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Die Ueberwindung der Berninascharte

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Dr. Paul Güssfeldt.

Die Ueberwindung der Berninascharte Von Der hervorspringendste Zug in der Configuration des als Berninagruppe bekannten Gebirges ist die grat- artige Entwickelung der einzelnen Theile. Der Piz Bernina, der Monte Rosso di Scerscen, der Piz Palü, der Piz Roseg, der Monte della Disgrazia, sie alle sind nichts Anderes, als die höchsten Punkte von Gräten, welche ein unaufhaltsamer, unter die wirksamsten Bedingungen gestellter Verwitterungsprozess zugeschärft und ausgezackt hat. Was wir bewundern ist nicht der fertige, sondern der zusammenbrechende Bau, der seine wahre Schönheit erst seinen Trümmern verdankt.

Fast allen Gratbergen kommt die Eigenschaft zu, das sie mehrere Gipfel haben, zwischen welchen die Gratlinie bald sanft gewellt verläuft, bald wild zerrissen auf und nieder springt und über Scharten und sekundäre Felspyramiden eine ungangbare Brücke schlägt. Ein Beispiel der ersten Art bietet der Piz Palü, eines der zweiten der Piz Bernina im weiteren Sinne.Von dem letztgenannten Berge soll hier die Rede sein, aus Anlass einer Expedition, die ihres seltsamen Charakters wegen einer Mittheilung werth erscheint.

Ueber die Stellung, welche der Piz Bernina in der nach ihm benannten Gruppe einnimmt, habe ich mich im letzterschienenen Bande unseres Jahrbuches ausgesprochen. Sein gewaltiges Massiv hat die Form eines ineridionalgestreckten Grates, der in zwei Köpfen gipfelt, in dem nördlichen Pizzo Bianco ( 3998 m ) und in der südlichen höchsten Spitze ( 4052 m ), schlechtweg Piz Bernina genannt.

Der Pizzo Bianco ist bisher nur dreimal erstiegen worden, zum ersten Mal am 12. August 1 876 von den Herren H. Cordier und Thomas Middlemore, dann im Jahre 1877 von Herrn Dr. Minnigerode, und endlich am 12. August 1878 von mir. Dagegen ist der Piz Bernina ein häufiges Ziel mehr oder minder glücklicher Wanderer geworden, seitdem der hochverdiente bündnerische Forstmann Coaz im Jahre 1850 den Fuss zum ersten Mal auf den König seiner heimatlichen Berge gesetzt hat. Aber, was dazwischen lag, der nur wenige hundert Meter lange Grat, welcher beide Spitzen verbindet, erschien so furchtbar, dass wer den Wunsch hatte ihn zu überschreiten, sich dieses Wunsches beim blossen Anblick begab. Als schlimmste Stelle galt eine vertikal eingeschnittene Lücke, die « Berninascharte » Herr H. Cordier, den nun ein früher Tod mitten aus seiner begeisterten alpinen Thätigkeit gerissen hat, schildert uns die erste Besteigung des Pizzo Bianco — er nennt ihn Monte Rosso di Tschierva — im XII. Bande dieses Jahrbuchs und sagt darin auf pag. 131:

« Avant de commencer la descente ( du Pizzo Bianco ), « les guides ( Jean Jaun et Gaspard Maurer de Mei-« ringen ) voulurent éprouver par eux-mêmes l' impossi d' atteindre le Piz Bernina du point où nous nous « trouvions. Ils traversèrent d' abord une arête extrêmement dangereuse, qui bientôt se trouva coupée à pic, « tandis qu' à une cinquantaine de mètres plus loin, la « muraille du Bernina se dressait menaçante et in-« franchissable; ils revinrent alors nous disant que per-« sonne au monde ne pourrait atteindre le Bernina de « ce côté; je crois en effet, que c' est chose absolument « impossible. » Auch Hans Grass, der in Gemeinschaft mit dem Führer Job. Gross ein Jahr darauf oben stand, theilte die Ansicht Herrn Cordiers und seiner Führer.

