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Bianco-Bernina im Winter

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Auf- und Abstieg.

Mit 2 Bildern.Von Georg Calonder.

Coazhütte, am 15. April 1939. Missmutig, beide Hände in den Hosentaschen, streichen Heini Herter, Willy Morf und ich von der Küche wieder in die Stube zurück. Gestern mussten wir nach einer Rosegfahrt in Sturm und Nebel auf dem Sellapass umkehren. Das Wetter war nach diesem Föhneinbruch für den Übergang auf italienisches Gebiet doch zu unsicher. Heute ist alles düster und grau, ein leichter Schneefall hat eingesetzt. Abwechslungsweise geht einer jede halbe Stunde vor die Hüttentüre auf Ausguck. Immer wieder kommt die gleiche Auskunft: « Es schneit etwas, keine Anzeichen, dass es besser wird. » Da — nach dem Mittagessen ruft 's draussen plötzlich heftig. Wir poltern über unsere Unordnung zur Tür. « Da oben, gerade über der Schneekuppe, » triumphiert der Wetterberichterstatter, « ein blaues Loch! » Tatsächlich, ja, es vergrössert sich zusehends, und nacheinander werden Sellapass, Muongia und Chapütschin sichtbar. Jetzt hat die Faulenzerei ein Ende. Wir beschliessen, um 17 Uhr loszuziehen, wohin, ob über den Sellapass ins Bivacco Parravicini oder zur Tschiervahütte, das wird erst beim Abmarsch nach der weiteren Entwicklung des Wetters bestimmt.

Genau zur abgemachten Stunde fahren wir hinunter auf den Roseggletscher. Wir wechseln hinüber zur Tschiervahütte, wo wir in der Dämmerung anlangen. Auffallend still ist es jetzt um den eckigen Steinbau herum, das sommerliche Sprachengewirr ist verstummt, und wir sind die einzigen Gäste. Eine frische Bise weht um die Hütte und anderthalbtausend Meter über uns ziehen am Pizzo Bianco die Wolken.

Am nächsten Morgen, wenig vor 5 Uhr, schlägt die Hüttentüre ins Schloss. Klipp klapp machen die Strammer unserer Bindungen, und wir marschieren ab. Zuerst geht 's ein bequemes Tälchen zwischen der Moräne des Tschiervagletschers und dem von der « Terassa » herabkommenden Hang hinan, dann queren wir auf den Gletscher hinüber, an dessen rechtem Ufer gut vorwärtszukommen ist. Der nächste Gletscherabbruch verlangt im Sommer eine Umgehung auf einem in der Nacht nicht immer leicht zu findenden Felsband am Westfusse des Piz Morteratsch. Heute ist es uns aber möglich, zwischen Bruch und Felsen durchzuschlüpfen, wenn wir auch ein kurzes Stück die Bretter tragen müssen. Bald legen wir die Ski ab und machen uns an die letzte Steilpartie zur Fuorcla Prievlusa heran. Der Hang ist gut verfirnt, und nach kurzer Zeit taucht einer nach dem andern aus der schattigen Tiefe in der sonnbeschienenen Fuorcla auf.

Hier seilen wir an und machen uns ohne langen Aufenthalt an die folgenden Felsen. Leider stossen wir nicht auf die erhofften Verhältnisse. Unter einer dünnen Schneekruste kommt sprödes, grünes Eis zum Vorschein und verlangt Hackarbeit. In Anbetracht dessen, dass wir hier heute auch noch absteigen wollen, nehmen wir es gründlich mit dem Stufenschlagen. Nach Möglichkeit weichen wir in die apern Felsen aus, aber auch auf ihnen liegt da und dort Wassereis, so dass wir nach dieser unangenehmen Stelle am Fusse des Firngrates erschreckt auf die Uhren blicken, die bereits 10 Uhr anzeigen. Da zudem der jetzt ansetzende « Firngrat » mit knietiefem Pulverschnee bedeckt ist, fürchten wir mehr und mehr, dass wir uns heute vielleicht auch nur mit dem Pizzo Bianco begnügen müssen. Nun, wenn die Verhältnisse nicht glänzend sind, so können wir uns doch keinen strahlenderen Tag wünschen. Die Temperatur ist sehr angenehm zum Steigen, die Sicht in das gleissende Bovalbecken und besonders in den wilden Tschiervakessel überwältigend. Wie aber die Schneelage mit zunehmender Höhe etwas dünner wird, steht das Stimmungsbarometer bald wieder hoch.

