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Die Nonstop-Überschreitung der Viertausender der Alpen

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Nonstop-Überschreitung der Viertausender der Alpen

Martin Moran, Strathcarron, Schottland

Martin Moran ( links ) und Simon Jenkins ( rechts ) auf dem Gipfel des Matterhorns, 20. Juli 1993

Nachdem die beiden Alpinisten die Viertausender rund um Zermatt bestiegen haben, verlassen sie auf ihren Rädern das Val d' Anniviers, um ihr nächstes Ziel, den Grand Combin, zu erreichen.

In den letzten Jahrzehnten haben sich viele Alpinisten von den Alpen abgewandt in der Überzeugung, sie böten keine lohnenden Abenteuer mehr. Massentourismus, Kommerzialisierung, Umweltzerstörung und das überraschend starke Aufkommen des Sportkletterns wurden als Gründe für die nachlassende Popularität des ( Spielplatzes Europa ) genannt. Vor allem aber ist das Potential für Neutouren im hochalpinen Gebiet so gut wie erschöpft, und deshalb haben viele abenteuerlustige Alpinisten ihren Heimatbergen den Rücken gekehrt, um sich grösseren Gebirgen zuzuwenden.

Abenteuer erlebt man im Alpinismus jedoch nicht nur durch die Erkundung von Neuland: Mit etwas Fantasie kann man, wie die Engländer sagen,

Einer der eindrücklichsten Exploits dieser Art gelang André Georges und Erhard Loretan, die im Februar 1986 innerhalb von nur 20 Tagen alle Gipfel rund um Zermatt über- schritten. Sie bestiegen dabei etwa dreissig Viertausender und zeigten bei dieser Gelegenheit die Möglichkeit einer noch grösseren Unternehmung auf: die Überschreitung aller Viertausender der Alpen in einer Nonstop-Tour.

Es mag überraschen, dass sich in den folgenden sieben Jahren kein einziger Bergsteiger des europäischen Festlands dieser Herausforderung stellte.

Der einzige Versuch vor 1993, die Viertausender der Alpen nonstop zu überschreiten, wurde von den britischen Bergsteigern Paul Mackrill und John Rowlands'unternommen. 1988 machten sie sich auf, um die Viertausender in der abenteuerlichsten Manier, die man sich überhaupt vorstellen kann, zu besteigen: durchwegs zu Fuss und ohne Unterstützungsmannschaft in grosser Höhe. Sie starteten Anfang Mai und wurden wegen Schneefall und dem im allgemeinen unstabilen Wetter, das für den alpinen Frühling typisch ist, mehrere Male zum Rückzug ge- 1 Siehe die ALPEN, QH 1/91, Seite 31: Paul Mackrill, ( Eine alpine Odyssee ) Grenoble Bern Lausanne Rhône

Barre des Ecrins / Ziel * 4102 mA/ ftA Brïançonl Dauphinè-Alpenw

Turin Der Weg bei der IMon-stop-Überschreitung des ( Daches von Europa ) vom 23. Juni bis 13. August 1993 ( 75 Gipfel in 52 Tagen ) zwungen. Als die Verhältnisse im Juli und August schliesslich besser wurden, fehlte ihnen die nötige Unterstützung, um in der Höhe bleiben und ihre Begehung fortsetzen zu können. Paul Mackrill schlug sich allerdings weiter durch und beendete schliesslich am 20. September mit der Besteigung des Grand Combin seine insgesamt 130 Tage dauernde Begehung aller 50 Schweizer Viertausender. Er vollbrachte damit eine bewundernswerte Leistung, nur schon wegen der Entschlossenheit, die sie verlangte. Es wurde dabei aber auch offensichtlich, dass eine andere Taktik gefragt war, wollte man alle Viertausender der Alpen in einem einzigen Sommer überschreiten.

Die Wahl des richtigen Partners: ein entscheidender Faktor Ein solches Unternehmen erfordert ganz offensichtlich eine enge und effiziente Zusammenarbeit zwischen zwei gleichermas- 0 15 30 45 60 km sen motivierten Alpinisten. Bereits Ende der achtziger Jahre geisterte Simon Jenkins und mir das Projekt der Viertausender-Über-schreitung im Kopf herum; zuerst steckten wir unsere Energie jedoch in ein kürzeres, aber technisch schwierigeres Unternehmen: die Traversierung aller Gipfel rund um die Mer de Glace, von den Drus bis zu den Grands Charmoz, und zwar in einem Zug und ohne Unterstützung.

