Die Schneehaube des Monte Scerscen | Club Alpino Svizzero CAS
Sostieni il CAS Dona ora

Die Schneehaube des Monte Scerscen

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Dr. Paul Güssfeldt ( Section Bern ).

Die Schneehaube des Monte Scerscen ( 3877 Meter. ) Ton Die Schneehaube des Monte Scerscen, von den Führern auch Weisskopf genannt, war bis zum Jahre 1879 nicht erstiegen worden. Im September des genannten Jahres gelang es Hans Grass und mir, die Besteigung auszuführen. Da dieselbe von der italienischen Seite geschah und mit der bereits beschriebenen ersten Ersteigung des Monte Scerscen ( 3967 m ) nichts gemeinsam hat, so mag sie hier eine Stelle finden. Zwar handelt es sich nur um die Erreichung einer secundären Spitze, doch scheint mir der Weg zu ihr das Interesse einer Besteigung ersten Ranges zu bieten.

Der italienische Abfall des Berninastockes ist in seinem höchsten Theil aus Felsgehängen und steinernen Wänden gebildet, welche durch steile Schnee- und Eiscouloirs von einander getrennt sind. Etwa 500m unterhalb des Kammes legt sich ein breites und wenig geneigtes Terrassenband um die gewaltige Mauer, so dass eine sehr entwickelte Eisbedeckung hat stattfinden können. Hier, in einer Höhe von 3000 m, treffen wir die Firnmeere von Scerscen, Fellaria und Palü, aus denen bedeutendere Gletscher abfliessen, als wir sie sonst auf der italienischen Seite zu sehen gewohnt sind. Wie eine brandende See belecken ihre starren Firnmassen den Fels, der sie eindämmt, und ziehen sich in Form von Eisfeldern und Schneerunsen hier und da hoch an ihm auf. Am reinsten entwickelt zeigen sich diese Verhältnisse in dem eigentlichen Centrum der Kette, in dem grossartigen Felsencircus, der sich von dem Piz Roseg über den Monte Scerscen, die Crast'agüzza und den Piz Argient spannt und weit gegen Süden geöffnet ist. Wer vom Sellapass aus den Scerscengletscher betritt und in ostsüdöstlicher Richtung fortschreitet, durchmisst die Sehne dieses Bogens in etwa 1114stündigem Marsch; den Mittelpunkt der kühnen Felslandschaft nimmt der Monte Scerscen ein. Eine Gliederung der verworrenen Massen, die das Auge nicht sogleich beherrscht, liefern die weissen Joch-schneiden der Roseg-Fuorcla und des Crast'agüzza-Sattels; zwischen beiden liegt ein noch unbenannter Einschnitt, welcher die Scerscen-Fuorcla heissen sollte. Mehr oder minder steile Gräte, wie Strebepfeiler aufgebaut, ziehen sich zum Kamm auf und bilden Felsenkessel, die in jenen Einsattelungen ihren Abschluss finden. Das Terrain macht den Eindruck grosser Unzugänglichkeit, ist in der That auch nur an sehr vereinzelten Stellen, in seinem centralen Theile wohl nie betreten worden. Die nicht häufigen Passagen des Crast'agüzza- Sattels und einige wenige Eosegbesteigungen, die vom Sellapass ausgingen oder in seiner Nähe endeten, haben eine sehr beschränkte Zahl von Reisenden hierher geführt, und ihnen schliessen sich diejenigen an, die explorirt haben, ohne das eigentliche Ziel ihrer Wünsche bekannt zu geben.

Dem letzteren Umstand ist es zuzuschreiben, dass ich erst bei der Correctur dieses Aufsatzes ( Januar 1880 ) durch die Gefälligkeit des Herrn Redactor Kenntniss davon erhielt, dass Herr L. Held ( s. Jahrbuch XIII, pag. 312 ) bei seinen kühnen Versuchen der Ersteigung des Monte Scerscen gerade den centralen Theil des hier geschilderten Gebiets betreten hat. Einer von dem genannten Herrn aufgesetzten Notiz entnehme ich, dass derselbe am 17. September 1875 mit dem Führer Arpagaus um 4 Uhr Nachmittags den Scerscengrat zwischen der höchsten Spitze und der Schneehaube ( die genauere Terrainbeschreibung folgt unten ) verlassen habe und direct zum Scerscengletscher hinuntergestiegen sei. Genaueres habe ich nicht in Erfahrung bringen können; auch würde ich es principiell ablehnen, für die Unkenntniss von Unternehmungen, über welche nichts veröffentlicht worden ist, verantwortlich gemacht zu werden.

