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Die schweizerische Patagonien-Expedition

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Mit 4 Bildern und 1 Kartenskizze.Von Arnold Heim.

Seit Jahren blieb bei der Betrachtung der Karte von Südamerika, jenem Kontinent, der mir noch unbekannt geblieben war, mein Auge am Cerro San Valentin hängen. Dieser Berg liegt bei 46% Grad südlicher Breite, also etwa so weit südlich des Äquators wie [die Schweiz nördlich desselben. Nach den Karten hat er eine Höhe von 4058 m und ist damit bei weitem der höchste Berg Patagoniens. Durch die kühne Expedition von Professor Dr. Fr. Reichert im Jahre 1921 war bekannt, dass von diesem Massiv aus sich nach dem Pazifischen Ozean zu eine kontinentale Eisfläche ausbreitet, die nach ihrer Art mit dem grönländischen Inlandeis vergleichbar ist. Denn von diesem ergiessen sich die Gletscher bis zu den pazifischen Fjorden herab. Hier können also Erscheinungen studiert werden, die an die Eiszeit unseres Landes erinnern.

50 loo km Reiseweg R = San Rafaël, Laguna und Gletscher; T = Tadeo-Gletscher; SV = Cerro San Valentin; LL = Lago Leon; LB = Lago Bertrand; MS = Mina Silva; PI = Puerto Ibaflez; LBA = Lago Buenos Aires; Ch = Chile Chico; N = Naciraiento; PM = Paso Mayo; C — Coyhaique; A = Puerto Aysen.

Die Alpen — 1940 — Les Alpes.22 Mehr noch als die Eisverhältnisse lockte mich der gewaltige Lago Buenos Aires auf der Ostseite des San Valentin. Denn dieser See, obwohl nur 227 m x ) über Meer, erstreckt sich von der argentinischen öden Pampasteppe 130 km weit bis ins vergletscherte chilenische Kordillerengebirge. Kein anderer Querschnitt der Anden versprach nach dem Kartenbilde eine solche Einsicht in den geologischen Bau zu bieten. Durch den schwedischen Forscher C. Cal-denius waren die Glazialbildungen der Eiszeit am Ostende des Sees schon sehr genau untersucht, ja das Alter der vier gewaltigen Stirnmoränenwälle war mit den entsprechenden skandinavischen Vergletscherungen in Übereinstimmung gebracht worden. Durch Messen und Zählen der feinen Gletschermilch-absätze östlich des Sees mittelst künstlicher Schürfungen glaubt er sogar die Jahreszahlen der einstigen Gletscherstände ermittelt zu haben. So z.B. findet er, dass vor etwas mehr als 3300 Jahren die postglaziale Wärmeperiode einsetzte, der zufolge sich das Eis endgültig von der finiglazialen Endmoräne am See-Ende zurückzog.

Zum Unterschied der Glazialbildungen am Ostende des Lago Buenos Aires war aber dieser See und das ihn umschliessende Hochgebirge auf der chilenischen Seite noch von keinem Geologen betreten worden. Weite, auf der Karte 1: 500 000 weiss gebliebene Gebiete sind auch topographisch als « Inesplorado » bezeichnet.

Nachdem im Jahre 1938 die Himalaya-Expedition mit A. Gansser gelungen, unser allgemeines Reisebuch « Thron der Götter » erschienen und das wissenschaftliche Werk 2 ) im Manuskript abgeschlossen war, hoffte ich auf eine Gelegenheit, die seit langem erdachte Patagonienreise durchführen zu können. Wiederholt wurde ich schon seit Jahren von meinem ehemaligen Kantonsschulkameraden Walter Meyer eingeladen, der zuerst als Ingenieur nach Südamerika reiste, dann sich in der schönen « Chilenischen Schweiz » in Osorno als Grossfarmer niederliess und nun dort auch als schweizerischer Konsularvertreter amtet. Die Gelegenheit bot sich indirekt durch einen Auftrag des Standard Petroleum Concerns, für den ich auf verschiedenen Inseln in Niederländisch Indien geologische Untersuchungen auszuführen hatte.

