, und nachher setzen auch wir vier uns zueinander, ruhen aus und geniessen eine Zigarette. Die Anspannung lässt etwas nach, aber gesprochen wird nicht viel. Jeder muss das Erlebnis vorerst selbst verkraften. Es ist jetzt halb i i Uhr. Beinahe zwei Stunden hat das anstrengende Unternehmen gedauert. Wir können es kaum glauben. Einem unbeteiligten Betrachter böte dieses halbe Dutzend scheinbar friedlich beisammensitzender Bergsteiger einen idyllischen Anblick. Wahrhaftig, das Schreckliche scheint langsam zu weichen. Zögernd beginnt eine Aussprache. Der Grosse erkundigt sich schüchtern nach dem zukünftigen Geschehen. Ja, wenn wir das auch nur annähernd wüssten! Ich erkläre ihm, unsere Kameraden hätten die Rettungsstation alarmiert. Um etwas Zuversicht zu verbreiten, bemerkt ein anderer etwas von einem Helikopter, worauf der Engländer flehend zu verstehen gibt, sie hätten nicht soviel Geld. Doch wir beschwichtigen ihn, sich nicht unnötig zu sorgen, es werde schon alles gut. Was man doch alles tut, um wenigstens die Moral hochzuhalten, obwohl man selber kaum eine Ahnung hat, wie es weitergehen soll. Die Landung eines Flugzeuges ist hier ausgeschlossen, und wir vermögen transportmässig nichts mehr zu tun. In Gedanken sind wir bei unseren Kameraden. Haben sie die Hütte schon erreicht? Was wird die Rettungsmannschaft tun? Um hier etwas auszurichten, sind bestimmt ein Dutzend Leute nötig. Wie lange müssen wir hier ausharren? Fragen über Fragen. Die Bergungsprobleme beschäftigen uns eingehend. Verschiedene Möglichkeiten werden erwogen und Meinungen ausgetauscht. Ein Stahlseilgerät, so glauben wir übereinstimmend, würde bestimmt gute Dienste leisten. Damit könnten die Verletzten bis auf das 200 Meter tiefer gelegene Gletscherplateau abgeseilt werden. Der anschliessende Weitertransport wäre problemlos. Trotz lebhafter Diskussion finden wir keine restlos befriedigende Lösung. Es kommt auch diesmal anders, als man denkt. Freilich, auf die Idee, dass wir weiterhin Hauptakteure sein werden, kommt keiner. « Horch, hört man nicht ein fernes Brummen? » - « Nein, nein, das ist die Gornergratbahn. »-«Wohl kaum, es wird lauter! » Wirklich, nun sehen wir etwas, weit unten im Taleinschnitt. Es ist ein Helikopter. Freude mischt sich mit Zweifel. Was will ein Flugzeug hier ausrichten? Nirgends auch nur ein kümmerlicher Landeplatz. Hastig entnehme ich meinem Rucksack den roten Regenschutz, um unseren Standort zu signalisieren. Stetig kreisend, arbeitet sich die Maschine empor. Nun sind wir überzeugt: es gilt uns. Wie ein Schiffbrüchiger schwenke ich meine Fahne. Hat uns der Pilot schon gesichtet? Er fliegt noch zu tief an der Wand vorbei, dreht ab und verschwindet hinter dem Grat. Nicht für lange. Der Motorenlärm verrät uns, dass er wieder im Anflug ist. Diesmal stimmt die Höhe. Gemächlich schwebt das Flugzeug vorüber, ein herrlicher Anblick für uns. Wir winken alle wie närrisch; nur unsere Pfleglinge kümmert es kaum. Schon entschwindet es unseren Blicken wieder. Kurz war das Intermezzo, doch wir sind jetzt voll Mut und Zuversicht. Die Verbindung zur Aussenwelt ist hergestellt; doch sind wir uns einig, vorderhand warten zu müssen. Und wir warten auch, beinahe eine Stunde. Die Vorbereitungen werden Zeit brauchen, trösten wir uns. Gegen halb i 2 ist das Motorengeräusch wieder zu vernehmen. Diesmal steigt die « Alouette » der Air Zermatt schneller und ist deutlich vor dem weissen Hintergrund des Gletschers zu erkennen. An einem Schleppseil hängt ein Bündel. Könnte das ein Rettungsmann sein? Es dünkt uns zwar unwahrscheinlich, oder täuscht die Grössenrelation? Vorsorglich steigt Ruedi eilig ein wenig ab auf eine kleine Felsnase, um