Die Julischen Alpen
VON HENRI NICOLE
Mit 4 Illustrationen ( 103-106 ) und 1 Karte Wenn du von Forschergeist beseelt bist, aber keine Möglichkeit hast, in Massiven von den gigantischen Dimensionen des Himalaya oder der Anden deine Entdeckungsfahrten zu machen, so beuge dich über die Karte von Ländern, die nicht allzuweit von der Schweiz entfernt sind. Du wirst sehen, dass es ausser den bekannten Bergregionen noch andere gibt, von denen man bei uns wenig oder gar nichts weiss, und wo du, ohne dass du auf die andere Seite der Erdkugel zu reisen brauchst, trotzdem unvergessliche Bergferien erleben kannst.
Die Julischen Alpen befinden sich in Jugoslawien, genauer gesagt in Slowenien. Das Massiv bildet im W die Grenze gegen Italien, im N gegen Österreich, und, obwohl es gewissermassen eine Fortsetzung der Dolomiten darstellt, hat es mit ihnen wenig Verwandtschaft. Es besitzt seinen besonderen, ihm eigentümlichen Charakter.
Von den sechs jugoslawischen Republiken ist Slowenien die nördlichste, also die unserem Land am nächsten liegende. Man könnte es mit einer Schweiz im Kleinen vergleichen, grün und blühend, da und dort mit dem wilden Aspekt der provenzalischen Carrigue. Man kann über Österreich reisen - der kürzeste Weg - oder über die schönen Strassen Norditaliens. Von Venedig bis Triest fährt man der adriatischen Küste entlang, verlässt sie dann und fährt ins Innere des Landes Richtung Ljubljana, der slowenischen Hauptstadt. Es ist eine prächtige kleine Stadt, die man von dem auf einem kleinen Hügel im Zentrum der Altstadt erbauten Schloss herab schön überblicken kann. Von diesem Aussichtspunkt kann man bei klarem Wetter in der Ferne die Kette der Julischen Alpen sehen. Wenn du grosse Bergtouren im Sinn hast, so kannst du in Ljubljana wertvolle Auskünfte erhalten. Und wenn du Lust hast, so versuche gelegentlich die gastronomische Spezialität des Landes, die vorzüglichen « Ragenitci-chevab-chichi » ( Schweinefleisch an Spiesschen ).
Von Ljubljana aus fährst du durchs Sava-Tal hinauf; es sind 60 km bis nach Jésénice: eine kleine Industriestadt, das slowenische Chamonix. Man kann auch einen kleinen Umweg machen über Bled, um zwei kleine, im Grünen versteckte Seelein zu bewundern, die der Landschaft ein romantisches Aussehen geben.
Und nun, wenn du gekommen bist, um zu klettern, um schwindelnde Vertikalen zu geniessen und reine Höhenluft zu atmen, so bist du hier am Ausgangspunkt für solche Unternehmungen. Drei Gipfel, in verschiedenen Berggruppen gelegen, erwarten in aller Ruhe die Ehre deines Besuches. Es sind: der Triglav, der Spik und der Jalovec.
Zuerst der König der drei: der Triglav, höchster Punkt seines Massivs, 2863 m, das man von Jésénice her erreicht, indem man 10 km ins Lavatal hineinsteigt bis Mojstrana, dann links abbiegt ins Vratatal mit dem Fluss Bislricaklares Wasser ). Die Strasse ist befahrbar und lässt uns tausend Wunder entdecken in diesem kleinen Paradies. So gelangt man nach Aljazev-Dom, einem Hütten-restaurant am N-Fuss des Triglav, anderthalb Stunden unterhalb des Einstiegs. Von hier aus macht dieser Riese ausserordentlich Eindruck und hält den Vergleich mit den grossen Bergflanken in den Alpen aus, unter anderm mit der Eigerwand, nur dass er stärker durchfurcht ist. Während man die fünf Pfeiler dieser an der Basis mehr als 3 km breiten und 1500 m hohen Wand betrachtet, melden sich viele Wünsche. 22 Kletterrouten sind schon geöffnet, und ihre Schwierigkeiten nehmen von links nach rechts zu. Hier einige davon:
die « Memska Smer », Schwierigkeitsgrad III-IV, die « Bavarska Dolga menska Smer », IV mit Passagen V, die « Skalaska Smer », IV+, eine Passage V, die « Prusik-Szalayeva Smer », IV+, mit Passagen V, die « Copov Steber », VI.