Herr Ständerat Iwan Bally und einige andere Schweizer Herren hatten meinen Plan in freundlichster Weise finanziell unterstützt, während ich selbst unterdessen mich so gestellt hatte, dass ich gerne die übrig bleibende Hälfte der Auslagen übernahm.

Der Kontrast war gross von den schwülen, stinkenden Fiebersümpfen Borneos zu den patagonischen Gletschern, aber nicht unvermittelt. Denn ich reiste über Neuguinea, wo ich die letzten Naturmenschen im gebirgigen Inneren aufsuchte, dann nach Auckland in Neuseeland. Dort traf ich im September ein. Es war noch frischer südlicher Vorfrühling.

Unterdessen hatte England den Krieg erklärt. Trotz Passvisa waren manche Schwierigkeiten zu überwinden. Kein Schiff verkehrte von Neuseeland nach Südamerika. Ich musste in einem verdunkelten und bewaffneten britischen Schiff nach Panama reisen, 21 Tage lang ohne Land in Sicht. Schliesslich gelangte ich auf einem U. S. A. Schiff der Grace Line, mit 16 Mann in einer Kabine III. Kl ., der pazifischen Küste entlang südwärts fahrend nach Valparaiso, der grossen Hafenstadt Chiles. Welche Überraschung: Walter Meyer am Landungssteg! Nun war ich geborgen. Unermüdlich war mein Freund, mir zu helfen. Aber die vom Warenhaus Jelmoli in Zürich rechtzeitig abgesandte und schon im Juli in Buenos Aires eingetroffene Expeditionsausrüstung war noch nicht da. Trotz aller Bemühungen mit Flugbriefen und Telegrammen dauerte es einen weiteren Monat, bis die Kisten in Osorno eintrafen, so dass wir erst am 5. Dezember 1939 von Osorno abreisen konnten. Diese Verspätung von mehr als einem Monat wurde uns wegen der südlichen Sommerstürme fast zum Verhängnis und ist der Grund, dass wir die geplante erste Querung des gesamten Inlandeises nicht zu Ende führen konnten. Dass wir immerhin ein vordem noch von niemand betretenes Gebirge studieren konnten, damit muss ich mich für diesmal zufrieden geben.

Mein Begleiter war Hermann Hess jun., patentierter Bergführer aus Engelberg. Er hatte im vorangehenden Winter einen erfolgreichen ersten Skikurs für den Club Andino Osorno geleitet. Seitdem auf der Nordseite des 2600 m hohen herrlichen Vulkans Osorno bei 900 m unter Leitung von W. Meyer eine Clubhütte gebaut wurde, wird dort alljährlich eifrig Skisport betrieben. Neben Hess stand mir zur Seite W. Schmitt aus Osorno, Schneider von Beruf und Bergsteiger von angeborenem Talent, überhaupt ein ruhiger und praktischer Mann. Dr. med. Juan Neumeyer, Präsident des Club Andino Bariloche, der als Erster vorgesehen war, musste leider wegen Spitalübernahme zurücktreten, und Dr. ing. Hans Moser aus Zürich, Professor für Elektrotechnik an der Universidad Tecnica in Valparaiso, konnte erst später nachfolgen. Als weitere vortreffliche Hilfe hatten wir einen halbindianischen Chilenen namens Vargas aus Puerto Varas, und schliesslich halfen uns noch zwei chilenische Träger von Chile Chico am Lago Buenos Aires.