Zweimal, erstmals 1988, dann wieder 1989, sind wir in Montenvers aufgebrochen und haben die Drus überschritten. Beide Male hatten wir zuvor Nahrungsdepots in vier Übergängen der Tour angelegt. Bei unserem ersten Versuch schafften wir es innerhalb von fünf Tagen bis zur Aiguille de l' Eboulement; dort mussten wir schliesslich aufgeben, weil wir beide an einer sich verschlimmernden Atemwegs-Infektion litten. Bei diesen Versuchen mussten wir kombinierte Kletterei bewältigen, die anstrengender war, als wir es uns vorgestellt hatten: So trafen wir auf unvorstellbar brüchigen Fels und auf Schneeverhältnisse, die vom perfektesten Firn bis zum fürchterlichsten Matsch alles boten. Überdies erwiesen sich unsere mangelnden Kenntnisse der abgelegenen Gebiete rund um das Talèfre- und das Les-chaux-Becken als ein grosses Handicap.

Die Alpen, ewig neue Herausforderung für jeden Bergsteiger.

Nach diesen bitteren Misserfolgen freute es uns, dass schliesslich ein anderer Bergsteiger den Sieg davontrug: Tatsächlich gelang François Damilano 1992 die Überschreitung der meisten Gipfel rund um die Mer de Glace; er begann seine Tour aber unerklärlicherweise nicht mit der Traversierung der Drus und beendete sie zudem nicht über die Aiguilles de Chamonix, sondern über die Miage-Grate am Montblanc.

Wie auch immer: Die Partnerschaft, die Simon und mich verbindet, ging aus diesen Erfahrungen ungemein gestärkt hervor, und wir waren uns nun auch bewusster, was alpines Bergsteigen bedeutet.

Blick auf den östlichen Teil des Alpenbogens In der Zwischenzeit konnte jeder von uns während seiner Arbeit als Bergführer eine beachtliche Zahl von Viertausendern besteigen. So entsprachen unsere Routenkennt-nisse allmählich dem für eine schnelle Überschreitung nötigen Stand. Das heisst aber nicht, dass damit die Neuheit des Unternehmens verloren ging.

Taktische Entscheide Die Verwirklichung des Viertausender-Pro-jektes brachte es mit sich, dass jeder von uns auf ein Drittel seines jährlichen Verdienstes als Bergführer verzichten und zusätzlich etwa 22000 Schweizerfranken für Ausrüstung und Unterstützung ausgeben musste. Wegen der schwierigen wirtschaftlichen Situation kam kein Sponsoring zustande, auch wenn wir über unsere Expedition das Ziel stellten, für ( Blythswood Relief Aid ) ( eine wohltätige schottische Organisation, die sich in Osteuropa einsetzt ) Gelder zu sammeln.

Unser erster taktischer Entscheid bestand darin, eine Liste der Gipfel, die wir besteigen wollten, zu erstellen. Weder in der Viertau-sender-Liste von Karl Blodig noch in der von Richard Goedeke war ein objektives Kriterium angewandt worden, um die einzelnen Gipfel zu definieren.2 Simon und ich suchten nach einer einfachen Regel, bei deren Anwendung jeder lohnende Gipfel eingeschlossen und die zahllosen unbedeutenden Buckel eliminiert würden. Schliesslich beschlossen wir, jeden Gipfel zu besteigen, der mindestens 35 Meter Höhendifferenz zu seinem nächstgelegenen höchsten Nachbarn aufwies. Die Zahl 35 mag willkürlich erscheinen, aber sie zwang uns dazu, alle historisch wichtigen Gipfel - wie etwa die Aiguille du Jardin und die technischen Spitzen des Montblanc-Massivs, z.B. die Aiguilles du Diable am Mont Blanc du Tacul, zu erklettern. Wir kamen so auf 75 Viertausender. Da jedoch die Höhendifferenz zwischen einigen Gipfeln zuvor noch nicht genau festgelegt worden war, planten wir, sie unterwegs zu messen.