Willy hat seit der Tschiervahütte immer geführt. Nachdem er auch noch einen guten Teil des Firngrates gespurt hat, gibt er endlich meinem Drängen nach und überläset mir den Vortritt. Das ist recht so, denn er ist heute nicht bezahlter Führer, sondern unser Freund und Kamerad, der sich erst nachträglich unserer Partie angeschlossen hat und dessen Mitwirkung auf unserem Programm nirgends vorgesehen war. Also wollen wir uns auch in die Mühen des Aufstieges redlich teilen. Heini opfert sich als immer bewährter lieber Kamerad während des ganzen Tages für den wenig begehrten Mittelmann-posten, wo man immer nach beiden Seiten sichern und vier Hände zur Seilbedienung haben sollte.

Etwas nach halb 12 Uhr ertönt unser Jauchzer auf dem Pizzo Bianco. Jetzt ist eine Rast verdient, sind wir doch den ganzen Grat ohne einen einzigen freiwilligen Halt aufgestiegen. Eine Seillänge, wo unter einer dünnen Schneekruste wieder tückisches Eis verborgen lag, hielt uns wohl auf, wir waren dort aber mit Stufenarbeit so beschäftigt, dass man nicht gut von Ausruhen reden konnte. Jetzt sind wir ganz nahe an den Hauptkamm der Berninagruppe herangekommen. Unwahrscheinlich steil erscheinen von hier aus seine uns zugekehrten wuchtigen Nordabstürze. Zwischen Schneekuppe und Hauptgipfel des Piz Roseg suchen wir unsere Spuren von vorgestern, aber.

vergebens. Die Stürme der letzten zwei Tage scheinen dort die armseligen Fußstapfen gründlich ausgewischt zu haben. Zwischenhinein gucken wir auch etwa über die Scharte an die Nordwand des Berninagipfels hinüber. Dort ist aber wenig Erfreuliches zu sehen. Die ganze Abdachung glänzt im schönsten Blankeis, so dass unsere Erfolgsaussichten wieder einmal bedenklich schwinden. Sicherheitshalber beschliessen wir jetzt schon, bis nachmittags 2 Uhr weiterzugehen, dann aber umzukehren, welcher Punkt auch erreicht sei.

Für die zurückbleibenden Säcke graben wir ein Loch in den Firn und steigen dann in der gleichen Reihenfolge weiter. Der Grat bis zum Abstieg in die Scharte ist mit lockerem Pulverschnee bedeckt, und oft stösst der sondierende Pickel ins Nichts auf der Tschiervaseite. Dazu ist Steigeisenkletterei immer ein wenig erfreulicher Teil einer Besteigung, abgesehen davon, dass die Schärfe der Zacken darunter bedenklich leidet. Die glatt-sohligen Skischuhe sind aber für winterliche Klettereien eine so unsichere Fussbekleidung, dass wir auf den spitzenbewehrten Sohlenaufsatz nicht verzichten können.

Die Scharte selbst ist angenehmer als der Zugang zu ihr, und rasch sind wir alle drei von der exponierten Ecke herunter. Gerne queren wir am Westfuss des Schartenturms, der selbst stark verschneit und wenig empfehlenswert aussieht, hinab, denn hier ist es recht angenehm und windstill. Aber die unser wartende Eiswand zum Grat hinauf lässt keine Ruhe. Wir packen sie an ihrem dem Schartenturm zugewandten Rand an und steigen mit etwas eigenartiger Klettertechnik, die Griffe im Fels, die Tritte im Eis, rasch empor. Den restlichen leichten Grat überwinden wir im Eiltempo, meist alle drei zur gleichen Zeit kletternd, und wie es 2 Uhr ist, sind wir noch eine gute Seillänge vom Berninasignal entfernt. Aber sonderbarerweise spricht niemand etwas von Umkehr, dafür setzen wir uns wenige Minuten später einträchtig in die warmen Gipfelfelsen.

Weitgedehnt und klar ist die Sicht. Von besonderem Reiz ist für uns heute der Tiefblick in die Täler, sei es in die Engadiner Hochebene, wo auf dem Flugplatz Samaden eben sich die ersten Kräutlein aus der Erde wagen, oder ins grüne Veltlin. Aber es führt ja nie zum Ziel, mit dem geschriebenen Wort von solchen Eindrücken zu berichten.