Mit einigen Ausnahmen waren wir sehr gut ausgerüstet. Herr W. Meyer schenkte uns in Büchsen gegen 30 kg frische Butter und füllte drei Petrol-kannen mit geröstetem Weizenmehl ( harina tostada ), beides von seiner Farm. Die Firma Dr. A. Wander, durch Herrn Direktor J. Schaffner, hatte Ovomaltine und Ovosport gestiftet und Nestle uns gütigst mit Pulvermilch versehen. Dazu kauften wir in Osorno Haferflocken, Zucker, getrocknete Früchte und später auch noch gewöhnliches Weizenmehl. Schaffleisch, sonst nichts, bieten die Umgebungen des Lago Buenos Aires. Für ein Schaf bezahlten wir 25-30 Pesos = 3-4 Schweizerfranken.

Von der übrigen Ausrüstung sind zu erwähnen Klappski, 3 halbierbare Militär-Skischlitten und ein Zweisitzer Klepper-Faltboot von 5 m Länge.

Puerto Montt ist die südliche Endstation der Nord-Süd verlaufenden chilenischen Hauptbahn und der eigentliche Hafenplatz für Patagonien. Mit einem Regierungsdampferchen gelangten wir von dort in zwei Tagen und zwei Nächten zwischen den vielen Inseln hindurch in den Aysen-Fjord. In Puerto Aysen konnten wir einen Lastwagen mieten. Damit gelangten wir ostwärts, die Kordillere auf teilweise fast unfahrbar schlechten Wegen que- rend, bis in die argentinische Pampa hinaus, dann südlich zum Lago Buenos Aires, auf 400 km langer dreitägiger Fahrt. Diese Pampa ist eine endlos erscheinende eintönige, meist völlig ebene Schotterfläche, in die einzelne Flüsse sich gegen Osten immer tiefer eingeschnitten haben. In dem der Tundra ähnlichen Gestrüpp mit an die Alpen erinnernden blühenden Polsterpflanzen weiden Schafe. Hie und da begegneten wir Straussen, sowie Guanacos, das sind die wilden Llamas oder Kamelschafe.

Während zur Eiszeit die Gletscher bis weit in die Pampa hinaus reichten und sich die Schmelzwasser dem Atlantischen Ozean zuwandten, haben die Flüsse nach dem Abschmelzen die umgekehrte Richtung angenommen und ergiessen sich jetzt in den Pazifischen Ozean.

Den ersten besonderen Hindernissen begegneten wir, von Osten längs dem Südufer des riesigen Buenos Aires-Sees kommend, an der argentinisch-chilenischen Grenze ( Kartenskizze ). Nicht, dass uns die Zöllner aufhielten. Die Carabineros sind meistens sehr freundlich und korrekt. Zwei mächtige Flüsse mussten gequert werden, was im Camion nicht zu riskieren war. Am folgenden Tag aber kam uns ein zweirädriger Ochsenkarren zu Hilfe, mit dem wir Chile Chico erreichten. Dieser erst seit zwei bis drei Jahrzehnten bestehende Ort zählt etwa 500 Einwohner und ist damit der bedeutendste Ort am Lago Buenos Aires. Von dem kleinen Hafen aus verkehren in unbestimmten Zeitabständen ein Miniaturdampferchen und ein Motorboot, die den einsamen Schafhirten Nahrung, vor allem Mehl, bringen und dafür Felle und Wolle eintauschen.

Nach einigen Tagen, die zu geologischen Exkursionen am Rand des Gebirges mit seinen braunen Laven und grünspanfarbigen Tuffgesteinen benutzt wurden, war das Dampferchen « Andes » zur Abfahrt bereit. Das Wetter war stürmisch und das Boot schaukelte wie auf dem Meer, so dass die systematische Beobachtung der Felsufer fast unmöglich wurde. Wir teilten uns nun in zwei Gruppen: Hess fuhr direkt bis ans Westende des stürmischen Sees, um mit der ganzen Ausrüstung soweit möglich in westlicher Richtung zum Inlandeis vorzustossen, während ich noch 8-10 Tage zur Untersuchung der Gebirge am See brauchte. Ich liess mich also halbwegs am Nordufer bei der « Mina Silva » an Land setzen. Dort wurde nämlich kürzlich in den Marmorfelsen 700 m über dem See Bleierz entdeckt 1 ). Zwei Tage lang kletterte ich an den Felsen herum und bis auf einen Berg von fast 2000 m, wo über mir ein Kondorpaar kreiste.Von dort sah ich zum erstenmal von Osten her in der Ferne den San Valentin: es ist ein vereister Gebirgsstock mit gewaltigen nach Süden, Norden und Osten abfallenden Felswänden.