In einem zweiten Schritt organisierten wir Unterstützungsteams, die in grossen Höhen operieren würden und so unser Weiterkommen in den wichtigsten Sektoren des Berner Oberlands, der Umgebung von Zermatt und des Montblanc-Massivs garantieren sollten. Die Unterstützung in den Tälern und der Funkkontakt sollte von unseren Ehefrauen übernommen werden.

Wir entschieden uns, die Traversierung am 22. Juni mit dem Piz Bernina zu beginnen; im Berner Oberland wollten wir Ski benützen, um so rechtzeitig in Zermatt einzutreffen. Wir hofften nämlich, die Gipfel rund um Zermatt im Zuge des charakteristischen Juli-Hochs überschreiten zu können. Wir errichteten einen Plan von der Bernina bis zur Barre des Ecrins, der sich über 48 Tage erstreckte und keine durch schlechtes Wetter 2 Siehe Anmerkung 3, Seite 15 verursachte Verspätungen vorsah. Eine Dauer der ganzen Überschreitung von 55 Tagen oder weniger schien also realistisch. Bei der Planung studierten wir die Verbindungsstrecken zwischen den Hauptmassiven sorgfältig und begriffen dabei bald, dass uns der Gebrauch von Fahrrädern zwei Wochen harter Schinderei zu Fuss ersparen würde.

Ob zu Fuss, auf den Ski oder per Fahrrad: die Überschreitung würde also nur auf unserer eigenen Muskelkraft basieren.

Erste Erfolge Nach sechs Monaten minuziöser Planung kamen wir am 21. Juni im schönen Morte-ratsch-Tal an. Während der ganzen nächsten sieben Wochen erschwerten unzuverlässige Wetterprognosen unser Weiterkommen; der Start bildete keine Ausnahme: Wir bestiegen den Piz Bernina in einem wahren Schneesturm auf der Normalroute über die Bellavi-sta-Terrassen und den Südgrat; am 23. Juni erreichten wir schliesslich um 20.30 Uhr den Gipfel.

Es folgte ein zweitägiges Fahrrad-Inter-mezzo, während dessen wir einerseits - im Engadin und im Vorderrheintal - einige der bezauberndsten Landschaften der Schweiz betrachten konnten, anderseits die unmenschlichen Anstrengungen erlebten, die die Überquerung hoher Pässe mit sich bringt. Die eintägige Radetappe über Oberalp, Furka und Grimsel verlangte uns eine körperliche Leistung ab, die nicht weniger gross war als alles, was wir nachher in den Bergen erlebten! Unsere Fahrräder waren mit Übersetzungen, mit denen man bis zu 25% Steigung überwinden kann, ausgerüstete Trekking-Bikes.

In besserer Form und etwas akklimatisiert gelangten wir ins Berner Oberland, das einerseits grösste und anderseits uns unbekannteste Viertausender-Massiv. Beim Zustieg über den Unteraar-Gletscher begegneten wir einer Ambiance, die uns an den Himalaya erinnerte: weite, wilde und unberührte Wände und Gletscher umgaben uns in allen Richtungen, und hinter uns ragte das Finsteraarhorn in seiner ganzen unerschütterlichen Grossartigkeit empor. In dieser strengen Atmosphäre enthüllte sich das Aarbiwak als die vielleicht behaglichste und sicherlich als die am besten unterhaltene Unterkunft des ganzen Sommers.

Das Finsteraarhorn selbst bot uns eine harte Besteigung. Es ist wirklich der Herr- scher des Massivs, und wir mussten auf dem langen Anstieg vom Agassizjoch gegen stürmische Winde ankämpfen. Am nächsten Tag massen wir uns mit der berühmten Überschreitung von Schreckhorn und Lauteraarhorn, besser bekannt unter dem Namen Lauteraargrat. Auf dem Schreckfirn trafen wir ausgezeichnete Verhältnisse an, und der Verbindungsgrat, der heikelste Abschnitt der Tour, war ausreichend ausgeapert, so dass wir ihn ohne Steigeisen begehen konnten. Der Lauteraargrat enthält zwei bedeutende Spitzen, die Punkte 4011 und 4015, die allerdings in allen Viertausender-Listen unterschlagen werden. Ihre Aufnahme in die Vier-tausender-Odyssee garantiert eine der schönsten in den Alpen.