Ich wünschte nun meinerseits ein Urtheil über den Verlauf des höchsten Berninakammes zu erhalten und forderte Hans und Job.. Gross auf, mit mir den Versuch einer Ueberschreitung zu wagen. Die Führer konnten schon der Standesehre wegen nicht ablehnen, und da sie im Voraus von dem Misslingen überzeugt waren, so erhielt die Unüberwindlichkeit des Grates und der « Berninascharte » eine neue, ihnen sehr willkommene Bestätigung.

In der Frühe des 12. August 1878, gegen 7 Uhr, standen wir auf der Höhe des « Grümello-Sattels », offiziell Fuorcla Prievlusa ( 3452 m ) genannt, in der tiefsten Einsattelung zwischen Piz Morteratsch und und Pizzo Bianco Ein fünfstündiger, in der Nacht begonnener Marsch hatte uns von der im Rosegthal gelegenen Alp Misaun ( 2005 m ) über den Tschierva- firn und die ihn einschliessenden Felsen auf .diesen Punkt geführt. Er bildet einen natürlichen Abschnitt für unsern Weg, weil mit ihm die Höhe des Kammes erreicht wird, der sich als schön gestreckter Schneegrat nach Süden zum Pizzo Bianco aufzieht. Dieser Schneegrat ist eine der charakteristischen Linien der Landschaft, gleich gut sichtbar von Isola Pers, wie von Aguagliouls, giebt aber dem auf der Rosegseite stehenden Beschauer leicht zu dem Irrthum Anlass, als trüge er bereits die höchste Spitze des Bernina. Eine elementare geometrische Betrachtung lässt den Grund davon leicht einsehen.

Die Lage der Fuorcla Prievlusa ist wild und grossartig; die fallenden und steigenden Linien ihrer Umgebung harmoniren bereits mit dem kühnern Bilde, welches die Höhe des Pizzo Bianco aufzurollen bestimmt ist. Der Schneegrat sitzt nicht unmittelbar auf dem « gefährlichen Joch » auf, sondern auf den steilen Felsen, von denen es im Süden ( ebenso wie im Norden ) eingefasst wird. Daher ist anzurathen, zunächst unterhalb der Kammlinie, auf der Morteratschseite herzu-gehen, wo Schnee und Fels miteinander wechseln, und die von Kälte erstarrte Hand des Wanderers blühende Kräuter pflücken kann. So unerwartet durchbricht zuweilen die Natur die festgezogenen Grenzen des Todes, um ihre leblose Schöpfung zu schmücken; und noch dazu mit so einfachen Mitteln! Weil ein Paar Steine ihre Fläche gegen Süden wenden und andere der Eauhheit des Windes wehren, der hier Samen und Staub hinauftrug, thut sich der Boden auf, und zarte Blumen entspriessen seinem harten Schoss. Nach ein- stündigem Klettern betritt man den eigentlichen Schneekamm und verfolgt ihn bis an sein oberes Ende; in Folge von Neigungswechseln zeigt er sich mehrfach gegliedert und an einigen Stellen recht steil; denn schon seine Durchschnittsneigung beträgt, nach der Karte des S.A.C. berechnet, 28°. Nach rechts und links bleibt dem Auge freier Spielraum, in der Wegrichtung benimmt der Schneegrat selbst jede Aussicht, und nicht eher, als bis der Gipfel erreicht ist, erschliesst sich der Anblick des höchsten Berninakammes. Aus den unergründlichen Tiefen des Morteratschfirns zur Linken, des Tschiervafirns zur Rechten steigen die Felsmauern auf, die sich in einem 4000 Meter hoch gelegenen Grat fast haarscharf durchsetzen. Wogende Nebel schwebten über den Gletscherbecken und liessen dem Auge nichts frei als den Blick über den Kamm selbst. Am Ende des Grates erhob sich, schaurig anzusehen, starr in die Lüfte ragend, die Felsenpyramide der höchsten Berninaspitze; zwischen dieser und unserm Standpunkt aber lag ein Stück Weges, das nicht für Menschen bestimmt schien. Anfänglich in geringem Fall gegen Süden laufend, verschwand die Gratlinie plötzlich, indem sie senkrecht zur Scharte sprang und-sich aus dieser wieder zu einer thurmartigen Felsen-bildung erhob, die durch, eine zweite Scharte von der Berninaspitze getrennt war.