Ich selbst wusste von dem in Rede stehenden Theil des Gebirges nicht viel mehr, als was der Abstieg von der Roseg-Fuorcla ( s. Band VIII des Jahrbuches ) mich im Jahre 1872 gelehrt hatte. Diese lückenhafte Kenntniss wurde im vergangenen Jahre durch einen mit dem Prinzen Teano unternommenen Rundgang um den Berninastock vervollständigt, und der Versuch, das Gebirge von seinem südlichen Mittelpunkt aus in Angriff zu nehmen, erschien gerechtfertigt. Zudem handelte es sich ja auch, wie bereits angedeutet, um die Erreichung eines noch unerstiegenen Gipfels.

Die Schneehaube des Monte Scerscen ist von mir bereits im XIII. Bande des Jahrbuchs erwähnt worden. Es heisst daselbst: « Die Linie der höchsten Erhebung ( des Monte Scerscen ) ist ein von Südwesten nach Nordosten streichender Grat mit drei Hauptspitzen; von diesen überragt die mittlere die beiden andern. » « Die am Südwestende gelegene Spitze ruht auf nackten, zur Roseg-Fuorcla abstürzenden Felsen, denen eine aus meilenweiter Entfernung erkennbare, scharf abgehobene Schneepyramide aufgesetzt ist; ich nenne sie deshalb die Schneehaube.*- Es war zwischen mir und Hans Grass verabredet worden, dass wenn die Schneehaube bis zu meiner Ankunft in Pontresina ( 1879 ) noch immer nicht erstiegen sein sollte, wir die Besteigung unsererseits versuchen würden. Das thaten wir denn auch, und wenn wir uns ohne weitere Begleitung auf den Weg machten, so geschah dies im vollen Bewusstsein unserer Handlungsweise. Ich bin weit davon entfernt, den grossen Expeditionen, die nur zu zweit unternommen werden, im Allgemeinen das Wort zu reden, aber was der Einzelne persönlich thut, geht nur ihn und den begleitenden Führer an. Mein Rath dagegen, wenn ich solchen zu ertheilen hätte, würde lauten: Eine grosse Expedition nicht mit einem Führer, auch nicht mit einem Führer und einem Träger, sondern nur mit zwei Führern ersten Ranges zu unternehmen.

