Bockmattli-Nordwand | Club Alpino Svizzero CAS
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Bockmattli-Nordwand

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Emil Zopfi, Schwändi ( GL )

Tiefblick aus der Bockmattli-Nordwand Ist das, was Du siehst, wirklich? Oder ist es nur Täuschung, ein Programm, vorgespielt von Deinem Nervensystem? Diese Frage beschäftigt uns, während uns das Postauto ins Tal trägt, auf dessen braungelben Hängen die Herbstsonne liegt. Glasklar, gleissend. Scharf gezogen und dunkel die Schatten entlang der Wälder.

Ist das Wellenspektrum des Lichtes wirklich oder der Bau der Moleküle im Gestein oder meine Erinnerung an dieses Tal - Wägital, Tal meiner Jugend, Heimat während einer schwierigen Zeit? Eigentlich, so meine ich, ist es doch gleichgültig, ob alles bloss Täuschung ist. Was jetzt zählt ist nur, dass der Morgen klar ist, das Wetter stabil, dass wir in dieses Tal fahren, der Wand entgegen. Das nehme ich wahr, also ist es für mich wahr. Und auch der Aubrig ist wahr, rechts über der Schlucht, mit seinen silbernen Felsabsätzen, Tannen und strohgelben, dürren Grasbändern. Das Postauto windet sich dem steilen Hang entlang, hupt dreistimmig, taucht ein in düstere, tropfende Tunnel. Als Bub bin ich mit meiner Mutter in dieses Tal gefahren. Ich fürchtete mich vor den Abgründen der Schlucht, vor der unendlich hohen, senkrechten Staumauer, die sie sperrt weiter oben. Die Wirklichkeit lebt von der Erinnerung, ist verzahnt und verknüpft mit den gespeicherten Bildern. Es ist richtig, dass niemand diesen Morgen so erleben kann wie ich, denn niemand verfügt über meine Bilder: Wie ich mit meiner Mutter am schottrigen Seeufer zwischen zerfallenen Mauern eine zerbrochene Kaffeetasse finde. Oder wie wir später für unsere erste Klettertour wiederkehrten, mit Militärschuhen und Filzhüten.

Jedesmal, wenn ich längere Zeit im Ausland weilte, muss ich nach der Rückkehr hier hinauffahren, über den Staudamm gehen, die Hügel und Berge im Spiegel des Wassers betrachten, die Bockmattlitürme vor allem, mein Bockmattli. Jedesmal kehre ich ein in der ( Post ), wo alles gleich ist wie immer, und trinke einen Kaffee. Ich muss mich vergewissern, dass diese Welt noch existiert, dass sie noch nicht verlorengegangen ist, verschwunden, wie einmal ein Dorf verschwunden ist auf dem Grund des Sees.

Doch die Türme stehen noch wie eh und je, und die graue grosse Wand schiesst noch immer auf aus dem Grün der Weiden, eine erstarrte Welle der Gesteinsbrandung, die vor Urzeiten über den Alpenkamm hinwegrollte. Mein Lehrmeister hat mir einmal die Entstehung der Alpen erklärt. Wie die Gesteinsdek- ken aus der Tiefe der Thetys aufstiegen und übers kristalline Urgestein des Aarmassivs hinweggeschoben wurden, unendlich langsam und doch stetig und unaufhörlich dahingleitend.

Zeit, sage ich. Zeit ist die Dimension, die alles so unsicher macht. Für uns erscheint der Berg statisch und ewig, doch ist er in stetem Fluss, die Welle rollt weiter, hörst Du das feine Zischen der Brandung? Das Gestein fliesst noch immer, auch wenn wir es nicht wahrnehmen. Mein Lehrmeister damals: Er verbot mir das Klettern, als ich einmal, nach einer schwierigen und langen Tour, erschöpft zur Arbeit erschien. Doch ich scherte mich einen Deut um das Verbot, ich riskierte alles, um nur immer wieder gehen zu können.

Zeit: Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich die Nordwand einmal durchstiegen, auf der direkten Route, was damals noch als grosses Unternehmen galt. Und nun plötzlich dieser Wunsch wiederzukehren. Nochmals auf jener steilen grauen Rippe hinaufzuklettern zum Gipfel des grossen Turmes. Vielleicht ist es die , der Wunsch, nochmals jung zu sein. Der Wunsch, dass alles wieder so wäre, wie es gewesen ist. Der Wunsch, dass die Zeit nicht so zwingend und unerbittlich voranschreiten würde.