Am Miniaturhafen des Kolonisten Silva konnte ich mir für einige Tage ein Ruderboot mit Anhängemotor verschaffen, um die Ufer des Sees bis an das Westende und den Lago Bertrand zu untersuchen. Manche interessante Stelle konnte aber nicht betreten werden, weil eine Landung zu gefährlich gewesen wäre. Alles wurde überspritzt; selbst in die Blechkiste drang das Wasser.

Am Westende des Lago Buenos Aires mündet mit einem breiten Delta das von den Farmern Valle Leon genannte Tal. Zwei leere Hütten stehen am Ufer. Nach einiger Zeit sahen wir einen Reiter. Es war der Schafhirt Varrocal, der weiter oben im Tal mit grosser Familie wohnt. Hilfsbereit, wie alle diese einfach lebenden Menschen, holte er Pferde und führte uns zu seiner Schaf-farm. Er lud uns zwar nicht zu Tisch. Denn hier bratet man dreimal im Tag riesige Stücke Schaffleisch an einem Stock am offenen Feuer, und ein jeder schneidet oder reisst sich Stücke davon ab, um sie auf der Bank nebenan zu verzehren. Dazu wird eine Kürbisflasche mit Saugröhrchen von einem zum andern geboten und daraus das Nationalgetränk, der bitterliche Mate-Tee geschlürft. Zum Übernachten war mir der nebenstehende Schopf zugewiesen, dessen Erdboden mit schmutzigen Schaffellen belegt wurde. Über mir hing Fell an Fell und daneben ein gehäutetes Schaf, dem noch das Blut aus der Nase tropfte. So erlebte ich Weihnachten 1939.

Meist haben diese einsamen Farmer zahlreiche Kinder. Trotz, oder richtiger wegen ihrer primitiven Lebensweise sehen diese blühend rotwangig aus. Die Leute sagten, sie wissen nichts von Krankheit. Das kommt ihnen zustatten, da es weit und breit keinen Arzt und auch keine Hebamme, allerdings aber auch keine Schule gibt. Ergötzlich war es, wie die Kinder auf Spässe eingingen und mich immer wieder zu necken versuchten.

Draussen wütete auch am folgenden Tag der Weststurm. Wir sollen noch warten mit der Weiterreise, meinte Varrocal, wegen der Gefahr fallender Stämme des verbrannten Waldes. Der Staub drang in alle Fugen. Eine Erscheinung konnte ich wieder beobachten, die bezeichnend ist für die grossen Gletschergebiete: die Lössbildung. Der Staub wird im Laufe der Jahrhunderte in wachsender Mächtigkeit hinter den Hügeln und weiter talabwärts angehäuft und entspricht völlig der von China so bekannten Gelberde. Nicht nur des Staubsturmes wegen konnte ich leider die phantastisch geformten Berge nicht photographieren, sondern auch wegen des über der ganzen Gegend schon seit Wochen verbreiteten Rauches. Selbst in diesem entlegenen Tal ist nämlich der ganze Wald mit seinen gewaltigen Notofagus-Buchen abgebrannt worden. Wozu? Damit an dessen Stelle, zwischen den verkohlten Stämmen etwas mehr Gras für die Schafe gedeihe. Ein weiterer Grund sei, die Leones ( Pumas ) abzuhalten, die aus dem Walde kommen und den Schafen nachstellen. Bis zu den Hängegletschern hinauf rasen die Feuer. Die Regierung hat keine Einsicht, tut nichts dagegen, so wenig wie etwa die Regierungen von Australien und Neuseeland. Nicht nur gibt es schon heute kein Bauholz mehr in der Gegend; nach einigen Jahrzehnten wird auch die schöne Humuserde weggespült sein und die graslosen, nackten Felsen zutage treten, wie es jetzt schon teilweise der Fall ist. Ein kurzsichtiger Räuber an der Natur ist der « Homo sapiens »!