Wir hatten die Nacht vom 14. zum 15. September in der Mortelhütte ( 2390 m ) zugebracht, waren auf « dem bekannten Wege — er erfordert 2V2-3 Stunden — .zum Sellapass ( 3304 m ) aufgestiegen und erreichten von dort in raschem und bequemem Lauf den flachen Boden des italienischen Scerscenfirns. Durch allmähliches Schwenken nach links traten wir mehr und mehr in das Innere des grossen Bergkranzes ein, welchen Piz Roseg, Monte Scerscen, Crast'agüzza und Piz Argient bilden. In diesen Kranz findet sich buchtartig der Secundär-«Circus eingelassen, aus dessen Hintergrund die Roseg-Fuorcla aufragt. Ihre gegen Südost gekehrte, italienische Seite bietet, wie die schweizerische, ein sehr steiles Firnfeld dar, das stark vereist ist, aber häufiger von Fels durchbrochen wird, als die Nordwestwand. Eine Reihe anderer Firnfelder, deren oberer Ursprung meist in Schneecouloirs zu suchen ist, kommt von den Felsen des Halbrunds herab, aber keines springt so in 's Auge, wie das mit der Jochschneide endigende der Roseg-ITuorcla. Alle diese Eisströme vereinigen sich in dem " Grunde der Bucht und fliessen gegen die Stelle hin, wo sie von dem grossen Scerscenfirn aufgenommen werden, und wo die eigentliche Besteigung der Schneehaube beginnt. Hier standen wir gegen 7 Uhr Morgens und traten nun ( bei etwa 3150 m Höhe ) in den -von der Roseg-Fuorcla beherrschten Circus ein. Statt auf das Hochjoch loszugehen, wandten wir uns rechts, direct der Basis unseres Berges zu, die hier in Form eines hervorspringenden Grates auftritt. Ein halbstündiges Steigen über ein steiles Firnfeld, in welches Stufen geschlagen werden mussten, brachte uns an den Bergschrund ( 3300 m ). Nur eine einzige? Stelle, die nicht schwierig, aber sehr gefährlich istr eignet sich zur Passage des Schrundes, die Stelle-nämlich, wo ein Schneecouloir — es liegt von allen sichtbaren am meisten rechts — auf das Firnfeld stösst und ihm Schnee und Steine wie durch einen Trichter zuführt. Natürlich suchten wir den Uebergang so schnell wie möglich zu bewerkstelligen. Hans-Grass, der treffende Bemerkungen einer gewählten Redeweise vorzieht, sagte dabei: < Jetzt sind wir in der Mausefalle ». Jenseits des Schrundes mussten wir dem » Schneecouloir, das sich zu einem Firnfeld erweitert,, streckenweise folgen, ermöglichten es aber nach einiger Zeit, die einschliessenden Felsen rechter Hand zu erklettern. Auf diese Weise wurde der Kamm des oben, erwähnten Grates gewonnen, der den Circus der Roseg-Fuorcla im Osten begrenzt. Wir kletterten bis zur Höhe? von 3500 m, stets in guter, stetiger Bewegung bleibend,, und hatten zur Rechten den bis dahin verdeckten Blick auf die vom Crast'agüzza - Sattel beherrschte Firnbucht; unser Grat sendet gegen diese eine ungangbare Felswand ab. In der angegebenen Höhe wandten, wir links, traversirten das bereits verlassene Schneecouloir und erreichten ein zweites, westlich vom ersten, gelegenes. Wiederum führt der Weg abwechselnd über Schnee und Eis, dann nur über Fels. In der dritten Stunde des Kletterns — vom Bergschrund an ge-rechnet— in einer Höhe zwischen 3550 und 3700 mr war eine Uebersicht in dem steil aufgerichteten Steinchaos kaum noch möglich, und während dieser Zeit blieben wir völlig im Dunkeln darüber, ob> Die Schneehaube des Monte Scerscen.i ) die Besteigung durchführbar wäre oder nicht. Dann aber wurde es Licht; wir sahen einen weissen Grat schimmern, auch zeigten sich wieder Schneefelder, und links von dem Punkt, auf den der Weg zunächst los-steuerte, erhob sich eine glänzend weisse, doppelzackige Kuppe über dem braunen Gestein — die Schneehaube des Monte Scerscen.

Jener weissschimmernde Grat war die Kammlinie des dreigipfligen Scerscen; wir erreichten sie um 10 Uhr 40 Minuten an einem Punkte, der zwischen der höchsten Spitze und der Schneehaube liegt, in einer Höhe von nahezu 3845 m. Sanft hingezogen, ohne Sprünge und Scharten, verläuft sie recht im Gegensatz zu den schroffen Wänden, die sich in ihr durchsetzen. Ein plötzlicher Wechsel der Scenerie fand hier statt. Unser Auge, während des vierstündigen Kletterns auf dem jungfräulichen Terrain nur gewöhnt an das glanz-lose, wilde Aussehen des zerrissenen Felstheaters, wurde nun geblendet durch die weiten, weissen Flächen einer Landschaft von Eis und Schnee. Denn das ganze Tschiervagebiet lag uns zu Füssen, eingefasst von Morteratsch, Bernina, Scerscen und Roseg. Dieser unvermittelte Uebergang hätte unter allen Verhältnissen grossen Eindruck hervorgebracht, aber die Seele wird doppelt empfänglich, wenn der Körper durch Anstrengung und Gefahr in hohe Spannung versetzt ist. Auch waren wir ja in einer ersten Besteigung begriffen, und bei solchen hat gerade der Augenblick, wo eine problematische Unternehmung in einen höchst wahrscheinlichen Erfolg übergeht, einen Reiz ohne Vergleich. Von unserm Standpunkte aus führte rechts die Kammlinie zu dem höchsten Gipfel, den wir bereits kannten, und der vor ganz kurzer Zeit zum zweiten Male von Dr. Minnigerode und Herrn Loschge auf dem früher geschilderten Wege erreicht worden war. Das uns noch unbekannte Ziel, die Schneehaube, erhob sich linker Hand, nicht fern; aber der Weg barg eine Gefahr, die man um so mehr fürchtet, je vertrauter man mit dem Hochgebirge ist. Der Grat nämlich, der zur Spitze führt, trägt Schneeüberhang nach der italienischen Seite zu, und zwar unvermeidlichen Ueberhang; denn die nach der andern Seite, gegen das Tschiervagebiet abfallende Schneewand ist zu steil, als dass man sie traversiren möchte. Ob ein Ueberhang durchbricht oder die Erde sich plötzlich aufthut, kommt für das Opfer auf eines heraus. Zwar können die Todten nicht reden, aber die Lebenden können sich erinnern, und es ergriff mich die Erinnerung an das siebenfältige Opfer, welches der Durchbruch auf der Schneide des Lyskamms nur zwei Jahre zuvor gefordert hatte. Hier lange bedenken, hätte dem Handeln Eintrag gethan. Wir besannen uns daher nicht; der Geist war über uns gekommen, und wenn auch Keiner ohne den Andern gegangen wäre, so glaubten wir doch, dass der doppelt gedrehte Faden unseres gemeinsamen Glückes wohl dieses Mal noch halten werde. Der Schnee war pulverig, aber nicht schlecht; Hans schlug Stufen. Der Grat senkte sich zunächst 45 Schritt lang und stieg nach kurzem horizontalem Verlauf zur Schneehaube auf; im Ganzen waren 170 Stufen für ebenso viele Schritte nöthig. Zur Linken hatten wir das Luftmeer, zur Rechten das abschüssige Firngehänge.