Lange Fahrt — kurzer Naturgenuss. Dieser Grundsatz gilt heute auch für uns, haben wir ja erst die eine Hälfte unseres Vorhabens hinter uns. Nach einer Viertelstunde wenden wir uns wieder der Berninascharte zu. Jetzt lohnt sich die Stufenarbeit vom Aufstieg her. Wie ich auf dem nördlichen Schartenkopf während des Seileinnehmens einmal verstohlen auf die Uhr blicke, ist erst eine knappe Stunde vergangen. Bald sind wir drüben auf dem Pizzo Bianco bei unseren Säcken. Die Bergdohlen haben hier während unserer Abwesenheit eifrig nach einem Sonntagessen gesucht, ihre überall hinführenden Spuren verraten wirklich gründliche Arbeit.

Der Abstieg über den in dieser Jahreszeit auch nachmittags noch nicht aufgeweichten Grat ist reiner Genuss. Wir brauchen uns jetzt nicht mehr zu beeilen und haben auch etwas Zeit, unsere grossartige Umgebung zu betrachten. Tief unter uns ruht im Abendschatten der Morteratschgletscher. Von Tschierva her hat sich ein stossweis einsetzender Wind aufgemacht, der jedesmal eine weit über die Gratkante hinausflatternde Schneefahne nach Boval hinüberbläst. Wenn aber diese Windstösse aussetzen, ist es hier oben warm wie an einem lauen Sommerabend. In herrlicher Wanderung erreichen wir so die Prievlusfeisen. Ihre Westseite ist jetzt von der Sonne beschienen, das Gestein ganz warm anzufassen, und da wir mit unseren Kräften in Anbetracht der Länge unserer Fahrt sehr haushälterisch umgegangen sind, empfinden wir bei diesem Abstieg immer noch grossen Genuss. Weit weniger angenehm zu begehen ist der Westabfall der Fuorcla Prievlusa. Die Abendsonne hat die auf dem Firn lagernde leichte Pulverschneeschicht zu Pappschnee verwandelt, der sich jetzt bei jedem Schritt zwischen den Steigeisenzacken einnistet und nur durch energisches Klopfen wegzubringen ist. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als bei jedem Schritt mit dem Pickelstiel auf die Schuhe zu schlagen und im übrigen die Sache von der humoristischen Seite zu nehmen. Während unser Klopfkonzert von den umliegenden Felswänden widerhallt, sind wir im Schatten des aus dem Tale heraufsteigenden Abends untergetaucht. Zwar werden wir dessen vorerst kaum gewahr, so intensiv ist das von den umliegenden Eiswänden zurückgeworfene Licht.

Gerne vertauschen wir nun die Steigeisen mit den Ski. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man nach zwölfstündigem Gehen auf den überall sich sofort eingrabenden Eisenzacken den Fuss auf die glattpolierten Hickory-flächen hinübersetzt. Die Bretter spielen heute bei uns nur eine Nebenrolle. Trotzdem möchten wir sie jetzt nicht entbehren, zudem haben sie uns auch am Morgen einen kräftesparenden Aufstieg bis unter die Fuorcla Prievlusa ermöglicht. Wie wir dann entdecken, dass der Schnee überraschend gut ist, ziehen wir längs des Tschiervagletschers in einer langen Bogenfolge talwärts und kommen damit zu einem nie erwarteten Genuss. Um halb 8 Uhr setzen wir bei der Tschiervahütte auf noch leidlich standfesten Beinen den Schlußschwung unter die schöne Berninafahrt. Noch einmal blicken wir zu « unserem » Grat auf, dann betreten wir die Hütte.

Wir hatten für den Aufstieg 835 Stunden, für den Abstieg 5 gebraucht und uns nur 1 Stunde für Rasten gegönnt.

Zur Mittagsstunde des nächsten Tages schieben wir unsere Ski über die letzten Meter zum Gipfelsignal des Piz Morteratsch. Wieder ist ein prachtvoller Tag über den Berninabergen aufgegangen. Geniesserisch schweift unser Blick in die Runde. Immer wieder kehrt er aber zu dem aus den tief unten liegenden Prievlusf eisen zur reinen weissen Spitze des Biancogipfels hinaufziehenden herrlichen Firngrat zurück. Eine ganz feine, einem lose auf den Grat hingelegten dünnen Schnürchen vergleichbare Linie liegt darauf, die da und dort unterbrochen ist: unsre Spur von gestern.

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