Auf diesen begeisternden Tag folgte eine wahre Plackerei: Wir flüchteten an einem warmen, nebligen Tag über das Fiescherhorn aus dem Becken des Oberen Ischmeers, ständig bedroht von objektiven Gefahren -zuerst in Form von dichtgedrängten Sérac-Mauern, dann vom sich schnell erwärmenden Schnee. Bei unserer Abfahrt vom Fiescherhorn schoben unsere Ski bei jedem Schwung eine Ladung Nassschnee weg, der sich zu einer beunruhigend grossen Lawine zusammenballte. Wir kamen der Erschöpfung nahe in der Mönchsjochhütte an, wurden jedoch bald aufgemuntert durch die Ankunft unseres Unterstützungsteams, das uns einen Berg Esswaren mitbrachte. Ich verschlang sechs Spiegeleier in sechs Minuten, wobei jedes Ei von einer dicken Scheibe Brot begleitet war, und liess dann eine grosse Büchse Pfirsirche folgen, drei Stunden später war ich bereit für die nächste Mahlzeit!

Das Aletschhorn eignete sich bestens als letztes Hindernis im Berner Oberland: Es ist ein grosser, freistehender Berg, der eine fantastische Aussicht auf die Herausforderungen, die in den Walliser Alpen auf uns warteten, bietet. Wir pflügten uns durch verkrusteten Schnee über die Hasler-Rippe hoch und fuhren dann auf eisglänzendem Firn, der einem keine Illusionen über die Folgen eines eventuellen Sturzes liess, über den Mittel-aletsch-Gletscher ab. Unsere Skiausrüstung bestand aus 130 cm langen Kästle Firn Extrem mit Silvretta 404-Bindungen. Diese Ski konnten wir leicht über eine Route wie die Hasler-Rippe hochtragen, und was wir mit ihnen an Geschwindigkeit und Stil ein-büssten, wurde mehr als kompensiert durch ihre Wendigkeit; man darf dabei nicht vergessen, dass wir normale, steigeisenfeste Bergschuhe trugen.

Das Wetter schlägt um Im Berner Oberland war uns das Wetter im allgemeinen günstig gesinnt, und wir hatten nur einen Tag Verspätung auf unseren überaus ehrgeizigen . Nun freuten wir uns auf die Ankunft des Azorenhochs, das in den letzten zehn Jahren zu einem verlässlichen Wert des Sommerwetters in den Alpen geworden ist. Nach drei wunderbaren Sonnentagen in Saas Fee waren wir überzeugt, dass die lange Schönwetterperiode begonnen hatte.

Wir planten eine vierzehntägige Überschreitung entlang der von Georges und Loretan begangenen Route der Berge rund um Zermatt, wobei wir uns auf die Unterstützungsteams, die uns Zelte und Nahrung nachschoben, verlassen konnten. Nach der Überschreitung des Nadelgrates bewegte uns unser Vertrauen in das schöne Wetter dazu, ein Biwak ohne Schlafsäcke im Lenzjoch, auf 4121 m Höhe, zu wagen. Das kurze, aber schwierige Verbindungsstück vom Gipfel des Doms über den Domgrat und das Täschhorn hätte uns zu einer Unterstützungsmannschaft im Mischabeljoch-Biwak gebracht, aber in dieser Nacht wütete ein Schneesturm. Am nächsten Morgen kämpften wir uns ohne Sicht und bei Schneegestöber auf den Gipfel des Doms; an ein Weiterkommen war nicht zu denken. Wir mussten vielmehr drei volle Tage warten, bis wir den einzigen Kilometer, der den Dom von seinem siamesischen Zwilling, dem Täschhorn, trennt, überwinden konnten. Dazu war ein riesiger Umweg nötig: Wir stiegen in das dreitausend Meter tiefer gelegene Randa ab, um dann über die Täschalp und den Weint-garten-Gletscher ins Mischabeljoch aufzusteigen. Eine dicke Neuschneeschicht war bis auf 2400 m hinunter gefallen und bewirkte, dass uns der bei gewöhnlichen Verhältnissen leichte Südostgrat des Täschhorns vorkam wie ein verwächtetes Monster, das eher für die Anden als für die Alpen typisch ist!