Das Bild ist so grausig und überwältigend, dass es einiger Zeit bedarf, bis das aufgeregte und erschreckte Gemüth sich beruhigt hat. In den Anblick dieser ergreifenden Scenerie versunken, vergeblich bemüht, einen Pfad ausfindig zu machen, hörte ich Hans Grass hinter mir sagen: « Jetzt sehen Sie nun selbst, Herr Doktor, dass man da nicht hinüberkommt ». Ich musste an die Beherztheit denken, mit der mein alter Führer nur elf Monate zuvor den Monte Scerscen angegriffen hatte, und so schien die sachliche Unmöglichkeit, nicht Mangel an Muth, seinen Ausspruch zu rechtfertigen. Für die beiden begleitenden Männer war die Umkehr eine ausgemachte Sache; zudem waren sie schon einmal umgekehrt; es kostete ihnen kaum noch einen Kampf. Widersprechen konnte ich ihnen nicht, beistimmen wollte ich ihnen nicht; was blieb übrig, als zu schweigen? Und gerade in dieser passiven Zähigkeit des Schweigens, in dem allmählichen Ueberwinden des ersten schaudervollen Eindrucks, den die hier oben in nie geahnter Grösse entfesselten Schrecknisse des Hochgebirges hervorbrachten, lag das Geheimniss unseres von keiner Seite erwarteten Erfolgs. So verging einige Zeit, scheinbar in Unthätigkeit; sie brachte aber den unschätzbaren Gewinn, uns abzustumpfen. Die ruhige Betrachtung machte es klar, dass der nächstgelegene Theil des Grates noch begangen werden konnte, eine Umkehr auf der Höhe des Pizzo Bianco also nicht gerechtfertigt schien. Sollten wir zu Fall kommen, so durfte uns eine Genugthuung nicht versagt bleiben, nämlich genau festgestellt zu haben, dass die Unternehmung an sich ausserhalb menschlichen Könnens liege; dann stellte sich ihr Verlauf als eine physische, nicht aber als eine moralische Niederlage dar. Bis zu dem Punkte also, der jeder Geschicklichkeit Trotz bot und jeden Willen beugte, mussten wir vordringen. Ich brach das lange Schweigen mit der unwirsch vorge- brachten Frage: Warum kann man hier nicht weiter gehen? und als ich von den zögernden Führern keine genügende Antwort erhielt, setzte ich ihnen meinen Willen auseinander. Dadurch kam wieder Bewegung in die stockende Sache, die Betäubung der Spannkräfte wich, und die bereitwilligen und ergebenen Männer betraten mit mir den Grat. Wir waren entschlossen, den Punkt zu finden, der die Bezwingung der Berninascharte zur Unmöglichkeit machte. Aber wir fanden ihn nicht; das Glück, uns so häufig hold, hatte einen Schleier darüber geworfen.

Ein kurzer Rückblick wird das Eigenthümliche unserer Situation noch schärfer hervortreten lassen.