allenfalls beim Absetzen behilflich zu sein. Doch schon bald erkennen wir: dies ist kein Mensch. Vorsichtig steuert der Flieger gegen die Felsen. An der Leine hängt eine Tasche. Noch ausser Reichweite schwingt sie, einem grossen Pendel gleich, hin und her. Immer näher wird die Maschine manövriert. Besorgt beobachten wir, wie sich der Abstand zur Wand andauernd verringert. Jetzt ist sie beinahe senkrecht über uns, und plötzlich überfällt uns mit gewaltiger Wucht der Luftstrom des Rotors. Instinktiv erfolgt die Reaktion, jeder versucht sich unverzüglich irgendwo zu halten. Der Sturmwind hat uns alle erschreckt, da niemand darauf vorbereitet war. Zusätzlich brüllt knapp über uns der Motor; man vermeint in einen wahren Hexenkessel geraten zu sein. Nur gut, dass alles festgemacht ist. Ruedi versucht auf seinem Felssockel mit seiltänzerischer Akrobatik das Anhängsel zu ergreifen. Sein Bewegungsraum ist gering. Sowie die Tasche ihm entgegenpendelt, kann er sie fassen. Kaum ist der Karabiner ausgeklinkt, schwenkt der Helikopter nach aussen, und weg ist er - und mit ihm auch der stürmische Orkan. Die Tasche wird an einem restlichen Seilende befestigt und gleich anschliessend geöffnet. Obenauf liegt ein Funkgerät. Sobald es Ruedi in den Händen hat, fängt das Ding auch schon zu schwatzen an. « Hallo - hier Rettungsflugwacht an Unfallstelle — bitte antworten! » Ruedi findet den Antwortknopf sogleich und spricht zurück: « Hier Unfallstelle an Rettungsflugwacht verstanden - antworten. » Mit hörbarer Freude und Erleichterung quitiert der Pilot: « Hier Rettungsflugwacht — verstanden. Das ist ja grossartig; Sie verstehen das Gerät. Warten Sie zwei Minuten, bis ich gelandet bin, dann gebe ich Ihnen weitere Anweisungen. » Und wirklich, kurz darauf meldet sich die Stimme wieder, klar und deutlich. Vorerst wird Auskunft über die Unfallsituation verlangt. Ruedi gibt einen allgemeinen Lagebericht durch. Hierauf erkundigt sich der Arzt über den Zustand der Verletzten. Auch hierzu werden unsere Ansichten übermittelt. Doch sind die Mitteilungen anscheinend zuwenig präzis. Wir sind aber nicht in der Lage, genauere Angaben zu machen, da unsere Englischkenntnisse nicht ausreichen, von den Verunglückten mehr zu erfragen. Erst jetzt löst sich der Knoten. Bis anhin wussten die Gesprächspartner nicht, dass wir zwei Engländer betreuen. Man ersucht uns daher, ein direktes Funkinterview zwischen Arzt und Patient zu arrangieren. Das Resultat ist aber eher dürftig, weil der Grosse nur spärlich Auskunft gibt. Hierauf erhalten wir medizinische Instruktionen: « Im Rettungssack finden Sie eine rechteckige Plastikdose. Entnehmen sie dieser die Injektionsspritze und entfernen Sie die Schutzhülle. Nun wird die Nadel sichtbar. Stechen Sie dieselbe dem schwerer Verletzten handbreit oberhalb des Knies fast ganz hinein, wenn nötig durch die Kleider. Ziehen sie den Stöpsel anfänglich etwas zurück; wenn kein Blut nachfolgt, inji-zieren Sie den Inhalt vollständig. Nachher muss der Patient zehn Minuten ruhen. » Ruedi wiederholt die Anweisungen getreulich, indessen Werner die Spritze vorbereitet. Menschen stechen ist aber nicht jedermanns Sache, auch Werners nicht. Hilflos steht er da und betrachtet das Instrument. « Nein, das kann ich nicht, wirklich nicht. » Doch was sein muss, muss sein. Bisher habe ich ausschliesslich Spritzen entgegengenommen. In der Annahme, es werde hoffentlich auch diesmal das Geben seliger sein als das Nehmen, fasse ich mir ein Herz und führe den Eingriff beim Kleinen aus. Es geht für beide gut vorbei. Schon wieder läuft der Funkverkehr. Die Ankündigung, wonach die Rettung der Verunglückten mit einem Netz erfolge, bringt uns vorübergehend