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Die Engländer und die Eroberung der Alpen

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VON RICHARD GRÜNWALD, BRIG

Zu Beginn dieser gemäss Titel etwas martialisch anmutenden Abhandlung drängt sich uns eine Einschränkung auf. Die Fülle, das Unermessliche des Themas erfordern dies.

Zeitlich umfassen deshalb die folgenden Ausführungen im wesentlichen die Jahre des sogenannten « Goldenen Zeitalters », also vor allem die Zeit von 1855 bis 1865, wobei uns doch ab und zu ein bescheidenes Abschweifen gestattet sei.

Der Rahmen der Geschehnisse erstreckt sich auf die Viertausender der Walliser und Berner Alpen im Bereich des Oberwallis.

Als Bewohner dieser Talschaft ersuche ich, man möge über diese Art des Kantönligeistes, des Lokalpatriotismus nicht allzu streng zu Gericht sitzen.

Zu Beginn der Untersuchung ist es wohl angebracht, eine Chronik der Erstbesteigungen anzuführen. Selbst wenn wir uns auf die Viertausender beschränken, sind dabei etwa an die 40 Gipfel, ebenso viele Daten und noch wesentlich mehr berühmte Männer, Ausländer und Einheimische, aufzuzählen.

Chronik der Erstbesteigungen DatumGipfelErstbegeherFührer ( Steiger ) 3. August 1811 JungfrauJoh.Rudolf und Hieronymus MeyerAlois Volker, Jos. Bortis 13. August 1813 BreithornHenri MaynardJ.M. Couttet und 3 Führer Hérin 5. August 18)9 VincentpyramideJean Nicolas Vincent Datum 1. August 25. August 10. August Gipfel 1820 Zumsteinspitze 1822 Ludwigshöhe 1829 Finsteraarhorn Erstbegeher Jos. Zumstein, Molinatti, Johann und Jos. Vincent Baron von Weiden Franz.Jos. Hugi, der im Hugisattel zurückbleibt Don Gnifetti, Jos. Farinetti, Christ.

Grober, Jakob Giordani J. Sulger als erster Tourist Edm. Grenville, Christ. Smith Michael Amherdt, Pfarrer von Sim- plon-Dorf James Grenville, Christ. Smith, Charles Hudson, John Birkbek, E.

W. Stevenson Jakob Heusser, Notar Peter Jos.

Zurbriggen E.L. Arnes und 3 Engländer, Pfarrer Imseng E.L. Arnes Dr. S. Porges J.L. Davies Führer ( Steiger ) Jakob Leuthold, Johann Währen 9. August 1842 Signalkuppe Aplanalp und Johann Jaun Ulrich Lauener, F.J. Andenmatten Joh. Zumkemi, Friedrich Klausen Johann Zumtaugwald, M. Lauener 6. Sept. 15. August 28. August Finsteraarhorn 1854 Strahlhorn Fletschhorn 31. Juli 1855 Dufourspitze 2. Hälfte AugustWeissmies 26. August 1856 Lagginhorn 28. AugustAllalinhorn 15. August 1857 Mönch 11. Sept. 1858 Dom 16. Sept.Nadelhorn Franz Andenmatten und 3 weitere Führer aus Saas F. Andenmatten u. 1 Führer Imseng Christian Almer, Ulrich u. Christian Kaufmann Johann Zumtaugwald, Johann Kronig, Hieron. Brantschen J. Zimmermann, Al. Supersaxo, Baptiste Epiney, Fr. Andenmatten ( Triangulationspunkte erstellenJ. Bennen, P. Bohren, V. Tairraz Joh. und Anton Siegen, Jos. Ebener Melch.Anderegg, Joh.Zumtaugwald Melchior Anderegg und Peter Perren J.J. Bennen, Ulrich Wenger Stephan Zumtaugwald Cachât, Perren, Lochmatter Michel Croz Michel Payot Ch. Almer, Matthias Zumtaugwald Jean-Baptiste Croz, Joh. Kronig Christian Almer, Ulrich Kaufmann Johann u. Stephan Zumtaugwald, P.J. Summermatter Melchiorund Jakob Anderegg, Peter Perren, J.P. Cachât Peter Taugwalder, M.J. Perrin Melchior Anderegg Jakob Anderegg Michel Croz, Peter Taugwalder Vater und Sohn Peter Egger, Peter Michel, P. Inäbnit Weisshorn-Biner, Peter Perren, Peter Taugwalder Sohn Alexander Burgener, Franz Burgener Alexander Burgener, Ferdinand Imseng Jos. Imboden, J.M. Chanton Mathias Zurbriggen 18. Juni 1859 Aletschhorn 13. AugustBietschhorn 9. Sept.Rimpfischhorn 9. August 1860 Alphubel 19. August 1861 Weisshorn 19. AugustLyskamm F. Tuckett Leslie Stephen Leslie Stephen, R. Living Leslie Stephen, T.W. Hinchliff John Tyndall John Hardy, Prof. Ramsay, Dr. Sibson, T. Rennison, J. Hudson, W.E. H. Pilkington, R. Stephenson W. Mathews, F.W. Jacomb Brüder Buxton, J. Cowell A.W. Moore, H.B. George Thomas Kennedy, William Wigram Rev. H.B. George, A.W. Moore J.L. Davies, J.W. Hayward W.E. Hall, Craufurd Grove, Macdonald, W. Woodmass Jules Jacot Leslie Stephen, Craufurd Grove A.W. Moore, Horace Walker E.Whymper,Ch. Hudson, R. Hadow, Francis Douglas E. von Fellenberg R.B. Heathcote 23. AugustCastor 26. AugustNordend 11. Juli1862 Parrotspitze 18. JuliDent Blanche 23. JuliGross-Fiescherhorn 30. JuliTäschhorn 12. August 1863 Dentd'Hérens 1. August 1864 Pollux 22. AugustZinalrothorn 6. Juli 1865 Obergabelhorn 14. JuliMatterhorn 7. AugustGross-Grünhorn August 1869 Hohberghorn August 1870 Lenzspitze 7. Sept. 1879 Dürrenhorn Clinton Dent A. F. Mummery, William Penhall ( früher von Gemsjägern begangen ?) 28. August 1884 BieshornG.S. Barnes, R. Chessyre-Walker 28. Juli 1885 Hinter-Fiescherhorn Dr. G. Lammer, Aug. Loria 8. August 1887 Stecknadelhorn Eckenstein Oskar Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Reihe der Erstbegehungen ziehen? Zu Beginn des « Goldenen Zeitalters » ( 1855 ) waren die höchsten Bergriesen unserer Täler schon bezwungen: Vincentpyramide, Zumsteinspitze, Ludwigshöhe und Signalkuppe.