Noch etwa 25 km geht es dem sanft ansteigenden Tal entlang durch die Brandwüste, bis man plötzlich, inmitten riesiger Moränenblöcke, vor einem einsamen wilden Bergsee, dem Lago Leon, steht, in den sich etwa 8 km entfernt die Gletscher vom Inlandeis herunterstürzen. Ein gewaltiger Granitblock bietet hier Schutz vor Regen und Wind. Es war unser erstes Freilager.

Der Lago Leon liegt etwa 350 m über Meer und ist ein typischer Glazialsee, von einem 100-140 m hohen Moränenwall eines Rückzugstadiums umgeben. Der See ist vermutlich entstanden durch langsames Abschmelzen von Toteis, als der Druck vom Inlandeis her infolge des vor 2500 Jahren wärmer werdenden Klimas nachliess.

Ein Zufall war es, dass gerade am Abend meiner Ankunft Hess im Faltboot vom ersten Gletscherlager, das er am Weihnachtstag errichtet hatte, zurückkam, um weiteren Proviant und Ausrüstung zu holen. Er war aber vom Sturm verschlagen worden, musste frierend unter einem Fels übernachten und hatte seit einem Tag nichts zu essen. Das Boot war irgendwo in den Felsen zurückgeblieben, und er konnte den wilden Ausfluss des Sees nicht umfahren, bis der See ruhiger wurde.

Der folgende Tag ( 27. Dezember 1939 ) war ein idealer Glanztag — doch leider für fast drei Wochen der letzte. Die lange Schönwetterperiode war vorüber. Wie ein Wilder war ich zum Zeichnen, Peilen und Photographieren herumgerannt. Dann folgten Sturm und Regen. Hess war wieder am Gletscherlager zurück, ich von ihm abgeschnitten im Zelt am Seerand, das vom Sturm wie mit Faustschlägen behandelt wurde. Tag um Tag verging. Der Lesestoff war zu Ende. Ich suchte noch die Zeitungsfetzen von Paketen auf dem Boden zusammen Meine ganze Hoffnung war ausser auf Wetterbesserung auf die baldige Ankunft von Neumeyer und Moser gerichtet. Endlich, am 3. Januar: Moser! Zehn Tage lang hatte er auf ein Boot warten müssen. Die Freude verwandelte sich bald in tiefste Sorge. Noch nie hatte er so etwas gefühlt wie jetzt die schmerzenden Stiche im Unterleib. Nach meiner Erfahrung mit Werner Weckert im Himalaya schoss mir sofort der Gedanke durch den Kopf: Blinddarm! Ja, die Symptome mehrten sich. Also vollkommene Ruhe und absolutes Fasten! Tage und Nächte lagen wir im Zelt, das von Sturm und Regen gepeitscht wurde. Moser fühlte sich besser und hatte keine Fieber. Was war zu tun? Kommt Zeit kommt Rat!

Nach einigen Tagen kam Bericht vom See, dass laut Telegramm Dr. Neumeyer, der Chirurg, auf den wir unsere ganze Hoffnung abgestellt hatten, nicht kommen könne. Weiter, dass das Motorboot « Estrella » nach dem Lago Bertrand fahre und vermutlich in zwei Tagen wieder beim Leondelta vorbeikommen werde. Der Entschluss war gefasst. Beim nächsten Farmer wurden zwei Pferde geholt. In allem Elend bestieg Moser das Gesattelte, und wir mussten Abschied nehmen. Begleiten konnte ich den Freund nicht, weil dadurch die Verbindung mit der Gletschergruppe ganz abgeschnitten worden wäre.