Neun Stunden waren wir bereits gestiegen, mit grossem Kraftaufwand, so schnell es anging, um möglichst früh den Gipfel des Pizzo Bianco, den Markstein unseres schwierigen Beginnens zu erreichen. Stufen waren fast gar nicht geschlagen worden, zu diesem Zweck hatten wir Steigeisen mitgenommen; auf dem kürzesten Wege waren wir vorgedrungen, theils über Schnee, theils über steilen Fels; das Seil wurde erst auf der Fuorcla prievlusa angelegt, damit möglichst wenig Zeit verloren gehe. Die Pausen waren auf ein Minimum beschränkt worden, keine schwierige Stelle hatte die Stetigkeit unseres Fortschreitens unterbrochen, ein jeder Mann sein Bestes gethan und nicht mit seinen Kräften gespart. Zu der Stimmung, welche die bestimmte Erwartung unbestimmter Gefahren erzeugt, und welche von der wilden, in kalter Morgenbeleuchtung daliegenden Berglandschaft um uns her mit beeinflusst wurde, gesellte sich die Sorge um den Zustand meines alten Hans. Seitdem er acht Tage zuvor den bei einer Berninabesteigung verschollenen Sohn todt geglaubt und ihn fast vierundzwanzig Stunden lang im Schnee und Nebel vergeblich gesucht hatte, war er ein lei-dender Mann. Während unseres nächtlichen Marsches warf er sich mehrmals vor Schwäche und Uebelbefinden auf den Boden und rief: « " Wenn's nicht besser kommt, so ist 's gefehlt ». Derartige Zustände sind furchtbar, weil die Anstrengung des Gehens zu einer unerhörten Qual wird. Auf einer Disgraziabesteigung musste auch ich einst diese Erfahrung machen; Hans selbst war Zeuge. Nun hatten wir die Rollen vertauscht, und wie er damals auf mich gerechnet hatte, so rechnete ich jetzt auf ihn. Seine seltene Energie triumphirte in der That, und wo ein Anderer sich in 's Krankenbett gelegt hätte, schickte er sieb zu seiner gewagtesten Unternehmung an. So standen wir bald nach 10 Uhr auf dem Pizzo Bianco, mit fahlen, verfärbten Gesichtern, anfänglich unsicher und bedrückt, dann entschlossen und zum Handeln bereit.

So weit die jüngste Vergangenheit. Was aber sollte die nächste Zukunft bringen, und worin bestand das Eigenartige des unmittelbar zu beginnenden Wagnisses?

Es kam Mehreres zusammen. Zunächst ist es riskant und schwierig, auf einem scharfen Grat zu gehen, der so verwittert ist, dass jeder Stein der Oberfläche sich abwerfen lässt. Letzteres darf nicht überraschen; denn Lage und Gestalt des Gebirges vereinigen sich hier, um die Verwitterung zu beschleunigen. Die hohe Lage hat zur Folge, dass das einsickernde Thauwasser, welches hauptsächlich von der directen Sonnenstrahlung herrührt, schnell wieder gefriert und der Zerstörung dient; die Gestalt des Berges aber, dem eine im Verhältniss zur Masse ausserordentlich grosse Oberfläche zukommt, sorgt dafür, dass den zerstörenden Kräften möglichst viele Angriffspunkte geboten werden. Unter solchen Umständen ist es doppelt schwer, ja meist unmöglich, auf den Hängen zur Seite Halt zu gewinnen; auch sind sie von unglaublicher Steilheit. Man darf nur die Earte betrachten und zusehen, wie sich die Höhencurven hier aneinander drängen, um die Bestätigung zu finden. Aber schlimmer noch, als diese klar zu Tage tretende Erschwerung, war die Kathlosig-keit über das, was weiterhin geschehen sollte, an der Stelle nämlich, wo der senkrechte Sprung in die Tiefe den Verlauf des Grates verbarg. In Folge einer seitlichen Biegung nach links sahen wir seine Linie unten wieder auftauchen und auf der horizontal ausgebreiteten, zum Morteratschfirn überhängenden Eismasse des Schartengrundes aufsetzen. " Was sollte werden, wenn wir wirklich zu jener grausigen Tiefe gelangen konnten, und der auf der andern Seite aufsteigende « Felsenthurm » die Fortsetzung des verwegenen Marsches unerbittlich hinderte? Dann fehlte vielleicht jeder Ausweg, nach vorwärts sowohl wie nach rückwärts. Dazu kam, dass die Verkürzung, in welcher sich die Gratlinie von unserm Standpunkt aus darstellte, alle Formen noch schroffer, noch wilder und unzugänglicher erscheinen liess, dass die wogenden Nebel und spielenden Wolkenfetzen uns von der übrigen Welt lostrennten, und der Eindruck blieb, als habe die behexte Phan- tasie eines Kobolds diese steinernen Linien durch die Lüfte gezogen.