Dieser gefährliche Gang dauerte 25 Minuten, und um 11 Uhr 5 Minuten des 15. September wurde die « = Schneehaube » zum ersten Mal betreten.

Ihr höchster Gipfel stellte sich in Form zweier durchscheinender Lappen oder Lamellen von Firnschnee dar, welche mittels einer durchschlagbaren Brücke von zehn Schritt Länge mit einander verbunden waren. Ich hatte dieses Durchscheinen schon einige Tage zuvor von der Sohle des Rosegthales aus constatirt, wo man den Eindruck erhielt, als wäre auf die eigentliche Pyramide eine Eisscholle gelegt. Die Form des höchsten Kammes wird also wechseln; am meisten Aehnlichkeit in ihrer Beschaffenheit hat sie mit der mächtigeren der Dent Blanche ( 4364 m ). Von der Spitze aus sieht man in einer Tiefe von 50-60m die Felsen eben hervorragen, auf welche die Schneehaube mit einer horizontalen Basis aufsetzt; sie greifen, wie auch vielfach an andern Stellen des Scerscen, über einander, ähnlich wie die Falten eines Mantelkragens. Man übersieht den Scerscengrat bis zur mittlern Spitze, welche noch hoch aufragt, obwohl der Höhenunterschied nur 90m beträgt. Denn es ist eine oft zu machende Erfahrung, dass wir von den obern Theilen des Gebirges aus die noch vorhandene Niveaudifferenz der nahe gelegenen höhern Spitzen überschätzen; wahrscheinlich weil wir im Allgemeinen gewöhnt sind, derartige Schätzungen aus sehr viel grössern Entfernungen vorzunehmen. Mir wollte es scheinen, als läge die höchste Spitze noch 300 bis 350 m über uns, und doch lehrte das Horizontalinstru-ment direct, dass wir uns mit der Crast'agüzza fast genau in gleicher Höhe, d.h. 3880 m hoch, befanden; und von der höchsten Spitze des Scerscen wusste ich gleichfalls aus eigener Messung, dass sie nicht höher als 3970™ sei. Aber die Hartnäckigkeit der Sinnestäuschungen ist eben ein Erbtheil der Menschheit.

Gewaltig wirkt der Niederblick zu dem Becken des Roseg- und Tschiervafirns. Leider konnten wir den Theil unseres Berges, der gegen die Roseg-Fuorcla abfällt, nicht sehen; wir hätten den ganzen weissen Hahnenkamm der Schneehaube erst zusammenschlagen müssen, wollten wir so weit südwestlich avanciren, dass überhaupt etwas zu sehen war.