Es mag sonderbar anmuten, dass man sich zuerst an die höchsten Gipfel heranwagte; doch sind dies bekanntlich grösstenteils Schnee- und Gletscherkuppen, mit verhältnismässig wenig technischen Schwierigkeiten. Zudem werden die Pioniere der Alpen vor allem dem Reiz und der Herausforderung dieser alles überragenden, leuchtenden Bergspitzen erlegen sein.

Die Engländer treten in der Besteigungsgeschichte unserer engem Heimat erst in den fünfziger Jahren auf. Mit der Begehung des Strahlhorns ( 1854 ) kommen sie erstmals zum Zuge. Alsdann aber finden sich unter den Söhnen Albions die unentwegtesten Gipfelstürmer, denn etwa 26 der 40 Viertausender im Oberwallis werden in den folgenden Jahren erstmals von Engländern erstiegen. ( Auch Bietschhorn, Fletschhorn zählen hierbei als Viertausender mit. ) Ebenso viele Gipfel oder mehr als 60 % der Viertausender werden erstmals im Monat August betreten.

Obwohl den Engländern der Löwenanteil bei der Eroberung der Alpen in unserem Landesteil zukommt, standen sie keineswegs am Anfang der Bewegung: Schweizer, Italiener und Deutsche waren ihnen zuvorgekommen.

Getreu dem Grundsatz « Kühnheit und Sicherheit », wie er beim Alpine Club stets galt, waren Herr und Führer meistens vereint am Berg. Beiden Erstbegehungen des Jahres 1861 ( Lyskamm, Castor und Nordend ) scheint der Anteil der Führer nicht so überwältigend gewesen zu sein, wie man es vielfach annimmt. Dies beweist einmal mehr, dass kühne Engländer des öftern auch ohne Führer erfolgreich waren.

Anderseits sind 1858 am Nadelhorn lauter Jäger, Steiger und Handwerker zu finden; sie hatten einen Triangulationspunkt zu errichten.

Bescheiden scheint auch das Verdienst der Führer bei den Erstbegehungen im Monte Rosa-Massiv zu sein.

Neben dem Naturwissenschafter begegnen wir im Namenverzeichnis der Erstbegeher wiederholt dem Geistlichen, wie: Don Gnifetti, Pfarrer Amherdt von Simplon-Dorf, Pfarrer Imseng von Saas-Fee, Rev. Hudson und Rev. George. Sogar dem einheimischen Notar Peter Jos. Zurbriggen scheint es die Bergwelt schon damals angetan zu haben.

Führerlose gab 's auch zu Beginn des Bergsteigens. In trotziger Verzweiflung stieg Whymper beim vierten Versuch am Matterhorn allein weiter und kam bis 430 m unter den Gipfel. Andere « Pioniere » haben aber ihr irdisches Dasein reichlich höher bewertet, ansonst hätte Henri Maynard nicht gleich vier Führer zur Besteigung des Breithorns aufgeboten.