Um halb elf Uhr verliessen wir den Pizzo Bianco und betraten den Grat: das abgeworfene Gestein stürzte bald nach rechts, bald nach links donnernd in die Tiefe; so näherten wir uns mit äusserster Vorsicht bis auf fünfzig Meter der Stelle, wo der wenig geneigte Kamm zur senkrecht fallenden Felsmauer wird. Wir machten Halt und banden uns vom Seil. Es galt nun einen ersten Versuch. Da Keiner von uns daran glaubte, das wir an dem vertikalen Sprung des Grates, der zur « Berninascharte » führt, würden hinabklettern können, so betrat Hans mit der ihm eigenen Kühnheit die östliche, über dem Morteratschgletscher aufgerichtete Wand, um hier zu traversiren und den Schartengrund in schräg ablaufender Linie zu erreichen. Gross, der oben stand, hielt das Seil, welches sich Hans von Neuem umgeschlungen hatte. Dieser Versuch, von einer Gefährlichkeit, die nicht überboten werden kann, musste schliesslich aufgegeben werden; zu steil fiel der Hang ab, um selbst dem geschicktesten Kletterer, der sich bereits inmitten der Wand befand, weiteren Fortgang zu gestatten; denn dem Gesetz der Schwere sind wir Alle unterworfen. Während dessen sass ich bewegungslos wie eine Bildsäule auf dem losen Gestein des Grates; ich wollte schreiben, aber der Bleistift entfiel der ungelenken Hand, und .strebte in zierlichen Sprüngen der Tiefe zu; nun wagte ich nicht einmal den Tornister vom Rücken zu nehmen, um einen Ersatz für den Verlust hervorzuholen, und schaute bald hinaus auf die Landschaft, um dem Ge- dächtniss ihre Züge einzuprägen, bald auf Hans, der unerschrocken und unbeirrt an der Wand arbeitete, bald auf das freigewordene Gletscherbecken des Tschierva tief unten zu meiner Rechten. In dieser, im eigentlichsten Sinn des Wortes schwindelnden Höhe machte ich von Neuem die Wahrnehmung, dass es absolute Schwindelfreiheit nicht giebt, und dass das, was wir so nennen, nur ein höherer Grad von Widerstandskraft gegen sinnverwirrende Einflüsse ist. Sie machen sich geltend, sobald die vier Hauptbedingungen offene Abgründe, unsicherer Stand, erzwungene Unthätigkeit und langes Verweilen, gleichzeitig vorhanden sind; sie äussern sich nicht im Taumel oder in dem Wunsch, um jeden Preis, also auch um den des freiwilligen Hinunterstürzens, aus der unerträglichen Lage befreit zu werden, aber man fühlt ihre Wirkung, wie wenn ein elektrischer Strom durch das Gehirn ginge.