Der Führer empfiehlt dem Fremden, der die Wetterverhältnisse in diesen Regionen nicht kennt, die Bavarska Dolga menska Smer, einen grossen Pfeiler zur Linken; denn er erlaubt in seinem Mittelstück, sehr rasch nach links auszuweichen ( leichte Route der Menska Smer, die nur eine einzige Stelle IV+ aufweist ). Die Route vermittelt dir das Erlebnis der grossen Wände, die Schwierigkeiten des Wegsuchens, die ständige Ungewissheit deiner Lage; es ist ein « Menu für grossen Appetit », wobei du das Gleichgewicht zwischen zwei entgegenwirkenden Kräften finden musst: Schnelligkeit und Sicherheit. Die Tour ist an der Grenze, wo man ohne Biwak auskommt. Aus-geruhtsein - an Körper und Geist - das ist die Hauptbedingung für ihr Gelingen. Denn tatsächlich sind diese Routen sehr lang; der Fels ist oft schlecht und besitzt keine natürlichen Sicherungspunkte, und das Hakeneinschlagen im Kalkstein ist schwierig.
Für Liebhaber von Wanderungen hat die slowenische Bergvereinigung am Nordhang drei Normalwege eingerichtet: den Cez Prag, den Tominskova Pot und den Bambergova Pot, welch letzterer durch die Luknia-Scharte führt. Es sind mit festen Kabeln eingerichtete Fusswege. In den grossen Stein- und Karrenfeldern im oberen Teil sind sie mit roten Farbringen markiert. Bei schlechtem Wetter oder für verspätete Abstiege leisten sie auch dem Bergsteiger gute Dienste. Der Beweggrund für diese fürsorgliche Einrichtung im grossen Maßstab ist einfach: es gibt hier keine Bergführer von Beruf. Der leitende Gedanke ist der, dass jeder die Möglichkeit haben soll - nach seinem Wunsch und seinen Fähigkeiten - aus eigener Kraft fast jeden Gipfel zu erreichen. Eine Auffassung, die von derjenigen in unsern Gegenden abweicht. Vielleicht begegnet man deswegen dort unten nur wenigen Engländern?
Der zweite dieser Gipfel ist der Spik. Im Zentrum des Martuljek-Zirkus gelegen, ist er eine in seltener Eleganz in die Höhe schiessende Dreieckpyramide von stolzer Schönheit. Mit ihrer 900 m hohen Nordwand überragt sie eine sehr wilde, als Nationalpark bezeichnete Region, in der es weder Gasthäuser noch bewachte Unterkunftshütten noch markierte Wege gibt. Jenen, die sich für diesen Nationalpark interessieren, möchte ich nahelegen, entweder sich über die auf dem Anmarschweg bis zur Wand zu durchlaufende Gegend gut zu erkundigen, oder dann auf das Unternehmen zu verzichten, falls sie nicht bereit sind, das grosse Schaudern zu erleben, das grosse Schaudern, das man empfindet, wenn man bei Tagesanbruch einen Bären aufstört. Zu bemerken ist, dass es auch Wölfe gibt. Einen solchen schickte uns das Glück nicht über den Weg.