Ich blieb nun allein im Lager am See, kochte Hafersuppe, trank Ovomaltine, sammelte Blaubeeren, wenn der Regen nachliess, und klopfte mir eine ganze Serie schöner kristalliner Gesteinsproben. Da kam Bericht von Moser zurück: das Packpferd sei in den Felsen gestürzt, so dass er erst um Mitternacht zur Hütte eines Indianers gelangte, elend vom Fasten, aber fast ohne Schmerzen.

Endlich, am 9. Januar, erspähte ich einen winzigen Punkt auf dem grünlichen See mit rhythmisch aufblitzenden Punkten zur Seite. Hess und Vargas kamen im Faltboot ( Abb. 101 ). Nach ihren Begehungen sei der Gletscher auf der Südwestseite des Sees derart zerklüftet, dass dort ein Aufstieg zum Inlandeis mit dem Gepäck praktisch ausgeschlossen sei. Wie wahnsinnig habe der Sturm getobt, so dass sie die Nacht durchwachen mussten, um die Zeltstangen zu halten. Aber mit Begeisterung spricht Hess von der Pracht der Gebirgs- und Gletscherwelt. Das Lager bei 1000 m sei das schönste, in dem er jemals kampiert habe.

Am 1. Januar, nachdem Neuschnee bis auf 1000 m herabgefallen war, glaubte Vargas, unser erfahrener Bootmann, die Ausfahrt mit mir wagen zu dürfen. Das Faltboot wird voll gepackt. Bergschuhe ausziehen! Nach einer Stunde gemeinsamen Ruderns verschärft sich in bedrohlicher Weise der Wind. Die Wellen schäumen und schlagen über. Die Füsse hängen im eiskalten Wasser. Einige Minuten finden wir Schutz hinter einem Felskopf. Wir halten Rat, sammeln Kräfte und beschliessen dann, die Weiterfahrt dem Wind entgegen zu wagen. Jetzt gibt es kein Umkehren mehr, das Boot würde kippen. Die letzten Kräfte werden aufgeboten, bis wir in der Bucht am Südwestende des Sees hinter dem Gletscherabbruch ans Land steigen können. Mit noch halb gefühllosen Beinen und schweren Säcken auf dem Rücken beginnen wir den Aufstieg. Wir reissen uns durch dorniges Gestrüpp und waten durch Wasser. Das Wetter wird immer schlechter. Auf Regen folgt nasses Schneegestöber. Die Furchen in den vom Gletscher gerundeten Granitfelsen, über die wir hinaufklettern müssen, sind zu Bächen und kleinen Wasserfällen geworden. Vergeblich suchen wir nach einem überhängenden Block, der Unterstand bieten würde. Kein Faden bleibt mehr trocken. Triefend erreichen wir am späteren Nachmittag das Zelt mit dem weissen Kreuz im roten Feld, das mir im Himalaya so gute Dienste geleistet hatte. Es steht bei 1000 m auf den Granitfelsen östlich über dem südlichen Leongletscher.

Schmitt, der hier oben als Einsiedler gehaust hatte, freut sich trotz allem, dass wir kommen, und setzt schleunigst den Primus in Gang, wobei sich aber der Zeltraum in Nebel hüllt.

Die folgenden vier Tage blieb das Wetter schlecht. An Exkursionen war nicht zu denken. Krachend wie Pistolenschüsse schlug der Fallwind mit plötzlichen Stössen auf das Zelt, das trotz des Schutzmäuerchens zu zerreissen drohte. Der Boden wurde nass. Es tropfte schliesslich auch vom Dach. Auch tropften immer noch die aufgehängten Kleider. Abwechselnd schneite und regnete es. Nach der vierten Schreckensnacht lag fast fusstief der Schnee, und dies im südlichen Hochsommer! Das Barometer begann aber zu steigen. Der Sturm liess nach. Warum kommt Hess nicht vom See zurück? War Vargas, der allein ihn zu holen ging, ein Unglück begegnet? Wir fühlen täglich deutlicher, dass wir in einer Sackgasse sind, dem Wetter ausgeliefert. Wenn das Wetter noch wochenlang schlecht bleiben sollte, wie in den vergangenen 19 Tagen, was dann?