Damals habe ich über unsere Besteigung einen meiner ersten Texte geschrieben, und während wir uns der Wand nähern, während wir uns das Kletterzeug umhängen, während wir über die ersten grasigen Felsstufen höhersteigen, fallen mir manchmal Wörter und Sätze ein.

Allmählich weicht die Nacht einem neuen Tag. Schlaftrunken stolpern mein Freund und ich durch taufeuchtes Gras und über Geröll dem Fuss der Bockmattlitürme im Wägital entgegen. Messerscharf hebt sich die Ostkante des Plattenkopfes gegen den fahlen Morgenhimmel ab, die Nordwand - unser Ziel - liegt jedoch noch im tiefen Schatten: eine düstere, abweisende Mauer... Rasch gewinnen wir über schmierige Grasstufen und Wurzelwerk an Höhe. Bald wird das Gelände steil und schrofig. Wir verbinden uns mit dem einfachen Seil, und nach zwei Längen stehen wir am Ausgang der Westschlucht.

Stundenlang sass ich an Vaters Schreibmaschine, tippte mit zwei Fingern Satz um Satz, versuchte die Bilder und Gefühle jener Besteigung in Worte zu fassen, versuchte alles nochmals durchzuspielen, durchzuleben und es andern mitzuteilen, damit sie die Wand ebenfalls erleben könnten, ohne je Hand an den Fels legen zu müssen. Ohne je den Stein zu berühren, der jetzt in der Einstiegsrinne noch kühl ist und metallen und glattgescheuert von Wasser und Geröll. Schwer war das, schwieriger als Klettern fast oder jedenfalls von einer andern Schwierigkeit. Aus den unzähligen Bildern, aus dem Chaos der Eindrücke und Ängste auszuwählen, das totale Erleben abzubilden in einer körperlosen Ordnung von Zeichen, einem Text, einer Erzählung. Das war neu für mich. Doch ein Text und eine Route haben Gemeinsamkeiten. Sie sind Angebote, Möglichkeiten, Dich anders zu erleben. Sie können etwas zum Klingen bringen oder auch nicht. Sind ein Stück eigener, künstlich geschaffener Wirklichkeit. Doch natürlich hast Du recht: Wirklichkeit kann man nicht beschreiben, nicht abbilden, man kann nur Modelle schaffen.

Hansruedi klettert schon die Einstiegswand hoch. Nach einem Quergang seilt er sich zu den Grasbändern ab. Bald bin ich bei ihm, und mit vereinten Kräften ziehen wir das Quergangsseil ab: Wir sind in der Wand!

Vieles ist anders geworden. Wir sind ohne Seil über die schrofige Wand hochgestiegen. Jetzt queren wir aus der Rinne direkt nach links auf die Bänder, über eine schwierige, glatte Platte mit feinen Tritten und einer dünnen Schwarte als Griff. Wir tragen nicht mehr die schweren Schuhe von damals, nicht mehr Rucksack, Steigbügel, Haken. Mein Begleiter ist ein junger Sportkletterer. Hansruedi, der geniale Bergsteiger, hat das Klettern aufgegeben, wie fast alle meine Freunde von früher. Und einige sind in den Bergen umgekommen. Auch ich hatte, sogar schon öffentlich, in einem Buch, abgeschworen. Bergsteigen, Klettern? c.. ich habe längst aufgehört, ich brauche es nicht mehr ...>. Dann erfasste es mich wie ein Fieber: Diese neue, leichte Art des Kletterns, die neuen Schuhe vor allem, durch die man den Fels spürt, den Grund unter den Füssen, das Sichern mit Klemmkeilen und Friends, die sanfte, spielerische Artistik. In meinem Alter ist man anfällig für die Angst, etwas zu verpassen im Leben, man beginnt hastig nach Wegen zu suchen, um ein Stück Jugend zurückzugewinnen, festzuhalten, man beginnt sich da und dort anzuklammern. Der Fels unter den weichen Sohlen der Kletterschuhe bedeutete für mich festen Grund. Stehen, sich nicht festklammern, war der Rat eines Freundes, der mich in die neue Technik einführte. Das Fieber packte mich wieder, und ich setzte mir zum Ziel, alle schönen Routen, die ich vor zwanzig und mehr Jahren geklettert war, zu wiederholen, auf die neue, die leichte Art. Also auch die Nordwand. Ein Traum, der früh in Erfüllung ging. Achtzehn war ich damals, Lehrling in einer Fabrik, eingesperrt, unterdrückt, unglücklich. Und von einer einzigen Sehnsucht getrieben: auf einem Gipfel zu rasten nach einer schwierigen Wand.