Sogar Winterbesteigungen sind keineswegs die Errungenschaft unserer Zeit. Schon Kennedy hatte den kühnen Entschluss gefasst, das Matterhorn mitten im Winter über den Hörnligrat zu besteigen, um im Schnee bessern Halt zu finden. Sturm und Kälte zwangen ihn jedoch auf 3400 m zur Umkehr.

Zu den erfolgreichsten Gipfelstürmern Grossbritanniens zählen in unserem Landesteil wohl: Leslie Stephen mit Bietschhorn, Rimpfischhorn, Alphubel, Zinalrothorn - A.W. Moore mit Parrotspitze, Gross-Fiescherhorn, Obergabelhorn - Christ. Smith mit Strahlhorn und Dufourspitze -Davies mit Dom und Täschhorn sowie Eduard Whymper mit allein sieben Versuchen am Matterhorn.

Im weitern ist folgende Frage sehr naheliegend: Warum wagte man sich plötzlich derart in die BergeAls die Alpen ihr trutziges Haupt aus dem Reiche Neptuns zum Sonnenlicht reckten, war der Bereich der Viertausender für den Menschen noch eine Stätte des Grauens, und sie wurde wohlweislich gefürchtet und gemieden. Von spärlichen Ausnahmen abgesehen - 1367 werden sechs Geistliche wegen ihrer Unternehmungslust nach der Rückkehr vom Pilatus ins Gefängnis gesteckt; 1492 erreicht man erstmals mit Hilfe von Seilen und Leitern den Gipfel des Mont Aiguille in den französischen Alpen -, verharrt der Volksglaube in dieser althergebrachten Auffassung und Ablehnung gegen die Bergwelt. Aber Wissensdurst, Entdeckungs- und Forschertrieb, Aufklärung und idealistische Schwärmer drängten nach Gewissheit über das Unbekannte im Wesen der Berge, welches die unwahrscheinlichsten, phantastischen Vorstellungen beim Menschen wachrief.

1729 schrieb Albrecht von Haller sein Gedicht « Die Alpen », das eher gewunden und pedantisch klingt. Trotzdem erreichte er sein Ziel: der Menschen Augenmerk auf die Alpen zu lenken, sie zur Reise nach den Bergen anzuregen. Wirksamer in diesem Sinne war etwa 30 Jahre später Rousseaus Roman « La Nouvelle Héloise », der den Menschen lehrte, die Welt zu sehen, und vor allem so, wie sie sich in den Alpen offenbarte. Sein Mahnruf « Zurück zur Natur » blieb nicht ungehört. Nun wurde besonders die Westschweiz ein beliebtes Ziel sentimentaler Seelen. Auch Benedict de Saussure und Ebel blieben nicht untätig. Der Erstgenannte erschloss die Welt der Hochalpen, letzterer gilt als « Entdecker » der Schweiz als Ganzes und regte viele Leser an, ihre Erfahrungen und Eindrücke selber zu sammeln.

Man schrieb das Jahr 1816. Der Romantiker Lord Byron fährt ins Berner Oberland. Seine Verse, wie beispielsweise:

« Die Alpen schimmern hehr, Paläste der Natur. Es ragt ihr Dach, das schneeige, bis in der Wolken Meer... » machen ihn zum rühmlichen Sänger des Oberlandes und der Bergwelt. Der Schotte Professor Forbes, nach dem ein Anstieg am Chardonnet benannt wird, besuchte in den vierziger Jahren im « Hotel des Neuchâtelois » im Aaremassiv den Gletscherforscher Agassiz. Mit Desor und Studer unternimmt er Bergfahrten im Jungfraugebiet und eine Haute-Route im Zick-Zack von Chamonix nach Saas-Fee. Man findet ihn alsdann im Dauphiné, am Mont Blanc und im Oberland. 1843 erscheint sein Buch « Reise in die Savoyer Alpen ». Diese Reiseschilderung wurde laut Louis Seylaz zum « Sesam öffne dich » des britischen Alpinismus. Forbes gilt als festes Band, als Bindeglied zwischen de Saussure und dem Alpine Club, dessen Ehrenmitglied der Schotte 1859 wird.Agassiz verlässt die Schweiz, weil er in Amerika für seine Belange bessere Möglichkeiten zu finden hofft. Die Alpintätigkeit der Forscher und Pioniere ( wie Studer, Ulrich, Coaz, Weilenmann, Pfarrer Imseng ) entbehrte nach der Auswanderung Agassiz'des ordnenden und leitenden Strategen.