doch ein wenig aus der Fassung. Aber die Anweisungen erfolgen derart exakt, dass wir unser Selbstvertrauen bald wiederfinden. Wir sollen der Tasche das Nylonnetz entnehmen und es auf einem mannsgrossen Platz horizontal ausbreiten. Die Lage von Kopf und Füssen sei bezeichnet. Der Verletzte müsse der Länge nach hingelegt werden, und zwar äusserst vorsichtig wegen allfälliger Rückenverletzungen. Mit besonderem Nachdruck wird einige Male darauf hingewiesen, dass nachher acht Schnüre im Karabiner einzuhängen seien. « Geben Sie Bericht, wenn Sie soweit sind! » Das dürfte uns nochmals gebührend beschäftigen. Da Ruedi und Werner künftig alle Hände voll zu tun haben, bekommt Toni das Funkgerät. Auch er meistert den Sprechverkehr, der sich diszipliniert und durchwegs in der Schriftsprache abwickelt, ausgezeichnet. Immer wieder werden zusätzliche Präzisierungen durchgegeben, dürfen doch keine Fehler gemacht werden. Vorderhand ist unsere Hauptsorge, den entsprechenden « Verladeplatz » zu finden. Das Fels-terrässchen ist eindeutig zu klein, und etwas Geeignetes ist weitherum nicht auszumachen. Jemand hat den glänzenden Einfall, im Neuschnee eine Plattform zu treten. Etwas unterhalb des bisherigen Standortes beginnen Ruedi und Werner unverzüglich mit dem Schneestampfen, während ich dem Grossen neben mir das Vorgehen notdürftig erkläre. Mit resignierter Miene lauscht er meiner Orientierung, der Kleine hingegen nimmt vom Geschehen keinerlei Notiz. Er ist offensichtlich narkotisiert. Unsere Tätigkeit wird vom Zwischenlandeplatz auf dem Gletscher mit Ferngläsern verfolgt. Der Pilot erkundigt sich über die Richtigkeit seiner Beobachtung, wonach die Abholstelle etwas mehr Abstand zum Fels habe als der Übergabepunkt der Tasche. Leider müssen wir verneinen; der Platz liegt um einen halben Meter ungünstiger. Inzwischen ist der schmale, aber annehmbare Liegeplatz hergerichtet und das Netz ausgebreitet. Wir beschliessen, zuerst den Kleinen zu spedieren. Die Verschiebung des Verunfallten geht diesmal abwärts und daher müheloser. Es kostet uns dennoch allerhand Mühe, bis der Bursche richtig im Netz liegt. Nochmals wird kontrolliert, worauf Toni unsere Bereitschaft meldet. Der Pilot instruiert unseren Funker eindringlich über seine Aufgabe als Posi-tionslotse, da er unmöglich gleichzeitig alles selbst überblicken könne. Das Flugzeug muss genau senkrecht über den Verladepunkt dirigiert werden. Äusserst wichtig seien dauernde Korrektur-angaben, höher, tiefer, vor- oder rückwärts usw. Sobald das Netz am Kabel befestigt und gesichert ist, muss bis zum Wegflug fortwährend das Kommando « Abfliegen - abfliegen - abfliegen » durchgegeben werden. Damit das Anhängen speditiv und sicher vor sich gehen kann, ist ein dritter Mann beim Startplatz nötig. Einer muss den Haken am Kabel einhängen, und zwei führen beim Abheben das Rettungsnetz. Zu dritt erwarten wir auf schlechten Standplätzen den Einsatz. Das zunehmende Brummen verrät uns den Anflug des Helikopters. Wir wollen ruhig und überlegt handeln, sind aber aufs äusserste angespannt. Der Luftstrom wird uns nicht mehr überraschen, doch lässt der Motorenlärm schon bald keine sprachliche Verständigung mehr zu. Wir behelfen uns mit Zeichen. Behutsam schwebt der riesige Vogel immer näher heran. Unglaublich, wie minuziös sich die Maschine steuern lässt, als ob sie aufgehängt wäre. Die Rotorspitzen schwirren kaum zwei Meter am Fels vorbei. Wenn nur das Seil nicht so stark pendeln würde, ist doch meine Reichweite beschränkt; aber es muss eingefangen werden. Es gilt also zwangsläufig zu warten, bis es gegen mich schwingt. jetzt kann ich es fassen. Einhängen, sichern - und sogleich signalisiere