Gemäss unserem Plan hätten wir die Alla-lin-, Rimpfisch- und Strahlhorn-Gruppe in ei- nem gemütlichen Tag überschreiten sollen; das Wetter blieb aber gnadenlos, und wir benötigten schliesslich drei Tage für diesen Abschnitt. Der Tiefpunkt unserer Moral war beim Aufstieg zum Strahlhorn erreicht, als wir um 5 Uhr nachmittags - bei Graupelfall und Schneegestöber- unsere Spur mühsam durch den schweren Schnee pflügten. Nur eine grossartige Unterstützungsaktion bewegte uns schliesslich dazu, weiterzufahren und die Monte-Rosa-Gruppe in Angriff zu nehmen. Als wir an einem schönen Sonntagmorgen schliesslich den Lyskamm überschritten, dachten wir, dass wir dem schlechten Wetter endlich entgangen wären. Doch nur vier Stunden später wurden wir auf dem Ostgipfel der Breithornzwillinge beinahe vom Blitz erschlagen und mussten in der Val-d'Ayas-Hütte Zuflucht suchen.

Während des Skiauf-stiegs in der Dämmerung über das Ewigschneefeld in Richtung des Mönchs Die Zermatter Riesen Am 19. Juli erreichten wir mit vollen sechs Tagen Verspätung Schwarzsee; über uns ragte das schneegepflasterte Matterhorn in den Himmel.

, teilten uns unsere Unterstützungsleute begeistert mit,

Bis hierhin hatten unsere Knie beim Abenteuer ohne zu protestieren mitgemacht; aber nach den 2500 Metern Abstieg nach Zinal verspürten wir erstmals Schmerzen. Dafür war unsere Moral besser, da wir die Berge rund um Zermatt hinter uns hatten, und zum ersten Mal wagten wir es, an einen erfolgreichen Abschluss unseres Projektes zu denken. Der Montblanc würde uns sicher freundlich empfangen.

In vertrautem Gelände Es gelang uns, innerhalb zweier Tage 130 Kilometer auf dem Fahrrad sowie den Grand Combin hinter uns zu bringen; so verliessen wir die Schweiz schliesslich mit fünf Tagen Verspätung auf unseren Plan. Unsere Ankunft im Montblanc-Gebiet, wo wir normalerweise unseren Beruf als Bergführer ausüben, fiel mit dem Beginn der für die letzten Sommer typischen Hitzeperiode zusammen, deshalb nahmen wir zum ersten Mal auch die Helme mit. Nach einer nächtlichen Überschreitung des Col d' Argentière und des Col des Cristaux standen wir unseren alten Gegnern Droites und Aiguille Verte gegenüber. Wir kannten die Schwierigkeiten des Verbindungsgrates zwischen den beiden Gipfeln nur allzugut und stiegen deshalb im Mondschein über die Normalroute der Droites auf und ab, überquerten den Gletscher und erkletterten dann das Couloir, das in den Col Armand Charlet führt, von wo die Gipfel der Aiguille Verte leicht erreichbar sind.

Am nächsten Tag plagten wir uns aus dem Leschaux-Becken heraus und traversierten unter den Périades durch in das Biwak im Col des Grandes Jorasses. Als wir am Klettern waren, löste sich plötzlich ganz unvermittelt der Gipfelsérac auf der Südseite des Berges Die Querung an feinen Fingerrissen unterhalb der Pointe Marguerite auf dem Westgrat der Grandes Jorasses, 2. August und begrub acht Alpinisten unter sich. Der Anblick der Rettungsmanöver sowie das drohende Wetter machten aus dieser Begehung des Westgrates der Jorasses die nervenauf-reibendste Tour, die wir bis zu diesem Moment auf unserer Überschreitung erlebt hatten. Haben W. Young, Jones und Knubel 1911 wirklich an diesen feinen Fingerrissen unter der Pointe Marguerite durchgequert? Gegen Mitternacht kehrten wir ins Biwak zurück und feierten den Erfolg mit einem köstlichen Spaghetti-Mahl.

Die Seillängen, die wir am nächsten Morgen überwinden mussten, um die Calotte de Rochefort zu erreichen, beeindruckten uns ebensosehr. Als wir die zwei Gipfel der Ro-chefort-Gruppe bewältigt und bei der Dent du Géant angekommen waren, donnerte es über dem Montblanc und Hagelschauer prasselten auf uns nieder. Von Panik ergriffen, hangelten wir uns wie Verrückte an den Fixseilen hoch, wobei wir ganze Horden von den Rückzug antretenden Italienern kreuz- ten, berührten die auf dem Gipfel errichtete Madonna und flohen hinunter in den Col du Géant, wo ein Unterstützungscamp auf uns wartete.