Damit ist der Anfang getan, der Weg für Englands Söhne vorgezeichnet. Die Geschichte tat das ihre schon wesentlich früher: Der Sturz Napoleons, der wirtschaftliche Aufschwung Grossbritanniens sowie der soziale Wohlstand vieler Briten verhalfen zur Verwirklichung dessen, was früher als Ausgeburt romantischer Dichterphantasie galt. Das Eintreffen der ersten britischen Alpeneroberer fällt in jenen Zeitabschnitt, wo drüben in Manchester die ersten Fabriken aus dem Boden schiessen und graue Kamine in den Himmel zu Schloten beginnen. Die Seele flieht vor der immer mächtiger werdenden Maschine. Das Menschengeschlecht sucht neue Altäre, andere irdische Ruhepunkte. Dem Wissenschafter, Naturforscher, Professor, dem Geistlichen, Intellektuellen und dem Industriellen ward unser Land zur zweiten Heimat. Mögen auch Wissenschaft und Forschung als ursprünglicher Beweggrund die kühnen Erstbegeher in die Berge gelockt haben, diese Ursache zu aufsehenerregenden Bergfahrten war kaum von Dauer. Im Gegenteil, Wissenschaft und Forschung mussten bald nur noch als Rechtfertigung und schützender Deckmantel einer Leidenschaft herhalten, die es noch nicht wagte, offen Farbe zu bekennen.

Was berief aber just die Söhne Albions, innert eines Jahrzehnts die Alpen im Sturm zu erobern? Sämtlichen Schilderungen ist zu entnehmen, dass sie keineswegs aus Pappe waren. In Chamonix, 8 Die Alpen-1966 - Les Alpes113 wo die Briten in jugendlichem Übermut jede Führerhilfe ausschlugen, sagte man ihnen nach: Oh, diese Engländer, sie kennen nichts und fürchten nichts! Für diese Jugend galt nur eines, und das hiess: Nichts ist dem Sterblichen unmöglich. Wille und Geist werden stets Herr der Materie sein. Wo ein Wille ist, da ist auch ein WegIn südlichen Ländern aber witzelt man nicht selten über die Angelsachsen in folgender Art: Nur Engländer und tolle Hunde wagen sich um die Mittagszeit ohne Kopfbedeckung in die Sonnenglut. Auf dem Feld der Ehre spricht man dieser Nation die mehr oder weniger rühmliche Eigenart nach, dass sie nicht wussten, wann sie nachgeben sollten... Sie kämpften aus Pflichtbewusstsein, selbst dann, wenn sie von keinem Hoffnungsstrahl mehr begeistert waren.

Solche Urteile wirken krass und extrem. Etwas Wahres wird aber dennoch daran sein. Die Briten von damals waren weit vom Mittelmass entfernt: ausdauernd, zäh, unentwegt, vielleicht manchmal auch etwas halsstarrig, starrköpfig und beinahe sträflich unbefangen und zuversichtlich. Sie waren typische Nachkommen der früheren Seefahrer, Entdecker und Kolonisatoren in einem neuen Aktionsbereich. Verweilen wir nun bei einigen erfolgreichen Erstbezwingern der Oberwalliser Bergriesen! Widmen wir ihnen für kurze Zeit unsere Aufmerksamkeit!

Leslie Stephen: gross, hager und geschmeidig, der typische Felskletterer und Eisspezialist, mit vergeistigtem Blick, einem ausdrucksvollen Mund, der jederzeit einen ausgefallenen oder ergreifenden Gedanken zu sprechen bereit ist; das ist in wenigen Zügen das Porträt dieses Bergpioniers.

Stephen hat manches mit Javelle gemein. Er besitzt eine regelrechte Abscheu vor dem ausschliesslich wissenschaftlichen Ziele beim Bergsteigen. Er liebt die Berge und verherrlicht sie. Ohne Übergang schweift er vom Pathos zum frohgemuten Spass, denn er besitzt Witz und Humor, scheint aber auch etwas unbeständig zu sein: heute von Begeisterung zu den Bergen hingerissen, kann er ihnen morgen schon schmollen und schwört, nie mehr dorthin zurückzukehren.