Mit dem ersten, gelben Überhang der ( Direkten ) beginnt für uns Neuland - und damit das grosse Abenteuer... Dieses stellt sich leider nur zu bald ein, und zwar in Form eines Seil- und Schlingensalates, gegenüber dem der Gordische Knoten geradezu lächerlich wirken würde. Nach dem Überhang beginnt eine lange Verschneidung, welche oben von einem riesigen Dach abgeschlossen wird. Auf einem winzigen Stand überholt mich Hansruedi, und bald hängt er wie ein Räucherschinken unter dem Wulst.

Selbst unsere Sprache hat sich verändert. ( Jetzt kommt ein langer Run-out ), sagt mein Begleiter am Stand vor dem Überhang. Wir richten uns ein an einer ganzen Garnitur rostiger alter Haken und einem Bohrhaken, dessen Ring von vielen Stürzen zu einem Oval verformt ist. Er kennt die Wand, doch heute will er sie völlig frei ( ) gehen. Er greift ins Magnesiasäcklein, macht sich die Finger weiss, klemmt die Fäuste in den Riss, findet feinste Tritte auf der senkrechten, glatten Platte rechts, spreizt aus, hängt erst weit oben, unter dem Wulst, den ersten Haken ein, tänzelt nach rechts über die Platte, klinkt weitere Haken ein, spreizt ab gegen die Kante des Wulstes, federleicht; die Füsse fast höher als der Kopf, wartet er ganz draussen an der Kante, bis ich ein Foto geknipst habe. Dann verschwindet er mit einem raschen , die Seile laufen weiter, ruhig und gleichmässig. Ich selber fasse beim Nachsteigen zwei-, dreimal einen Haken an, dann bin auch ich draussen in der Verschneidung, die grau, senkrecht und kompakt in die Höhe leitet, klettere ohne grössere Schwierigkeiten den Seilen nach, spüre unter mir die prickelnde Leere, den kühlen Schatten des Berges auf den Wiesen, die Nadelspitzen der Tannen. Weiter, denke ich, nicht zurückschauen, und bin plötzlich erfüllt von Musik, rhythmischem Schlagzeug und dem metallenen Vibrieren von Francesco de Gregoris elektrischer Gitarre. ( Capo d' Africa stanotte, si parte e si va via ...> Ich singe.

Klettern war für mich immer Aufbruch und Ausbruch aus kritischen Lebensumständen. Pubertät. ( Midlife-crisis ). Eine Möglichkeit, sich anders zu erfahren, als man sich im Alltag erfährt. Eine andere Wirklichkeit, ein Spiegelbild.

( Spiel im Fels> -die neue, leichte Art des Kletterns Bald sind wir auf einem kleinen Stand vereint, glücklich, dass wir die ausgesetzte Verschneidung nun hinter uns haben. Zum erstenmal seit dem Einstieg geniessen wir den Tiefblick. Von den zierlichen Spitzen der Tannen, fast senkrecht unter uns, schweift der Blick in die Ferne. Die Laubwälder im Trebsental draussen beginnen schon langsam gelb zu werden, tiefblau leuchtet der Stausee im Sonnenschein -, die hässlichen braunen Ränder, die ihn im Frühjahr verunstalten, sind verschwunden - während wir im Schatten der Wand noch frösteln. Da sind die vielen, uns so vertrauten Formen, das steinige Weglein, das unter den Wänden zu den Hütten der Trebsenalp führt, und das grosse, von Wind und Wetter ausgelaugte Holzkreuz auf dem Brüsch-stock... und da die Hütten der Schwarzenegg, unser Stammquartier. Eine feine Rauchfahne steigt kerzengerade aus dem Kamin des Wohnhauses empor. Menschen - sie sehen von hier oben aus wie Stecknadelköpfe - stehen vor dem Eingang. Ob der Marfurt wohl mit dem Fernglas zu uns heraufschaut?