Um in diese Region zu kommen, geht man von Jésénice aus das Savatal hinauf, an Mojstrana vorbei bis zum kleinen Dorf Cord ( 13 km ). Von da gelangt man, zuerst auf einem Weg, dann über kleine Fusswege - für gut Unterrichtete, und durch einen ausgetrockneten Wildbach für die weniger Glücklichen - zum Beginn der eigentlichen Aufstiegsroute. Die Auswahl an Routen ist bald aufgezählt: es gibt in dieser rauhen Wand drei Wege, alle drei nur für bewährte Kletterer; denn sie sind mit V, V+ und V mit Passagen VI kotiert. Die dritte Route ist erst 1947 geöffnet worden, die beiden andern durch Seilschaften, die von zwei Frauen geführt waren, vor welchen ich gehörig den Hut abnehme. Wenn du die eleganteste der drei Routen, die « Skalaska Smer », die Direkte ( V+ ) wählst, kann ich dir versichern, dass du aussergewöhnliche Stunden erleben wirst, Stunden, an die du dich dein Leben lang erinnern wirst. Der erste Teil des Aufstiegs bietet nicht immer sehr guten Fels ( immerhin besseren als beim Triglav ). Auch ist der Weg nicht ganz leicht zu finden. Vom Dibona-Band aus, das die Schwelle zu den grossen Schwierigkeiten darstellt, ist es dann ein richtiges Vergnügen: sehr glatte, senkrechte Kamine mit eingeklemmten Blöcken, ein winzig kleiner Balkon als waagrechte Oase in dieser Wüste von Senkrechten - die Stelle, wo die Erstbesteiger biwakierten -, dann Platten mit minimsten Griffen, Querrisse und eine delikate und ausgesetzte Querung, wo sich der « Artist » ohne Netz über 750 m hohem Luftraum bewegt. Dann eine 90 m lange, offene Verschneidung ( ähnlich wie in den Nadeln von Chamonix ) mit Ausstieg über zwei Überhänge in den freien Himmel. Der Abstieg bereitet dir keine Sorge: 150 Meter leichter Fels, dann eine Folge von Steinblöcken, und du erreichst den Wald mit bezeichneten Wegen, weiter durchs Vel-Pisnica-Tal nach Kranj Gora. Also drei bis fünf Stunden Anmarsch, zwölf Stunden Aufstieg, drei Stunden Abstieg. Vergiss vor allem nicht, die Feldflasche mitzunehmen...
Was den dritten dieser Gipfel betrifft, den Jalovec: er ist ein wundervoller Berg, ganz im Westen des Massivs. Man erreicht seinen Fuss von Ratece her, einem Dorf an der italienischen Grenze, durchs Planica-Tal, das durch seine Sprungschanzen bekannt ist. Bis zu einem kleinen Gasthaus, von wo aus der Anmarsch von zwei Wegstunden erfolgt, kann man den Wagen benützen.
Der Berg steht abgesondert und verschwiegen im Talhintergrund. Man erblickt ihn lange nicht, bis er plötzlich in seiner ganzen Majestät vor einem steht. Man entdeckt dann, links von seinem Gipfel, eine Wand der Vélika Mojstrovka ( 700 m hoch ), welche eine Reihe von Kletterrouten bietet ( alle schwierig, IV. bis VI. Grad ), die die Aufmerksamkeit der besten slowenischen und ausländischen Bergsteiger auf sich gelenkt haben. Die Routen sind alle sehr elegant; die Wahl hängt nur vom Geschmack des Bergsteigers ab.
Und nun noch aus allen drei Regionen einige Wände, die hervorgehoben zu werden verdienen:
1. In der Triglav-Region der Draski Vrh, mehrere ziemlich schwere Wege, V und V+, 700 m hohe Wand; der Rjavina, 850 m hohe Wand, ziemlich schlechter Fels, ein Weg VI, mit ein paar leichteren Stellen.
2. Im Martujek-Zirkus der Siroka Pec, ein Weg im Pfeiler und drei in der N-Flanke ( V, mit Passagen von V und VI, fauler Fels ), ein Weg über den NO-Grat.
3. Zwischen Martujek und Jalovec einige interessante Routen am Razor: Skrlatica-Wand, 600 m; mehrere Wege IV und V; Rakova spica, künstliche Begehung.
Die Auskünfte sind ziemlich schwer zu erhalten. Es gibt einen Führer in slowenischer Sprache: « V Nasih Stenach » und einen auf Deutsch: « Julische Alpen », von Hellmut Schöner. Letztes Jahr sind Sitz und Archive der slowenischen Bergvereinigung in Ljubljana durch Feuersbrunst zerstört worden, weshalb die Karten sehr rar sind. Das Original der hier reproduzierten Karte wurde mir anlässlich meiner Reise von Frau Stazica Cernic überlassen. Ich benütze die Gelegenheit, ihr hier als einer auch in Frankreich sehr bekannten Elite-Alpinistin meine Dankbarkeit und Bewunderung auszusprechen. ( Sie hat unter anderem als erste Frau die N-Wand der Ailefroide erstiegen. ) Wie dieser kurze Bericht zeigen möchte, gibt es immer noch wenig bekannte, vom kommerziellen Tourismus nicht profanierte Regionen, wo sowohl der Freund von Ausflügen in die Natureinsam-keit unberührter Landschaft seine Befriedigung findet als auch der Kletterer, der sie in seiner Auseinandersetzung mit den ewigen Felsen sucht.Übers.: F. Oe.