Leslie Stephen verstrickt sich nicht in philosophische Überlegungen und Irrwege, wobei ihm aber das Dichterische sicher nicht fremd ist. Sein Urteil ist klar und scharf. Er sagt von sich selbst: « Ich litt zeit meines Lebens an einem unüberwindlichen Hang zur Vereinfachung, zu Abkürzungen, und das ist höchst betrüblich. In der Tat führt dies meistens zum Verhängnis: in der Wissenschaft beispielsweise zum Trugschluss, auf dem Weg zu Reichtum ins Zuchthaus, auf jenem zu Ehre und Ansehen ins Tollhaus, und die Abkürzungen im Gebirge bringen einen schnurstracks zu dem Ziel, das ebenso unerwünscht ist wie die übrigen, ins Jenseits. » Die Berge sind für ihn das Symbol der unbezwingbaren Naturgewalt, welcher der Mensch sich stets zu unterziehen hat. Stephen ringt nach Freiheit und Unabhängigkeit. Er empfindet es wohl-lüstig, wenn die Natur mit ihren ungezähmten Mächten ihm gebieterisch eine Lehre des Gehorsams und der Unterwerfung aufzwingt. Die Alpen sind für ihn der Tummelplatz Europas ( Playground of Europe ), mit einem Anstrich des zierlichen Spiels, um bald darauf wieder als Kathedrale zu gelten, wo man in sich geht und zu sich zurückfindet. Er kennt andere Auseinandersetzungen als jene mit den Tücken des Berges. So soll er die schicksalhaften Wechselfälle des Journalismus ebenso ausgelotet haben wie die schroffen Abgründe der Alpen. Es kann dies kaum wundern, wenn man sich daran erinnert, was er von Tyndall und dessen Forschungsergebnis hielt: Was das Ozon in der Atmosphäre betrifft, dessen Vorhandensein Tyndall bejahte, kann seiner Ansicht nur beigepflichtet werden, wenn man ihn für noch dämlicher, noch alberner hält, als.ich bisher glaubte. Nach diesem niederschmetternden Urteil verliess der Beleidigte aufgebracht und türeschlagend den Alpine Club. Leslie Stephen konnte sicher auch feineren, höflicheren Umgang pflegen; dafür mag folgende Begebenheit Zeugnis ablegen: Bei der Erstbegehung des Bietschhorns hatte er gleich drei Lokalführer ( die beiden Siegen und Ebener ) verpflichtet. Um ihrem Brotgeber die ihm ge- bührende Achtung, Ehre und Zuneigung zu beweisen, traten sie in bestem Sonntagsstaat an und hatten selbst den steifen Hut nicht vergessen.

Zum Schlüsse sei noch erwähnt, dass Leslie Stephen zu jenen zählt, die dem Alpinimus in dem Sinne untreu wurden, dass er in späteren Jahren nur noch im Geiste zu ihnen zurückfand.

Den Bindestrich zwischen wissenschaftlichem und geruhsamerem Bergsteigen ohne Nebenzweck zog Tyndall, der Physikprofessor an der Royal Institution ( 1820-1893 ). Es scheint schwer zu sagen, was bei ihm vorherrschte: der Wissenschafter, der Kletterer oder der Menschenfreund. Wissenschaft ist bei ihm stets mit Herzensbildung gepaart. 1849 beschafft er sich den ersten Alpenstock und überquert die Grimsel. Diese Reise beeindruckt ihn derart, dass er in sein Tagebuch vermerkt: Bei meiner Ehre, nie möchte ich eine solche Traversierung wiederholen!

Soviel Kleinmut durfte nicht allzu lange Bestand haben. Tyndall war zu energisch, ein zu tüchtiger Sportler. Dieser Professor hüpfte wie ein Gemskitz. Allmählich bezähmt er seine Furcht, er wird mit der Bergwelt vertraut. Alljährlich kehrt er dorthin zurück, um seinen Pakt mit dem Leben zu erneuern, wie er selber sagte.

Wissenschaft und Forschung waren wenigstens zu Beginn Ansporn und Triebfeder zu grossen Fahrten, ansonst schleppte Tyndall kaum Siedethermometer, Teleskop und Minimalthermometer bis auf den Gipfel des Finsteraarhorns, einen Ballast, der ihn wiederholt aus den Stufen zu werfen drohte. Das Minimalthermometer wurde oben vergraben. Im folgenden Sommer stöberte es Führer Bennen auf und soll es triumphierend über sein Haupt geschwungen haben. Ob die Mindesttemperatur von -32° der Wirklichkeit entsprach, wird vielfach angezweifelt.

Tyndall spielt keineswegs mit der Gefahr, sondern tritt ihr erst nach vollkommener Kenntnis der Sachlage entgegen. Alsdann zeugt aber auch er von dieser Hartnäckigkeit und Zuversicht, die dem damaligen Angelsachsen eigen waren, wenn er am Vorabend der Weisshornbesteigung seinem Führer Bennen zuruft: Führe, wohin es auch immer sei, morgen folge ich dir! So wurde der Versuch an diesem himalayaähnlichen Bergriesen zu einem vollen Erfolg.