Doch welche Überraschung! Nach der fünften Nacht im Zelt, am 16. Januar: unermesslicher Glanz! Mit eisigen Fingern wird hastig skizziert. Alle Gipfel ringsum werden mit dem Diopterkompass angepeilt. Endlich kann in der klaren Luft nach Lust photographiert werden. Herrlich leuchtet uns gegenüber in Richtung S 37° W magn. = S 54° W astr. der Lieblingsberg von Hess mit seinen Eisrillen in der ersten Morgensonne. Zu Ehren des « schönsten Berges im Himalaya » nennen wir ihn Siniolchu, obwohl er nur etwa 2500 m hoch ist ( Abb. 100 ). Ich selbst bin noch mehr entzückt von dem in W 30° N a. stehenden Berg, der sich mit einer gepanzerten Spitze und einem höheren Eisgrat dahinter kristallartig über die ihn umfliessenden Gletscher erhebt. Ich habe ihn Cerro Cristal getauft ( Abb. 102 ). Die höchsten Gipfel aber liegen mehr rechts im ferneren Nordnordwesten: in etwa 23 km Luftlinie nach N 23° W a. erkennen wir den Kopf des San Valentin. Der übrige Teil ist verdeckt durch das etwas weniger hohe weisse Horn mit der Schneefahne und seiner östlich vorgelagerten Eisterrasse ( Abb. 99 ). Wir haben es zuerst Titlis genannt, geben aber gerne der Bezeichnung Silberhorn den Vorrang 1 ). In gewaltigem Umkreis breiten sich zu unseren Füssen die zerspaltenen blauen Gletscher aus. Es sind drei Hauptgletscher, die sich vereinigen und gemeinsam am Leonsee in einer kilometerbreiten Eiswand abbrechen.

So wie ich mit dem Zeichnen fertig war, stiegen Schmitt und ich über die Granitfelsen hinauf bis zu einem freien Punkt von 1500 Meter, einem kühnen Granithorn gegenüber. Der höchste Berg aber, dem wir jetzt näher kamen, ist unser « Helado », der Vereiste, ein pyramidenförmiger Berg, ganz in Eis gepanzert, den wir zu 3000 m schätzten. Vielleicht ist er identisch mit dem C. Hyades, 3078 m, der Karte 1: 500 000 vom Jahre 1910. Wir schätzten die klimatische Schneegrenze auf 1400-1500 m, das ist über 400 m höher als auf der pazifischen Seite des Inlandeises, wo sie Reichert bei etwa 1000 m fand. Dies kommt von den vorherrschenden Westwinden, die ihre Niederschläge zuerst aufsteigend am Gebirge von der pazifischen Seite her fallen lassen. Das Valentingebirge bildet eine äusserst scharfe Wetterscheide. Rasch nehmen östlich davon die Niederschläge ab. Liegen noch Regen- und Schneewolken über dem Inlandeis, so brechen oft schon einzelne Sonnenstrahlen auf den Leongletscher herab ( Abb. 101 ), und gegen den Lago Buenos Aires hin öffnet sich der Himmel Im gleichen Verhältnis verschwindet gegen Osten der Wald und macht der öden, regenarmen Pampa Platz, über der während der meisten Zeit des Jahres ein blauer Himmel steht.

Da unser Hauptzelt schon sehr gelitten hatte und meine Zeit knapp bemessen war, musste ich mich leider zum Rückzug entschliessen. Schon am Nachmittag jenes 16. Januar bildeten sich verdächtige Wolken. Schnell entschloss ich mich, die vielleicht für lange Zeit letzte Gelegenheit zur Rückfahrt zu ergreifen. Schon war der See wieder wild bewegt. Von den nördlichen Felswänden schlug der Wind zurück, so dass er uns von der Seite traf. Die Wellen schäumten. Die Lage war kritisch. Doch schliesslich erreichten wir unversehrt bei einbrechender Nacht das Blocklager am Ende des Leonsees.