Wie sich eine Besteigung der Schneehaube von der Schneide der Roseg-Fuorcla aus gestalten würde, wage ich nicht auszusprechen. Ich glaube, dass man sie versucht hat; wenigstens ist das Joch von Südosten her betreten worden, ohne dass man die Passage gemacht hätte; denn diese wurde meines Wissens zum zweiten und letzten Male von Herrn E. Burckhardt ausgeführt. Ein fehlgeschlagener Versuch ist freilich kein erschöpfender Beweis; indessen darf für den Südabfall der Berninagruppe wohl behauptet werden, dass diejenigen Wege die bessern sind, welche die Berge in der Front packen, und nicht die, welche von den Einsattelungen aus hinaufführen.

Die Aussicht von der Schneehaube zeichnet sich mehr durch Intensität als durch Extensität aus — miü-tum, non multa: Neben dem Argient der Zupò mit der charakteristisch bogenförmigen Schneide; gerade auf ihn projicirt sich Crast'agüzza, so dass sie Gefahr läuft, übersehen zu werden; weiter links, noch eben sichtbar, der schwarze Grat der weissen Bellavista; dann der Scerscen- und endlich der wüste Berninakamm, mit dem Pizzo Bianco endend. Der Piz Morteratsch als linker Nachbar erscheint ziemlich winzig; zwischen ihm und dem uns nahen Piz Roseg öffnet sich der weite, ungehemmte Ausblick in die westliche Ferne.

Mit grosser Aufmerksamkeit studirte ich den Scerscengrat. Er hat eine Länge von 450-500der Punkt, wo wir ihn zuerst betreten hatten, liegt 120 bis 136 m von der Schneehaube und etwa 350™ von der höchsten Spitze entfernt; er theilt also die Strecke im Verhältniss von 1: 3. Die kürzere, von uns zurückgelegte Theilstrecke ist die gefährlichere wegen des Ueberhangs; wir legten sie in 25 Minuten zurück. Die andere Theilstrecke, die zur höchsten Spitze führt, würde sich also in 1-111k Stunden zurücklegen lassen, denn besondere Schwierigkeiten durch Scharten und Abstürze sind nicht vorhanden, und ebenso wenig scheint es Ueberhang zu geben. Ich schätzte direkt mit dem Auge auf 11k Stunden, Hans glaubte, dass der Uebergang in einer Stunde auszuführen sei. Unsere Besteigung der Schneehaube hat daher gleichzeitig einen neuen Weg zur höchsten Scerscen spitze eröffnet. Der Erstreckung nach ist er länger, der Zeit nach etwa um zwei Stunden kürzer als der alte Weg. Wie man das Matterhorn, das Weisshorn, die Jungfrau « traversirt a hat, so kann man jetzt auch den Scerscen traversiren, indem man vom Tschierva-Gletscher zur höchsten Spitze aufsteigt, von dort dem Kammgrat in der Richtung zur Schneehaube folgt und denselben an eben dem Punkte verlässt, wo wir ihn betreten hatten und nun wieder zu verlassen im Begriff standen; der Abstieg würde dann mit dem unserigen zusammenfallen. Diese Expedition darf sich neben die grössten stellen, die im europäischen Alpengebiet möglich sind. Sie in umgekehrter Richtung auszuführen, erscheint wenig rathsam, weil die Eiswand an der Nordwestfläche ein Stufenschlagen von oben nach unten kaum gestatten dürfte.

Wir blieben 33 Minuten auf der Spitze und betrachteten die Landschaft mit einem nassen, einem heitern Auge; denn wenn wir uns auch freuten, noch einmal, wie in alten Zeiten, eine schöne, uns und Andern bis dahin unbekannte Besteigung ausgeführt zu haben, so dachten wir doch daran, dass es wohl die letzte gewesen sein könnte. Wir liessen eine Flasche zurück; da aber auf der Spitze keine Felsen zu Tage treten, so mussten wir sie in den Schnee einstossen, wo ihres Bleibens vermuthlich nicht lange sein wird. Lebendigere Zeugen dieser Besteigung sind die Herren W. Penhall, der Ersteiger des Matterhorns vom Stockje, und J. Jose, welche die Spitze des Piz Roseg soeben verlassen hatten; aus einer andern Richtung, von dem Gipfel des Piz Morteratsch, beobachteten uns Herr und Fräulein Enderlin aus Pontresina.