Dreiunddreissig Stunden unterwegs Alles war für unser Montblanc-Finale vorbereitet, doch das unstabile Wetter nagelte uns erst einmal zwei Tage in unseren Zelten fest. Schliesslich entlud sich ein wütendes Gewitter über uns, und unser Zelt wogte im Wind wild hin und her. Die meteorologische Station von Chamonix kündete jedoch vor der Ankunft der nächsten Sturmfront ein 36 Stunden dauerndes Zwischenhoch an. Wir dachten uns einen komplizierten Routenverlauf aus und konnten bald abschätzen, dass es gerade möglich sein sollte, die zwölf Montblanc-Gipfel innerhalb dieser kurzen Zeit zu überschreiten. Die Voraussetzung für einen Erfolg war jedoch, dass wir die ganze folgende Nacht durchkletterten. Als der Wind am 6. August um 10 Uhr morgens nachliess, machten wir uns in Richtung der Aiguilles du Diable auf. Diese Tour bot uns Die zwei Kletterer erreichen am I. August bei Tagesanbruch den Gipfel des Aiguille du Jardin.

unvergleichliche, luftige Akrobatik, die in starkem Gegensatz zu der düsteren Ambiance des Jorasses-Westgrates stand.

Um 7 Uhr abends ruhten wir uns in einem Zelt auf dem Col Maudit aus und genossen, zwischen einem Löffel Suppe und einem Bissen Käse, den schönsten Sonnenuntergang unserer ganzen Unternehmung. Den Mont Maudit gingen wir - unserer Verdauung zuliebe - langsam an, doch um Mitternacht querten wir eilends den Corridor und das Grand Plateau in Richtung der Aiguille de Bionnassay, deren Gipfelgrat sich als wahre Rasierklinge entpuppte. Wie hatte ich nur auf die Idee kommen können, das Seil auf dem Dôme du Goûter zurückzulassen?

Nach einem starken, lebensspendenden Kaffee in der Vallot-Hütte schlossen wir uns den 200 Personen an, die sich Richtung Montblanc-Gipfel bewegten. Der Gegensatz hätte nicht grösser sein können: zuerst die herzliche Geselligkeit auf dem stark bevölkerten Gipfel, dann der Abstieg über den Brouillard-Grat. Mittags sassen wir auf ei- Auf dem Gipfelgrat der Aiguille Blanche de Peuterey, 8. August, 8.30 tung bezwungen. morgens; damit ist der letzte schwierige Berg der ganzen Überschreitung bezwungen.

nem adlerhorstähnlichen Felsabsatz hoch über dem Col Emile Rey und dachten an den Ratschlag im Führer: ( Man muss unbedingt schon vor Tagesanbruch ein gutes Stück über den Col hochgestiegen sein !) Unter uns konnten wir die Steine und Schneerutsche beobachten, die wie in einen Trichter in das Couloir, das wir eigentlich benutzen sollten, hinunterstürzten. Da für den Abend Gewitter angesagt waren, durften wir aber nicht zuwarten, bis der nächtliche Frost die Risiken vermindern würde. Deshalb begannen wir mit waghalsigen Abseilmanövern durch die granitenen, steilen Wände der Miage-Seite des Grates, um den Col auf diese Art zu erreichen. Dankbar konnten wir hier die meisten der alten Schlingen, die wir in den vergangenen Wochen in unsere Rucksäcke gestopft hatten, verwenden...

Torkelnd wie zwei Zombies überschritten wir den Mont Brouillard und die Punta Baretti, um schliesslich nach 33 Stunden ununterbrochener Kletterei Zuflucht im Eccles-Biwak zu suchen. Hier trafen wir auf einen französischen Führer und seinen Gast, die von unserer Routenbeschreibung derart beeindruckt waren, dass sie uns ihren überflüssigen Proviant sofort abtraten und in Richtung Monzino-Hütte aufbrachen, um uns allen Platz für einen herrlichen Schlaf zu überlassen!