Ich will nicht erzählen, wie ich über Puerto Ibanez und Coyhaique unter manchen kleinen Abenteuern wieder nach Osorno zu meinem treuen Freund Meyer zurückreiste. Wochenlang wartete ich mit Bangen auf Nachricht von Hess und seinen Gefährten. Ich hatte meine Abreise nach Europa aufs Äusserste hinausgeschoben, als sie am 16. Februar dieses Jahres eintrafen, gerade einen Monat, nachdem ich sie verlassen hatte.

Hess berichtet, dass am 17. Januar, am Tage, nachdem ich das Gletscherlager verlassen hatte, ein orkanartiger Sturm mit furchtbaren Windschlägen einsetzte, der das Himalayazelt zerriss. Man konnte nicht mehr aufrecht stehen. Fünf Eislawinen pro Minute donnerten von den gegenüberliegenden Bergen. Nur drei halbe gute Tage blieben für die weiteren Erkundungen, wobei es Hess und Schmitt immerhin mit Hilfe des zweiten Zeltes gelang, nicht nur einen Aufstieg zum Inlandeis auf der Nordseite der Leongletscher zu finden, sondern das Inlandeis tatsächlich zu erreichen. Die Eislücke befindet sich auf der Südseite des Cerro Cristal bei etwa 1800 m. Damit ist zum erstenmal der Inlandeisgürtel von Osten her betreten worden. Einige Wochen später wurde der Ostrand des Inlandeises von der Expedition Reichert auch von Westen her erreicht. Wir bedauern nur beide, dass wir uns aus Mangel an Verständigungsmöglichkeit nicht die Hände reichen konnten.

Mit knapper Not sind meine Begleiter auf der Rückfahrt über den Leonsee dem plötzlich einsetzenden Weststurm entronnen. Diese Faltbootfahrten waren zweifellos das Gefährlichste der Reise. Einen Teil der Ausrüstung, die nicht mehr mitgeschleppt werden konnte, hat Hess am Gletschersee zurückgelassen, wie Ski und Skischlitten, und auch das beschädigte Faltboot ist nicht mehr zurückgekehrt.

Gross waren unsere Enttäuschungen, nachdem in der Schönwetterzeit alles über Erwarten glücklich gegangen war, und doch sehen wir mit Freude auf unsere Erlebnisse zurück. Nicht nur habe ich reiche geologische Beobachtungen gesammelt in einem bisher unbekannten Gebirgsteil. Wir hatten eines der herrlichsten Gletschergebiete unserer Erde zum erstenmal begangen. Die vordem noch nie gesehenen und unbenannten Granitgipfel von 2500-3000 Meter erinnern an solche aus den Alpen von 4000 m und im Himalaya von 7000 m. Ja, der San Valentin sieht sogar ein wenig dem Everest ähnlich. Aus der Ferne sahen wir noch weisse Türme, die auch an überhängenden Stellen von Eis gepanzert sind, wie mir aus den Alpen, dem Himalaya, dem Minya Gongkar oder von Grönland nichts Ähnliches bekannt geworden ist.

Wir alle haben Patagonien verlassen mit dem brennenden Wunsch und der Hoffnung, noch einmal zurückzukehren, um mit den gemachten Erfahrungen doch noch den Plan zu Ende zu führen und eine Erstbesteigung des San Valentin zu versuchen. Ob aber jene « gute alte Zeit » jemals wiederkehren wird, da es Mittel für reine Forschung gab und dem Reisenden ohne Pass die Wege nach allen Ländern offen standen, wird erst die Zukunft der verirrten Menschheit lehren.

Die Alpen — 1940 — Les Alpes. ,23

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