Als Hans zurückgekehrt war, blieb keine andere Wahl, als direct über den Grat fortzugehen und von der Ecke aus gerade zur Scharte hinabzusteigen. Noch einmal wurde gefragt: « Sollen wir es versuchen? » Doch wer hätte jetzt noch zaudern mögen? Zwar konnten wir selbst von der Ecke aus den Fuss der Scharte nicht sehen, nicht wissen, wie tief es hinunter ging; aber das « Jetzt oder Nie », zu dem sich die Situation zugespitzt hatte, drängte unwiderstehlich zur That. Gross nahm das Seil um den Leib, fing an zu klettern und entschwand unsern Blicken; Hans hielt das Seil, nachdem er sich, so gut es anging, festgemacht hatte. Ich selbst stand frei zwischen beiden Führern, nach vorn übergebeugt, und hörte nur zu- weilen das Poltern der abgeworfenen Trümmer; denn der Fels war sehr schlecht und hielt an keiner Stelle. Endlich kam Gross unten wieder zum Vorschein in der Nähe des überhängenden Eandes der mit Eis ausgekleideten Scharte. Ich rief ihm zu, wenn es irgend anginge, sich -von dem gefährlichen Eand weiter entfernt zu halten, nach der Tschiervaseite zu; er that es und gewann nothdürftigen Halt auf dem Felsen. Die Leistung von Gross war ersten Hanges; seinen Beitrag zum Gelingen unseres Werkes hatte er damit geliefert. Nun kam die Reihe an mich. Gross befreite sich vom Seil, ich befestigte dasselbe um meinen Leib und kletterte senkrecht hinunter; das Gesicht zum Fels gewandt, zwischen den Beinen hindurch den nächsten Tritt erspähend, aber ebenso besorgt, für die Hände einen Halt zu gewinnen. An solchen Stellen empfängt langjährige Uebung ihren Lohn. Er besteht darin, dass uns trotz aller Erregtheit die Selbstbeherrschung erhalten bleibt, dass wir furchtlos verharren, wenn der nächste Schritt zu versagen scheint, und wir, den Fels umarmend, in die bodenlose Tiefe schauen müssen. In diese Lage gerieth ich mehrfach bei der aussergewöhnlichen und glücklich durchgeführten Kletterei. Der Abstieg hatte sechzig Fuss betragen. Uebrigens kam uns Allen ganz unerwarteter Weise der verwitterte Zustand des Gesteins zu Statten; denn einige der durch losgelöste Blöcke entstandenen Lücken bildeten gerade an kritischer Stelle natürliche Stufen, und das Hinabklettern, obwohl noch immer gefährlich genug, war doch nicht in dem Grade furchtbar, wie erwartet werden musste. Nun stand ich neben Gross und sah hinauf, wie Hans sich zu seinem schweren Gange fertig machte; denn die grösste Gefahr nahm der brave Mann auf sich, indem er als Letzter folgte. Er half sich in ähnlicher Weise, wie einst der alte Zermatter Führer Taugwalder und ich es gethan, als wir im Jahr 1868 allein über das Alte Weissthor nach Macugnaga gingen. Ein Seil wurde um den Fels geschlungen, dessen eines Ende Gross hielt, während Hans das andere Ende aufgerollt in die Hand nahm und nach Bedürfniss abspielen liess. So erreichte er uns, und wir standen von Neuem vereinigt, dicht aneinander gedrängt, im Grunde der Berninascharte. Es war 12 Uhr 30 Minuten Mittags.

Wer nicht vorbereitet durch die Schrecknisse der vorangegangenen Stunden, wie wir selbst es waren, uns an dieser Stelle plötzlich hätte erblicken können, würde uns ohne Bedenken zu den Kindern des Verderbens gezählt und zu den Todten geworfen haben. An den Felsensprung der Scharte gelehnt sahen wir hart vor uns den « Felsthurm » aufragen, an dem die Wildheit der Scharte sich nur in umgekehrten Neigungen wiederholt — nicht scheinbar, sondern wirklich unersteigbar; unten rechts thaten sich die Abgründe des Tschiervafirns auf, links hinderte die verrätherische Eisauflagerung des Grates den Blick zur Morteratschseite. Trotzdem glaubten wir an einen Ausweg und fühlten uns der neu geschaffenen Situation gewachsen. Die Führer, stolz auf das Geleistete, hatten ihre ganze Zuversicht wieder, gewonnen, und wir traten bereits so auf, als wären wir gegen den Rest der Tagesarbeit gefeit.