Nur noch die Aiguille Blanche de Peuterey trennte uns jetzt von dem fast sicheren Erfolg unserer Unternehmung, vorausgesetzt, dass wir später, wieder auf unseren Fahrrädern, nicht von irgendeinem italienischen Lastwagen angefahren würden. Das Gewitter blieb gerade lange genug aus, damit wir am nächsten Morgen das Plateau de Freney queren und den Gipfel besteigen konnten. Wieder zurück machten wir uns fröhlich auf den Abstieg entlang des Brouillard-Glet-schers, um so in knapp zweieinhalb Stunden das Val Veni und die offenen Arme unserer Ehefrauen zu erreichen.

Durchhalten bis ans Ende Die letzten fünf Tage waren psychisch weniger fordernd, aber immer noch anstrengend genug. Wir brachten die Aosta-Auto-bahn sicher hinter uns, entgingen knapp einem Gewitter auf dem Gipfel des Gran Paradiso und erlebten dann eine wunderschöne Tagesanbruch im Hohbergjoch mit Blick auf den Oberen Riedgletscher Wanderung über die Colle del Nivolet und del Carro, um das Vanoise-Massiv zu erreichen. Dieser Tag, an dem wir mit weitausholenden Schritten eine grossartige und wenig besuchte Landschaft durchwanderten, zählte zu den Höhepunkten unserer Überschreitung.

Die 1800 Meter Aufstieg auf den Spuren der Tour de France von der Vallée de l' Arc auf den Col du Galibier waren ebenfalls eindrücklich: Von der Passhöhe genossen wir einen gewaltigen Ausblick auf die Meije und die Barre des Ecrins. Es war ein Augenblick des Glücks, wie wir ihn auf jedem unserer 75 Gipfel genau gleich erlebt hatten.

Die Besteigung der Barre des Ecrins war weniger grandios: Wir waren zu ausgehöhlt und müde, um diesen Endspurt geniessen zu können. Von einem Biwak in den Blöcken des Col d' Arsine mussten wir erst einmal 1300 Meter über den Pic de Neige Cordier aufsteigen, um nur an den Ausgangspunkt der Barre des Ecrins zu gelangen. Die Normalroute war belagert von grossen geführten Gruppen, der Spur entlang häuften sich Exkremente, und Wolken verdeckten die Aussicht. Glücklicherweise begnügten sich die Massen mit dem Vorgipfel, dem Dôme de Neige, und ein plötzlich durch die Wolken durchbrechender Sonnenstrahl erinnerte uns an die verlassenen, unberührten alpinen Herrlichkeiten, die wir in den sieben Wochen zuvor genossen hatten.

Um 10 Uhr morgens am 13. August berührten wir das Gipfelkreuz der Barre des Ecrins: damit waren wir an unserem Ziel. Wir hatten seit unserem Start auf dem Piz Bernina 51 Tage und 131/2 Stunden benötigt, in denen wir insgesamt 520 Kilometer und 60000 Meter Höhenunterschied im Aufstieg zu Fuss oder kletternd überwunden sowie weitere 570 Kilometer und 10500 Meter im Aufstieg mit dem Fahrrad hinter uns gebracht hatten. 3 Wenn man bedenkt, dass wir den schlechtesten Sommer der letzten sechs Jahre erwischt haben, freute es uns um so mehr, dass wir dies in einer Zeit schafften, die nur drei Tage Verspätung auf unseren sehr ehrgeizigen ( Fahrplan ) aufwies. Zweifellos kann unsere Zeit in einem schönen Sommer verbessert werden, aber im Rückblick bin ich froh, dass wir kämpfen mussten: Mit jedem Sturm gewannen die Berge an Grösse. Unser Abenteuer hat uns demütig werden lassen, und es hat unsere Achtung vor den Pionieren von früher bekräftigt.

In uns beiden hat diese Reise das Feuer des klassischen Alpinismus - so wie er vielleicht in den Zeiten von Young und Knubel oder von Ryan und den Lochmatters ausgeübt wurde - wieder aufflackern lassen. Indem wir ihren Spuren bei jedem Wetter und bei allen erdenklichen Verhältnissen folgten, konnten wir meist den Massen ausweichen und die begeisternden, spannenden Augenblicke der Pionierzeiten wieder erleben. Unsere Überschreitung hat damit mindestens eines bewiesen: Das wirkliche Abenteuer in den Alpen gibt es immer noch - man muss es nur anpacken.