( Jm 11 Uhr 38 Minuten begann der Abstieg, und in 9 Minuten legten wir die Strecke zurück, für welche beim Aufstieg fast das Dreifache erfordert wurde. Wir schlichen wie die Kater auf einer Dachrinne über den gefährlichen Ueberhang hin, mit 18-20 Schritt Geschwindigkeit in der Minute. Als ich 170 zählte, war der Punkt wieder erreicht, wo der Weg den Kammgrat verlässt. Wir schwenkten nach rechts, und nun wurde meine ganze Aufmerksamkeit durch den Weg beansprucht. Denn ich ging voran, und es ist sehr schwer, für den Ungeübten überhaupt unmöglich, sich in Felsenlabyrinthen schnell und sicher zurechtzufinden und den alten Weg inne zu halten. An einigen Stellen hatten wir zur Orientirung Steine aufeinandergeschichtet und ein Stück Schnee darauf gelegt. Die Schneefelder, die wir passirten, waren in noch leidlicher Beschaffenheit; nach IV2 Stunden traversirten wir das innere Couloir und erreichten den vorher erwähnten Felsgrat, um dann das östliche Couloir zu verfolgen. Hier — in der Höhe von 3500 m — wuchs Ranunculus glacialis in reicher Menge; so hoch habe ich ihn nur noch bei der Fuorcla prievlusa und an der Dent Blanche bei Zermatt angetroffen. Im Grossen und Ganzen durfte man sagen, dass die Felsen gut zum Klettern waren, wenigstens wenn man nach den Regeln der Kunst kletterte, d.h. ohne an den Steinen zu ziehen und ohne schwer und plump aufzutreten. Denn wenn man leicht geht, mit Hand und Fuss fühlt, ob der Stein weicht oder nicht, beim Festhalten möglichst vertikal drückt, damit der Stein nicht ausbreche, so kann man sich auch in dem steilsten Terrain mit grosser Stetigkeit fortbewegen. Aber der Uebung in diesen Dingen muss ein angeborener Instinkt zu Grunde liegen, denn sonst kostet das Ueberlegen bei jedem einzelnen Schritt zu viel Zeit. Für ein leichtes Aufsetzen des Fusses beim Abwärtsklettern bedarf es einer gewissen Muskelkraft; wer im Stande ist, auf einem Bein eine tiefe Kniebeuge auszuführen und sich langsam wieder zu erheben, ohne das andere Bein zu gebrauchen, besitzt dieselbe in ausreichendem Masse. Die zerrissenen Kleider nach grossen Kletterpartieen im Fels gehören meist Bergsteigern an, denen die beschriebene Uebung nicht gelingt.

Die Felsen in der Nähe des äusseren Couloirs waren schlechter, als in grösserer Höhe. Wir hatten schon beim Aufstieg viele Steine abgeworfen, damit wir beim Abstieg um so sicherer wären. Aber schliesslich ist das Klettern doch nicht schwieriger, als etwa an der Ostwand des Matterhorns, auf dem zwischen Schulter und Hütte eingeschlossenen Stück. Doch in hohem Grade schwierig wurde das Gehen, als wir um 1 Uhr 40 Minuten den steilen Firnhang betraten, der unten vom Bergschrund begrenzt wird, und in welchem seitlich das äussere Couloir verläuft. Hier waren wir am Morgen mittels kleiner Stufen in die Höhe gestiegen, aber nun hatte die Nachmittagssonne die Stufen bereits verwischt; unter der mit Wasser getränkten firnigen Oberfläche lag Eis, und zu neuen Stufen wollten wir uns nicht verstehen. Da ich voran ging, so musste ich zusehn, wie wir am besten hinunterkommen würden. Ab und zu schimmerten die Trümmer der armseligen Stufen auf, aber dem Fuss waren sie kaum noch eine Stütze. Hätten wir hier Steigeisen gehabt, so wären uns diese eine grosse Erleichterung gewesen. Doch freue ich mich, dass wir sie nicht hatten, denn ich halte sie für einen elenden Nothbehelf und habe sie nur da nicht verschmäht, wo die Minuten so kostbar waren, wie bei der Berninascharte. Es sollte als ein richtiges Princip anerkannt werden, dass wir alle äussern Hülfsmittel, die sich durch unsere eigene Geschicklichkeit ersetzen lassen, verwerfen. Nach 40 Minuten sehr erheblicher Anstrengung erreichten wir den Bergschrund und passirten ihn an derselben Stelle und mit demselben Glücke, wie am Morgen. Nun blieb nur noch das letzte steile Firnfeld zu überwinden; dann betraten wir den Boden des Scerscengletschers, und damit war die eigentliche Besteigung zu Ende. Aufstieg und Abstieg hatten etwa acht Stunden erfordert. Kurz nach halb drei Uhr begann der Rückmarsch über den Sellapass, und fünf Stunden später erreichten wir Pontresina.