Vorsicht war eine seiner Haupttugenden. Nie bezweifelte er den Rückzug, zu welchem Klugheit und Einsicht seiner Lokalführer rieten. Selbst am Matterhorn, als das Ziel in greifbare Nähe rückte und Whymper in Breuil ohnmächtig und tatenlos um den Ausgang des Versuchs bangte, überstürzte er nichts. Wohl bedauerte er später seinen Verzicht am Matterhorn. Tyndalls zartes, feines Wesen passte zum eleganten, lichten Schneeberg, dem Weisshorn, nicht aber zum kantigen, trutzigen Felsturm von Zermatt. Späte Genugtuung verschaffte ihm aber doch die erste Gesamtüberschreitung des Matterhorns, seines Traumberges.

Der alternde Tyndall hat seinen wissenschaftlichen Arbeiten in den Alpen wenig Bedeutung beigemessen. In seiner Zufluchtsstätte oberhalb Belalp, der Villa Tyndall, beim Anblick des unvergesslichen Zermatter Weisshorns, mag der Gedanke entstanden sein: « Die Alpen waren für mich mehr als ein wissenschaftliches Objekt; sie waren der sprudelnde Freuden- und Lebensquell; ich wüsste kaum in Worte zu fassen, was ich ihnen verdanke ».

Mit Eduard Whymper ( 1840-1911 ) haben die Alpen ihre Bedeutung als Spielplatz Europas eingebüsst. Um die Gemächlichkeit von früher war es geschehen. Die Bescheidenheit des Menschen im Gegensatz zur Grosse der Natur, wie sie Stephen empfand, wich einer diametral entgegengesetzten Einstellung zum Berg: Es galt nur noch zu siegen, um welchen Preis es auch immer sei.

Whymper ist kaum Bergsteiger im herkömmlichen Sinne des Wortes. Er war Zeichner und galt eher als Weltenfahrer und Entdecker. Sein ehrgeiziges Ziel war, die Arktis zu erforschen. Es gelang ihm allerdings nie, sich einer Expedition anzuschliessen. Auf eigenen Entschluss reiste er aber später zweimal nach Grönland. Die Alpen waren eigentlich nur vorbereitendes Versuchsgelände.

Der Verleger William Longman beordert den 20jährigen Whymper in die Schweiz, um Skizzen der wichtigsten Gipfel anfertigen zu lassen, die bei einer Neuausgabe Verwendung finden sollten.Vom Oberland über die Gemmi und Leukerbad kam er nach Zermatt. Der allen Anstürmen trotzende Gipfel, das Wahrzeichen Zermatts, stachelte seinen Ehrgeiz dermassen an, dass er nicht mehr von ihm lassen konnte. Teilerfolge und harte Enttäuschungen folgten aufeinander. Erst beim siebenten Versuch war ihm Erfolg beschieden, wenn man die Katastrophe beim Abstieg geflissentlich übersieht.

- Ein solches Gelingen war nur einem Manne wie Whymper vorbehalten. Er war hart, finster und entschlossen. Sein Charakter schien ebenso schroff und kantig wie die zerrissenen Felswände, an die er sich heranwagte.

Einer echten, tiefen Freundschaft schien er kaum fähig. Lokalführer betitelte er kränkend als erbärmliche Pfadfinder, grosse Fleischvertilger und Trinker. Einzig mit Michel Croz verbanden ihn die gemeinsamen Erlebnisse am Berg, teils vielleicht nur deswegen, weil der Engländer in diesem Führer eine Entschlossenheit entdeckte, die ihn in seiner Halsstarrigkeit noch übertraf: Croz hielt eine heikle Stelle für unbegehbar und zu riskant. Whymper war gegenteiliger Auffassung. Mit verschränkten Armen, sein Pfeifchen schmauchend, ergötzte sich der Chamoniard in schelmischer Freude an den nutzlosen Versuchen seines Herrn, bis dieser klein und beschämt verzichten musste.

- Und gerade diesen Seilgefährten, zu dem er Vertrauen gefasst hatte, entriss ihm das Schicksal im Augenblick des grössten Triumphs.

Die Katastrophenschilderungen Whympers waren stets mehr oder weniger eine Verteidigungs-schrift seiner selbst, wobei er, gewollt oder ungewollt, die ebenfalls überlebenden Führer Taugwalder anklagte. Der grosse Sieger am Horn hat sich dabei nicht gerade von der besten Seite gezeigt. Der Frage, warum gerade er, der erfahrene Alpinist und beste Kenner des Berges, zwischen den beiden Taugwalder, also zwischen zwei Führern, den Abstieg antrat, ist er wohlweislich ausgewichen.