Wir hielten einen Augenblick inne. Der entscheidende Schlag war geführt, unsere Pulse- schlugen höher, die Anstrengung und Erregung hatte unsere Nerven in höchste Spannung versetzt, die Energie unseres Lebensprozesses war verdoppelt; aber auf den verwilderten Gesichtern lag der verklärende Ausdruck der Freude. Das erste Glas Wein, welches wir uns nach vielen Stunden gönnten, war für Hans, der dem verwundeten Krieger gleich die Fahne nicht aus der Hand gelassen hatte. Einer Willensbethätigung, wie er sie heute, in einem leidenden Zustand, unter Zweifeln und drohenden Gefahren, an den Tag gelegt, ist ein gewöhnlicher Mensch nicht fähig; auch er wäre vielleicht unterlegen, aber die rührende Anhänglichkeit, die er mir bewahrt, hielt ihn aufrecht und führte ihn durch die Krisis der Agonie. Welch'grössere Freude also konnte es in diesem erhebenden Augenblick für mich geben, als ihm mit schlichten Worten zu danken und ihm den Becher zu kredenzen?

Es zeigte sich, dass der gigantische « Thurm » an seinem Fusse durch Traversiren längs der zum Tschiervafirn abfallenden Mauer umgangen werden konnte, und hier, an einem der unzugänglichsten Punkte der Erde, deponirten wir, zum Zeichen des ersten Betretens von Menschenfuss, die eben geleerte Flasche, die vielleicht nie zur Hebung gelangen wird. Sie enthält einen roh beschriebenen Zettel mit unsern drei Namen und der Angabe: 12 Uhr 40 Min. 14. ( statt 12. ) August 1878. Mit seinem an Hellsehen grenzenden Instinkt für die Berge hatte Hans schon auf der Höhe des Pizzo Bianco gesagt, dass wenn wir in den Grund der Scharte ge- langen könnten, wir auch weiter kommen würden; der Berninakegel, der so kolossal, so steil, so ungangbar erschien, hatte ihm keine Bedenken eingeflösst. Er hatte Recht. Die Umgehung des « Thurmes » gelang, indem wir 80 Schritt horizontal fortgingen, und nun attaquirten wir die schroff gegen uns abfallende Wand des höchsten Kegels. Dieselbe ist in gleicher Neigung aufgerichtet, wie der letzte Anstieg zur höchsten Scerscenspitze, und pflegt im August und September nur stellenweise Schnee aufzuweisen. Aber der feuchte Sommer des Jahres 1878 batte in der luftigen Region so starke Niederschläge angesammelt, dass die aufragende Fläche völlig weiss erschien. Unsere Arbeit war dadurch bedeutend erschwert, denn statt über Felsen fortzuklimmen, mussten wir uns mühsam den Weg durch losen pulvrigen Schnee bahnen. Der noch zu überwindende Niveauunterschied betrug wahrscheinlich nur 80, höchstens 90 Meter, bei einer Steigung von 60 Grad; es trennte uns also nur noch eine Entfernung von wenig mehr als 100 Metern vom Ziel, aber wir gebrauchten 40 Minuten, um es zu erreichen. So stiegen wir langsam höher und höher. Schon sahen wir hinab auf die Zinnen des « Felsen-thurms », die Scharte lag zu unsern Füssen, und hinter ihr zog sich der Grat zum schimmernden Pizzo Bianco auf. Um 1 Uhr 28 Min. erreichten wir die nördliche Ecke der dachförmig gestalteten Spitze des Piz Bernina, von der entgegengesetzten Seite her, von welcher sie bei gewöhnlichen Besteigungen betreten wird, und hatten eigentlich das Gefühl, als ob wir nun zu Haus angelangt seien. Denn die Stelle war uns vertraut, wir hatten alle bereits darauf gestanden, Hans Grass allein schon vierundvierzig Mal. Unsere Aufgabe war damit gelöst. Am andern Ende der etwa 30 Schritt langen, in der Mitte geknickten weissen Schneide, da wo die meisten Piz Bernina-Besteiger