Der mysteriöse Alleingänger | Club Alpino Svizzero CAS
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Der mysteriöse Alleingänger

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Von H. Nyffenegger

( Bern ) Vor Jahren im Mai weilte ich mit Kameraden im Finsteraarhorngebiet. Von der Finsteraarhornhütte aus machten wir verschiedene Touren auf Ski. Mit uns stationierte dort auch ein junger Mann, ein Alleingänger. Er machte allein die verwegensten Touren, wagte sich in die verworrensten Spaltengebiete, durchquerte am späten Nachmittag, als die Sonne so recht den Schnee aufgeweicht hatte, eine gefährliche Lawinenbahn. Kein Wunder, dass er uns besonders auffiel. Er erregte natürlich auch den Unwillen aller Hütteninsassen, bei den Touristen wie bei den Führern. Eines Abends konnte sich einer der Führer nicht mehr halten und machte dem Touristen schwere Vorwürfe wegen seines Verhaltens. Zu meinem Erstaunen hörte der Angesprochene ruhig zu, stopfte sich dabei seine Pfeife und sagte zum Schluss: « Sie haben vollkommen recht. » Sein Ton hatte gar nichts Überhebliches, und sein ruhiger Ernst, mit dem er sprach, überzeugte uns Zuhörende, dass wir hier keinen Aufschneider — wie wir es zuerst vermuteten — vor uns hatten: « Unter normalen Bedingungen », sagte er weiter, « also bei andern gewöhnlichen Touristen, würde mein Tun Gott versuchen. Bei mir sind aber Umstände vorhanden, die Ihnen ja nicht bekannt sein können und die mir meine extravaganten Unternehmungen erlauben. » Uns wurde sofort klar, das war ein Selbstmörder oder ein Verrückter. Einer der Führer sagte es ihm auch ins Gesicht: « Wenn Sie Ihr Leben doch absolut loshaben wollen, so tun Sie es bitte nicht hier, wo wir Führer gezwungen sind, Sie zu bergen und wegen Ihrem Spleen eventuell noch unser eigenes Leben riskieren müssen. » « Ja! und sogar bei schönem Wetter unsere geplante Tour abbrechen müssen », rief eine junge Dame dazwischen. « Sie irren », sagte lächelnd der mysteriöse Mann, « ich bin weder ein Selbstmörder, noch werde ich Ihnen ( hier wurde er leicht giftig ) die Freude bereiten, eine lukrative Bergungsaktion durchzuführen. » Ein Wort gab das andere, und die Stimmung in dem heimeligen Hüttli wurde auf Sturm gesetzt; ja, es schien, als ob bald eine heimatliche Rauferei beginnen würde. Doch der Fremde, mit diplomatischem Geschick und ruhigem Ton, besänftigte die erhitzten Köpfe wieder. Und als er gar erklärte, er werde sein Geheimnis preisgeben, warum er solche Unternehmungen allein wage, wurde es mäuschenstill. Alle waren gespannt. Selbst die Früh-schläfer krochen aus den Decken hervor, und den Führern gingen die Pfeifen aus.

« Sehen Sie », sprach er, « Sie glauben sicher, ich sei vom Grössenwahn befallen, wenn ich Ihnen von meinen Kenntnissen berichte. Aber ich werde Ihnen auch Gelegenheit geben, das, was ich Ihnen hier erzähle, zu beweisen. Als Naturforscher, speziell Forscher über die Bewegung des Gletschereises, bin ich seit vielen Jahren fast immer im Gebirge, in der Gletscherregion tätig. Dadurch habe ich heute solche Erfahrung und Kenntnis über die Zustände von Schnee und Eis, die sicher jede Erfahrung der Bergführer und gewöhnlichen Alpinisten weit übertrifft. Ich erkenne zum Beispiel die Lage einer Gletscherspalte, wenn sie auch noch so tief verschneit ist, wenn auch sonst gar nichts über ihr Dasein aussagt. Schauen Sie hinunter dort zum Fieschergletscher. Ich zeichne Ihnen hier einen Plan der Spalten. Sie können morgen hingehen, pickein und graben und meine Angaben überprüfen. Ich wette, was Sie wollen, mit Ihnen, dass ich Ihnen von hier aus Spalten bezeichnen kann, von deren Vorhandensein Sie keine Ahnung haben. Ich kann Ihnen auch jeden Schneerutsch zum voraus sagen, ich kann Ihnen sogar Stunden zum voraus ein losbrechendes Schneebrett angeben. » Als der gute Mann noch behauptete, er spüre zum voraus den Steinschlag, war es für mich eine ausgemachte Sache, dass dieser sogenannte Forscher ein armer Irrer sei. Ich wurde müde, verzog mich auf die Pritsche und hörte nur noch von ferne, dass sich der Kampf noch weit in die Nacht hineinzog.