Diese menschliche Seite Whympers ist es, die die Biographen immer wieder beschäftigte. Im « Zermatter Brevier » findet sich hierzu folgende Mutmassung: « Ist es der Mangel des weiblichen Einflusses in seinem Leben, der diesem den Charakter des Unvollkommenen gibt, oder fliesst der eine wie der andere Mangel aus derselben Quelle? Frauen spielten keine Rolle in seinem Leben... Er war 59 Jahre alt, als zum erstenmal eine Frau in sein Leben trat, eine Frau von hohem Charme, von ungewöhnlicher Energie und, obwohl 10 Jahre älter als er, noch eine bewunderungswürdige Bergsteigerin. Schon im folgenden Jahre starb sie. Er schreibt - es ist das einzige sentimentale Wort, das von ihm bekannt ist:, Meine geliebte Freundin ist von mir geschieden. Ich weiss kaum, wie ich es ertragen soll. ' 66jährig ging er mit einer 21jährigen eine zweite Ehe ein, die indes bald wieder getrennt wurde. » Das Leben mag ihm arg mitgespielt haben; deshalb ist wohl auch etwas Nachsicht am Platze. Die Wechselfälle im Dasein Whympers gehen am deutlichsten aus seinen eigenen Worten hervor: « Ich habe im Leben so unermessliche Freude empfunden, die nicht in Worte zu fassen ist, aber auch so drückenden Kummer erlitten, dass ich 's nicht wagte, dabei zu verweilen ».

Eine weitere Begebenheit mag charakteristisch sein für Whympers Eigenart. Es war bei widerlichen Verhältnissen am wilden Grat der Dent Blanche, die in aller Stille und ohne viel Aufsehen von Kennedy bezwungen wurde, bevor Whymper sein Vorhaben verwirklichen konnte. Croz begleitet Whymper, und dieser bemerkt plötzlich schemenhafte Umrisse im Nebel. « Was ist das? » erkundigt er sich bei Croz. « Ein Steinmann, Herr ». Ohne ein Wort macht Whymper 20 m unter dem Gipfel kehrt und tritt den Rückweg an, als ob er nie ausgezogen wäre, diese Spitze zu bezwingen.

Whymper ist volkstümlicher und berühmter geworden als mancher seiner Artgenossen. Nach den tragischen Geschehnissen des Jahres 1865 kehrte er den Alpen den Rücken und zog nach Grönland. Um 1874 tauchte er wieder in « Cervinopolis » auf und bestieg das Horn zum zweitenmal.

Die mangelnden Orts-, Klima- und Wetterkenntnisse der Briten im Alpengebiet machten die einheimischen Führer bei vielen Unternehmungen geradezu unentbehrlich. Johann Josef Benet aus Fiesch, von den Engländern stets Bennen geheissen, galt als « Garibaldi unter den Führern » und war lange Jahre ein treuer Begleiter John Tyndalls. Franz Andenmatten, der bei den meisten Erstbesteigungen im Saastal mit von der Partie war, anerbot sich freiwillig, die Leichen der am Matterhorn Abgestürzten zu suchen. Kein einziger Zermatter Führer konnte dies wagen, denn man drohte ihnen mit der kirchlichen Exkommunikation. Diese beiden kühnen Männer verdienen eine löbliche Erwähnung; denn auch ihnen sei wenigstens einmal, im Rahmen des Möglichen, Genüge getan.

Mit dem Ende des Goldenen Zeitalters, etwa um 1865-1870, tritt im Bergsteigerwesen eine latente Krise auf. Die Grosszahl der Gipfel war bezwungen. Man befürchtete, die Bergsteigerei werde sich totlaufen. Doch das Bangen war verfrüht. Kaukasus, Anden und Himalaya boten ungeahnte Ausweichmöglichkeiten. Mit Mummery, Ryan und Dent findet sich aber auch ein Ausweg für die Westalpen, indem schwierige Anstiege und Wände angegangen werden. Damit setzt der Übergang zum modernen Felsklettern, zum extremen Bergsteigen ein.

Diese Krise mag ihren Ursprung wenigstens teilweise in der irrigen Auffassung haben, Alpinismus sei ein Sport unter vielen. Wenigstens einzelne Briten sahen im Bergsteigen eine vergnügliche Fortsetzung der Gymnastik, die sie vor und nach dem Abitur an Gymnasium und Hochschule pflegten. Auch der Versuch, Alpinismus als romantische Lebensform zu deuten, ist fruchtlos und führt geradlinig zum Bergsport, zum Leistungssport, zum reinen Leistungserlebnis zurück. Es braucht wohl nicht eigens betont zu werden, dass das Leistungserlebnis beim Bergsteigen nicht wegzudenken ist, denn es bieten sich dabei stets « Raum und Gelegenheit für persönliche Leistung ».