Die beiden folgenden Zusammenstellungen der Besteigungen vom 15. September 1879 und 13. September 1877 mögen hier zum Vergleich mitgetheilt werden.

Von /. Schneehaube des Monte Scerscen ( 4879J.

Marsch. Pause. Summa. St. M. St. M. St. M.

" H3. 2 + 0.18= 3.20

.zum Scerscengletscher ( 3150 m ) Aufstiegz.Schneehaube(3877 m3.41 + 0.294.10 Auf dem Gipfe10.330.33 Abstieg zum Scerscengletscher2.29 + 0.262.55 Scerscengletscher—Rosegrestau- ration ( 2000 m ) 3.20 + 0.323.52 12.32 + 2.18= 14.50 II. Höchste Spitze des Monte Scerscen ( Ì877 ).

Marsch. Panse. Summa.

St. M. St. M. St. JI.

Alp Misaun ( 2005 m ) zum Monte Scerscen ( 3967 m )... 10.20 -f 1.35 = 11.5 » Auf dem Gipfel0. 7 = O. 7 Abstieg6.25-1-1. 5= 7.30 16.45+ 2.47 = 19.32- Während die Expedition zur Schneehaube also 14 Stunden 50 Minuten beanspruchte, dauerte die-zuf höchsten Spitze des Monte Scerscen 19 Stunden 32 Minuten. Aber nicht allein der grössere Zeitaufwand, sondern auch die Eisverhältnisse der Nordwestwand machen die Besteigung des Monte Scerscen, von der schweizerischen Seite schwieriger und bei mittlerer Leistungsfähigkeit vielleicht gefährlicher, als-die von Italien aus. Dafür bleibt sie fast gänzlich frei von unberechenbaren Gefahren, d.h. von solchen, die-dem Erfahrenen und Erprobten ebenso drohen, wie-dem Neuling. Denn bei ihr sind weder Steinschläge-noch Ueberhänge zu fürchten, während die italienische Besteigung solche aufzuweisen hat. Schon der Bergschrund bietet eine missliche Passage, die grösste-Gefahr aber wartet hoch oben auf dem Ueberhang am Scerscenkamm, und es muss ein Jeder mit sich, selber ausmachen, ob er sich so unzuverlässiger Bildung-anvertrauen will oder nicht. Es mag ausserdem noch darauf hingewiesen werden, dass eine Besteigung der Schneehaube durch drei oder gar vier Personen wahrscheinlich mehr Zeit erfordern wird, als oben angegeben » ist. Denn zwei ihrer Sache gewachsene Bergsteiger kommen im Felsenterrain schneller vorwärts, als drei und vier, namentlich wenn sie bis zu gänzlicher Schweigsamkeit in einander eingearbeitet sind; auch war Hans Grass Führer, d.h. ein Mann, den sein wunderbarer Blick für unbekannte Pfade noch nie getäuscht hat.

Die italienische Seite der Berninagruppe bietet manche ungelöste Aufgabe, und es wäre erfreulich, wenn dieses Gebiet genauer untersucht würde. Der Anblick der vom S.A.C. herausgegebenen Karte des Berninagebietes erregt zwar das Bedauern, dass ein solches Meisterwerk an der politischen Grenze abbricht; aber mögen sich Alle in der Weise trösten, dass sie sich selbst die Anschauungen holen, welche die Karte ihnen vorenthalten hat. Ich glaube, dass wenn der italienische Alpenclub eine Schutzhütte im Scerscen-gebiet errichten liesse, er nicht allein auf den Dank seiner eigenen, sondern auch der Mitglieder der übrigen alpinen Vereine rechnen dürfte.

Feedback