Wenn die Wand nicht wirklich wäre, wer hätte dann ein Interesse daran, uns diesen Film vorzuspielen, was denkst Du? Diese Folge von Griffen, Tritten, Absätzen und Rissen? Achtung! Eine lose Schuppe! Der Fels ist hier nicht mehr ganz zuverlässig - eine ( Eigenschaft ) des Bockmattli. Wenn unsere Sinne sich täuschen lassen, kann unser Bewusstsein doch auch nicht über den Sinn entscheiden. Also, was soll 's? Wir steigen weiter oder meinen, wir steigen weiter; wir haben das Gefühl, weiterzusteigen, denn weitersteigen ist im Augenblick der allereinzige Sinn und Zweck. Die Wand ist, weil sie ist und weil wir da sind, um sie wahrzunehmen, und weil wir oder irgendwer uns in den Kopf gesetzt hat, hier hinaufzusteigen. Jedenfalls wollen wir jetzt hinauf, zum Gipfel, mit de Gregoris ( Capo d' Africa ) im Bauch, dem Metallklang seiner Saiten, dem Tingeln der Karabiner in einem der gelegentlich steckenden, alten Haken. Mit der Erinnerung an den bärtigen guten Marfurt, der jung gestorben ist, an Magenkrebs, vor vielen Jahren. Nachtschicht auf dem Geleisebau in der Stadt während des Winters, hastiges Essen, mit kaltem Bier hinuntergespült. Der gestorben ist, vielleicht mit dem Bild der Wand vor sich in seinen letzten Fieberträumen. Das Klettern ist leicht geworden, schwer sind nur die Erinnerungen geblieben. Früher einmal wollte man Sinn nur noch in gesellschaftlicher Bedeutung verstanden wissen, und so wurde Klettern während Jahren zur sinnlosen und gefährlichen Freizeitbeschäftigung, zum Zeitverlust auf dem kollektiven Weg zu besseren Verhältnissen. Richtig: Marfurt hätte bessere Verhältnisse verdient, hätte nicht so früh wegsterben müssen von seiner Familie. Und doch hat er uns nie einen Vorwurf gemacht, hat uns in seiner Hütte aufgenommen und mit uns unsere Erfolge gefeiert. Irgendwann einmal habe ich seine Frau besucht, wir haben von früher geplaudert bei einer Tasse Kaffee, und sie erzählte mir stolz, dass der Sohn nun schon ein Auto besitze. Sie war nie gerne zur Alp gefahren im Sommer, doch für Marfurt war das eine Passion gewesen. Der Sinn seines Lebens. Wie für uns das Klettern.

Endlich legt sich der Fels zurück, wir spüren die Nähe des Gipfels, von welchem uns nur noch eine kompakte, überhängende Barriere zu trennen scheint. Ein schmaler Riss, sehr anstrengend und frei, erlaubt den Durchstieg. Ein vermoderter Holzkeil dient als Tritt, die im Grund des Risses verklemmten Fäuste reissen sich am rauhen Fels wund.

Der Gipfel: Das plötzliche Eintauchen in die gleissende Sonne, in das grelle Licht auf weissen Steinblöcken. Geruch von dürren Grasbüscheln und trockenem Kalk. Das schmiedeiserne schwarze Kreuz. Smog über den Tälern und dem Zürichsee in der Tiefe. Dieser Augenblick ist so identisch mit jenem, der ein Vierteljahrhundert zurückliegt, dass die Zeit aufgehoben scheint. Könnte es sein, dass wir einen Sprung in die Vergangenheit gemacht haben, dass ich die Wand gar nicht durchstiegen habe, dass dieser Augenblick nur eine Illusion ist? Ausdruck eines unerfüllbaren, brennenden Wunsches. Ein Fiebertraum. Könnte es sein, dass sich alles wiederholt? Dass wir immer und immer wieder durch den Schatten dieser Wand hinauf ans Licht steigen müssen? Der Schluss meines alten Textes fällt mir ein. Ich versuche, ihn aus der Erinnerung zu holen. Es ist lange her, das Manuskript ging verloren, wurde wieder gefunden, ging wieder verloren. Zu Hause werde ich es suchen in all meinen Ordnern voller Texte und Entwürfe. Die letzten Sätze habe ich nie vergessen.

Auch damals sassen wir ganz allein neben dem Buch, zufrieden, wunschlos glücklich, und träumten in die Ferne... träumten von der Wand, die jetzt nur noch Erinnerung für uns ist... Sind wir deshalb glücklicher...?

Denkst du immer noch über das Problem der Wirklichkeit nach?

Nein, sage ich. Mein Begleiter lächelt. Heute hat er die Wand geschafft.

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