Am andern Morgen war schlechtes Wetter. Das Gespräch von gestern nahm natürlich seinen Fortgang, und weil wir eben nichts Besseres zu tun hatten, half uns der Mann mit seinem Gespinst über die schlechte Laune hinweg, die uns wegen der ausfallenden Tour befangen wollte. Wir gingen nun — die ganze anwesende Gesellschaft — zum Gletscher hinunter. Der Forscher zeichnete uns mit seinem Skistock eine unsichtbare Spalte in den Schnee. Ich war gespannt, war aber so ungläubig, dass ich mir nicht die Mühe genommen hätte, zu graben. Doch die jungen Führer pickelten lachend drauflos. Und wirklich, es stimmte. Tief unter dem Schnee fand man die bezeichnete Spalte, an einem Ort, wo man wirklich ohne graben keine Anzeichen sehen konnte. Erst stürzte ein Stück der Decke ein, und als der Rest Schnee zu einer grossen Öffnung weggegraben war, konnte man sehen, dass der Verlauf der Spalte genau mit den vorher gezeichneten Angaben des « Forschers » übereinstimmte. Wir waren alle etwas verdutzt. Keiner wusste mehr recht, was er von diesem Menschen halten solle. Er zeigte uns nun auch seine Skikünste. Im Couloir, das von der alten Hütte herunterzieht, steckte er mit Skistöcken einen Slalom ab, packte dann einen den Führer, setzte ihn auf seine Schultern und rannte unter lautem Gelächter der Beteiligten und der Zuschauer den Hang hinauf. Kaum oben angekommen, sauste er schon wieder herunter — mit Eleganz und Leichtigkeit, den Mann auf den Schultern... mir wurde es nach und nach unheimlich. Verrückte können ja oft Übermenschliches, aber mir fing der Mann an zu grausen.

Ja, es kam noch ärger. Er führte uns noch seine « Spezialabsturztechnik » vor, die er sich nach vieljähriger Übung zurechtgemacht hätte.Von einem 10 Meter hohen Felsen sprang er herunter, Arme verschränkt, kopfvoran, im Salto und landete wohlbehalten auf den Füssen. Am Nachmittag gab er seine Lawinenkunde zum besten. Auf die Sekunde genau konnte er uns zum voraus eine herunterkommende Lawine an den Hängen der Fiescherhörner angeben. Und sie kam!

Die Stimmung wurde entsprechend. War sie zuerst fröhlich, so war es nun still in der Hütte. Keiner wusste mehr, was er von diesen Vorgängen halten solle. Man distanzierte sich von dem « Forscher ». Die Gespräche verstummten, und die Mehrzahl flüchtete zum Jass. Früh gingen wir schlafen, und als am andern Morgen der Tag anbrach — es war ein strahlender Sonnen- tag —, waren wir schon weit oben am Finsteraarhorn. Hie und da flogen Witze herum über den Forscher, aber als uns die Schönheiten der Tour gefangen nahmen, vergassen wir das gestrige Erlebnis bald und widmeten uns dem Genuss des Kletterns und der Aussicht. Wir waren froh, dass der verrückte Schnorrer unten weiterschlief.

Fast zwei Stunden schwelgten wir auf dem Gipfel. Gerade als wir aufbrechen wollten oder mussten — es war inzwischen Zeit geworden —, erschien unser Gespenst doch noch. Er kam vom schwierigen Südgrat her. Die Ski trug er seelenruhig mit sich auf den Gipfel. « Rasch rasch », rief mein Freund, wir wollten uns drücken, bevor der Teufel wieder in Aktion war. Doch bis unser Seil in Ordnung war, hatte er uns auch schon in Beschlag genommen. « Warten Sie doch einen Moment », schrie er uns zu, « ich zeige Ihnen hier noch das Allerbeste — meine Absturztechnik durch die Südwand. » Mir schauderte. Fort fort — doch bevor ich mich angeseilt hatte, stürzte sich der Verrückte auf mich zu. Ich wusste kaum, wie es geschah, er packte mich und stürzte sich mit mir in den Abgrund. Einen Moment wurde ich ohnmächtig vor Schreck. Doch schnell kam ich wieder zu mir. Was tunmein erster Gedanke. Doch was war da zu machen? Der Kerl hielt mich im Schwitz-kasten, und zusammen sausten wir dem Finsteraargletscher zu. Wie ich das konntein diesem Zustand —, ich fing wahrhaft an zu rechnen, wie hoch oder wie tief unsere Sturzbahn sei. Tausend Meter schätzte ich meine letzte Reise.

Als wir etwa die Höhe des Agassizjoches erreicht hatten, bekam ich den Kopf etwas lockerer. Drüben am Schreckhorn konnte ich unsern Sturz messen. Schreckhorn — adee — es gehörte ja auch noch zu meinen Plänen. In einen riesigen Lawinenkegel schlugen wir auf. Der Schnee war weich wie Butter. Das war auch unsere Rettung. Wir mussten tief eingesunken sein, denn ich brauchte Stunden, um mich herauszuarbeiten. Besonders, als ich schon bald oben war, hatte ich grosse Mühe. Der Schnee fiel wieder zusammen und drohte mich zu ersticken. Da, plötzlich packten mich zwei Hände von oben. Eine Rettungskolonne? Ich wurde heftig geschüttelt und emporgezogen. Und zum Schluss erhielt ich einen heftigen Rippenstoss. Meine Frau — sah ich nun, verworren. Sie schrie mich an: « Aufwachen, du träumst ja wieder — und die Decke hast du mir auch wieder gestohlen. » So erwachte ich im Familienbett.

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