ich Toni die Startbereitschaft. Die Leine strafft sich, und sachte wird das Bündel abgehoben. Es hängt gut, und schon schwebt es über unseren Köpfen. Augenblicklich dreht die « Alouette » vom Hang weg — und fort sind sie. Leicht verwundert stehen wir da. Alles ging auf einmal so schnell. Wir schauen dem entschwindenden Vehikel nach, gerade so wie Kinder, denen man unvermittelt ihr Spielzeug weggenommen hat. Ohne Pause steigen wir auf und beginnen unverzüglich mit den Vorbereitungen für die Überführung des andern. Schon nach zehn Minuten bringt der Flieger das leere Netz zurück, und die Arbeit beginnt von neuem. Wir sind nun gut aufeinander eingespielt, so dass der zweite Verletzte bereits eine halbe Stunde später weggeflogen werden kann. Kurz darauf kommt das Flugzeug zum sechsten und letztenmal, um die Rucksäcke der Engländer und die Rettungstasche abzuholen. Das erfordert speditives Handeln unsererseits. Der Helikopter entfernt sich rasch mit diesem letzten Ballast und lässt uns winkend zurück. Wir besitzen das Funkgerät noch und müssen es zur Hütte bringen. Der Pilot verabschiedet sich: « Ich danke Ihnen herzlich. Es war eine Freude, mit Ihnen zu arbeiten. Sie haben alles grossartig gemacht, wie eine Rettungsmannschaft. Ich gratuliere Ihnen und erlaube mir zum Schluss noch die Frage: Was sind Sie von Beruf? » Toni gibt die gewünschte Auskunft und dankt für die hervorragende Leistung und wertvolle Hilfe. Damit ist das Unternehmen soweit beendet. Es ist still um uns, und eine Leere breitet sich aus. Mit der Entspannung der Nerven beschleicht uns körperliche Müdigkeit. Lustlos versuchen wir etwas zu essen, lassen es aber bald wieder bleiben. Das Vernünftigste dünkt uns, umgehend abzusteigen. So gehen wir am frühen Nachmittag den Weg zurück. Noch immer herrscht strahlendes Wetter, aber wir empfinden zur Zeit keine Freude an den Bergen und an unserem Tun. Bedächtig und automatisch stapfen wir bergab. Überall ist Schweigen. Jeder ist mit seinen Gedanken allein. Was wird morgen sein? Noch ist alles ungewiss. Mit der Zeit wird man klarer sehen. Daher sind wir erleichtert, als wir die Hütte erreichen. Freudig empfangen uns die Kameraden und umsorgen uns aufmerksam. Der Rettungsobmann von Zermatt ist anwesend. Er dankt uns anerkennend für den spontanen Einsatz und die vorzügliche Arbeit. Wie wir vernehmen, wäre es kaum möglich gewesen, innert nützlicher Frist eine Rettungskolonne bereitzustellen, da des prächtigen Wetters wegen sämtliche Bergführer unterwegs seien. Mit dem Arzt können wir noch kurz einige Worte wechseln. Es überrascht uns, dass laut seinem Befund der Grössere erheblich schwerer verletzt war als sein Seilgefährte.

Doch inzwischen dürften sie im Spital Visp in guter Obhut sein. Unsere Kameraden konnten beim Umladeplatz nützliche Helferdienste leisten. Die Frau Hüttenwartin bittet uns zu einem Imbiss, den wir recht gerne annehmen. Gegenseitig tauschen wir die Erlebnisse aus und erhalten Komplimente. Wir aber sind befriedigt, weil wir erfolgreich helfen konnten - und dabei erst noch viel gelernt haben.

NACHWORT Der Bericht ist etwas umfangreich ausgefallen, doch glaube ich, dadurch den Leser möglichst realistisch informiert zu haben. Es sei dankbar anerkannt, dass es uns infolge günstiger Begleitumstände möglich war, zwei Menschen in ihrer Not zu helfen. Nachfolgend sind kurz die Faktoren erwähnt, die das Unglück nicht tragisch enden liessen: Die beiden Touristen haben den Absturz relativ gut überlebt, weil sie Steinschlaghelme trugen. Sodann verfing sich das Seil an einer Stelle, wo es laut kompetenter Urteile nur für wenige noch ein Halten

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