Aus dem Englischen übersetzt von Christine Kopp, Flüelen 3 Die 75 Viertausender, die zwischen dem 23. Juni und dem 13. August 1993 bestiegen wurden, können in folgende Kategorien aufgeteilt werden:

Die 50 bedeutendsten Gipfel: Montblanc 4807 m, Dufourspitze 4634, Nordend 4609, Signalkuppe 4556, Dom 4545, Lyskamm 4527, Weisshorn 4505, Täschhorn 4490, Matterhorn 4478, Mont Maudit 4465, Dent Blanche 4356, Nadelhorn 4327, Grand Combin 4314, Lenzspitze 4294, Finsteraarhorn 4273, Mt Blanc du Tacul 4248, Castor 4228, Zinalrothorn 4221, Höhberghorn 4219, Piramide Vincent 4215, Grandes Jorasses 4208, Alphubel 4206, Rimpfischhorn 4199, Aletschhorn 4195, Strahlhorn 4190, Dent d' Hérens 4171, Breithorn 4164, Jungfrau 4158, Bishorn 4153, Aiguille Verte 4122, Aig. Blanche de Peuterey 4112, Barre des Ecrins 4101, Mönch 4099, Pollux 4092, Schreckhorn 4078, Obergabelhorn 4063, Gran Paradiso 4061, Aig. de Bionnassay 4052. Gr. Fiescherhorn 4049, Piz Bernina 4049, Gr. Grünhorn 4044, Lauteraarhorn 4042, Dürrenhorn 4035, Allalinhorn 4027, Weissmies 4023, Dôme de Rochefort 4015, Dent du Géant 4013, Lagginhorn 4010, Aig. de Rochefort 4001, Les Droites 4000.

Die 25 weniger wichtigen Gipfel ( 35 Meter oder mehr Höhenunterschied zum nächstgelegenen höheren Nachbargipfel ): Zumsteinspitze 4563, Lyskamm-West-Gipfel 4479, Picco Luigi Amedeo 4469 ( muss kontrolliert werden ), Parrotspitze 4436, Ludwigshöhe 4341, Grosser Gendarm am Weisshorn 4331, Corno Nero 4321 ( mit dem Höhenmesser gemessen genau 35 Meter Unterschied zum nächsten höheren Gipfel ), Dôme du Goûter 4304, II Naso am Lyskamm 4273, Pointe Whymper an den Gr. Jorasses 4184, Gr. Combin de Valsorey 4184, Breithorn-Mittel-Gip-fel 4159, Gr. Combin de la Tsessette 4141, Breithorn-Ost-Gipfe14139, L' Isolée am Mt Blanc du Tacul 4114, Pointe Carmen am Mt Blanc du Tacul 4109, Gendarm am Breithorn 4106 ( 40 Meter Höhenunterschied mit dem Höhenmesser ), Grande Rocheuse 4102, Pointe Chaubert am Mt Blanc du Tacul 4074, Mont Brouillard 4069, Pointe Marguerite an den Gr. Jorasses 4065 ( mindestens 45 Meter Höhenunterschied ), Aiguille du Jardin 4035, Hinter Fiescherhorn 4025, Dôme de Neige des Ecrins 4015, Punta Bareni 4013.

Weitere Gipfel - wie Balmenhorn, Punta Giordani, Mont Blanc de Courmayeur und II Roc -, die auf Viertau-senderlisten oft erscheinen, aber nur 20 oder weniger Meter Höhenunterschied zum Nachbargipfel aufweisen, wurden nicht berücksichtigt. Schliesst man sie ein, dann muss man auch Dutzende weitere unbedeutende Buckel als Viertausender bezeichnen ( vgl. in diesem Zusammenhang die ALPEN, MB 1/94, Seite 14ff., Gino Buscaini: ( Die erste offizielle Liste der Viertausender der Alpen>; Anm. der Red. ).

Wir haben festgestellt, dass die Liste der Höhenunterschiede, die im Viertausender-Führer von Richard Goedeke enthalten ist, einige Fehler enthält. Die genaue Messung einiger der weniger bedeutenden Gipfel steht nach wie vor aus.

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