Bergsteigen ist aber wesentlich mehr als nur Sport. Bergsteigen bedarf der alpinen Idee im Gegensatz zum nüchternen Bergsport, der diese Innerlichkeit des Alpinismus nicht kennt. ( Vielleicht gilt auch hier für manchen Bergfreund das geflügelte Wort: Ein jeder fühlt 's, nicht jedem ist 's bekannt.Erich Meyer und Karl Greitbauer aber scheinen über diese Innerlichkeit des Alpimisnus Bescheid zu wissen. Versuchen wir, ihren Gedanken zu folgen:

« Den Alpinismus verstehen heisst, den Bergsteiger verstehen. Ein solches Verstehen des Menschen erfordert, sein Grundwissen zu kennen, d.h. zu wissen, was ihm die Welt und die Dinge in ihr bedeuten. Das Grundwissen wiederum führt zur Frage, wie der Mensch überhaupt sein Existieren in der Welt vollzieht: Verstandes-, vernunftmässig oder sonstwie? Dabei gelangt man zur Erkenntnis, dass sich der Mensch weniger vom Verstand als vielmehr von Bildern, die er sich von seiner Umwelt macht, in seinem Dasein leiten lässt. Diese Bilder sind die Bilder des Grundwissens, die Symbole, und die Lebensführung erfolgt meist unbewusst durch Symbole.

Welche Symbole offenbaren sich aber im tiefern Gehalt des Alpinismus, dass eine dergestaltete innere Bindung möglich wird?

Die Existenz, das Dasein oder das Sein schlechthin ist kaum anders fassbar als im Symbol. Im Cartesianischen Satz ,Ich denke, also bin ich'wird das Denken zum Symbol des Seins. Es gibt aber Symbole, die das Sein entschieden nachhaltiger, als dies beim Denken der Fall ist, bewusst werden lassen: Der Berg selbst steht als Architektur im Raum und ist somit Symbol des räumlichen Seins. Indem ich mich in dieser gigantischen Gebirgswelt bewege, die Horizontale aufgebe und die Vertikale angehe, mich dem Räume entziehe und mich dem Nichts exponiere, wird mir das un- mittelbarste Seinserlebnis zuteil, das überhaupt möglich ist. Dies ist das spezifisch bergsteigerische Erlebnis der Grenzsituation von Sein und Nichts, das Erleben des Existierens an der vertikalen Grenze zwischen Sein und möglichem Nichtsein. Dieses Moment im Bergsteigen entsteht von innen heraus und hat im gewöhnlichen, üblichen Sport kein Gegenstück. In diesem bewussten oder unbewussten Erlebnis der spezifisch bergsteigerischen Grenzsituation besitzt der Alpinismus seine jenseits des Pragmatismus des Daseins liegenden menschlichen Ideenwerte, die den Gedanken der heutigen Existenzphilosophie sehr nahestehen: Die bodenlose Tiefe unter dem Bergsteiger in der Wand gebiert das Denken über das Nichts als ein Etwas, welches das Sein radikal in Frage stellt, und setzt damit das Denken über das Sein in Bewegung. Die Genügsamkeit des Bergsteigers, die Bescheidenheit, die Einfachheit und Lauterkeit, jene Charakteristika des „ wahren " ( d.h. zum Denken über das Sein gelangenden ) Bergsteigers, gründen letztlich im Erkennen und Erleben der Grenzsituation des Seins ». So weit Karl Greitbauer.

Es bedarf einer Art Sternstunde, damit im Verlaufe einer Bergsteigerlaufbahn diese Erkenntnis wach wird. Für den Nicht-Bergsteiger bleibt sie belanglos und wahrscheinlich kaum fassbar. Greitbauer selber gesteht, wer allzu sehr grübelt, analysiert und auflöst, verliert unweigerlich, was er fest in der Hand zu haben glaubte, und setzt sich der Gefahr des An-der-Sache-Vorbeiredens aus. Fassen wir also kurz zusammen: Alpinismus ist mehr als Sport, wenn neben dem Leistungserlebnis die persönliche Bewährungs- und Gestaltungstendenz sowie das Erleben der existentiellen Grenzsituation zwischen Sein und Nichts im Vordergrund stehen.

In diesem Sinne ist Alpinismus an keine Zeit, an keine Region, an keine letzten Probleme und wohl auch nur beschränkt an das Alter gebunden; denn alsdann gilt vom Bergsteigen Guido Reys Gedanke: Ich war stets der Ansicht und vertrete sie auch fürderhin, dass jede Auseinandersetzung mit dem Berg nützlich ist wie die Arbeit, edel wie eine Kunst und schön wie ein Glaube.

Quellenangabe: Übersetzung, Auszüge und Zusammenfassung aus:

« Echo des Alpes » 1916/22/14 « Die Alpen »1957/1932 Clubführer durch die Walliser Alpen: M. Kurz und Dübi Clubführer durch die Berner Oberländer Alpen « Pioniere der Alpen », C. Egger « Zermatter Brevier », W. Kämpfen « Der Gewerbeschüler », Leseheft 44/2

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