zu verweilen pflegen, ruhten wir aus. Wir hatten 3114 Stunden gebraucht, um den etwa 400 Schritt langen Pfad vom Pizzo Bianco durch die Scharte hindurch zur Berninaspitze zurückzulegen; denn grösser ist die Distanz nicht. Die Schätzungen, welche Hans und ich unabhängig von einander machten, stimmen sowohl unter sich, wie mit den Angaben der Karte des Clubgebiets überein. Die Strecke vom Pizzo Bianco bis zur Ecke der Scharte beträgt 130 Schritt, der Abstieg zur Scharte 40 Schritt, das horizontale Traversiren am Fuss des Thurmes 80 Schritt, der Anstieg zur höchsten Spitze 140-160 Schritt, der Weg über den First 30 Schritt, was in der Horizontalprojektion eine Länge von 270 Metern ergeben würde. Auch die Niveauunterschiede glaube ich ziemlich genau geschätzt zu haben. Pizzo Bianco und die Scharten-ecke sind etwa von gleicher Höhe, weil die dazwischen liegende Kammlinie sattelförmig eingesenkt ist. Von der Ecke zur tiefsten Stelle des Schartengrundes sinkt die Höhe etwa um 25 Meter; die Stelle würde also ungefähr 79 Meter tiefer liegen, als die höchste Berninaspitze, d.h. 3973 Meter hoch. Während jener 3 xk Stunden hatten wir höchstens 20 Minuten gemeinsam gerastet; fast drei Stunden blieben für die Arbeit des Aus-probirens, des Stufenschlagens, des Kletterns und Seil-haltens. Nirgendwo hatte das Auge einen Ruhepunkt gefunden, der Fuss ebensowenig; Gräte, Felshänge, richtungslos treibende Nebel, Zerrissenheit allüberall, das waren die Züge, in denen die Natur sich uns ausschliesslich offenbarte. In so unheimlicher Gestalt war uns die Gefahr noch nie entgegengetreten, so nahe an einen Misserfolg hatten wir noch nie gestreift, und nur der Trotz unserer Vermessenheit hatte das zwischen Möglich und Unmöglich schwankende Zünglein der Wage auf die Seite des Erfolgs gedrückt. Das fühlte Hans sowohl wie ich, und zum ersten Mal kroch etwas wie ein Vorwurf in meiner Seele auf, ob wir nicht doch mehr gewagt hatten, als wir wagen durften. Bei einer Flasche Champagner schüttelten wir die senile Stimmung ab, welche eine gerechte und stolze Freude durch Reflexionen über Erlaubtes und Unerlaubtes im Hochgebirge zu verkümmern suchte, und traten gegen halb drei Uhr Nachmittags den Rückmarsch auf dem kürzesten Wege, d.h. auf der steilen, nach Osten abgesenkten Rippe des Bernina an. Die Nebel wichen, und aus weiter Ferne drangen Rufe zu uns herauf 5 sie entstammten den vereinten Anstrengungen Principe Teano's, des häufigen und muthvollen Gefährten meiner Wanderungen, Lord Lindsay's und M. Wainwright's, die den ganzen Tag mit ihrem Führer auf dem Morteratsch-gletscber zugebracht hatten, in der Hoffnung, uns beobachten zu können. Diese Hoffnung wurde durch die dunstige Beschaffenheit der Atmosphäre allerdings vereitelt; nun aber sandten uns die Freunde, gleich nach dem Gelingen der That, ihre enthusiastisch gespendeten Glückwünsche, als die Wolken sich theilten, und wir, wie drei Phantome, auf dem Grat sichtbar wurden. Die Begehung dieses Grates verlangt bekanntlich Vor- sieht und ist nicht so leicht, wie man glauben möchte, wenn man von den vielen Berninabesteigungen hört. Könnte man dieselben auch sehen, so würde man eine ganz andere Vorstellung erhalten. Zwar ist das Gestein des Ostgrates gut, aber der Fall ist sehr rapide, die Eis- und Schneeauflagerungen erschweren das sichere Klettern.

Wir durften es uns gestatten, schnell abwärts zu steigen, denn wir waren alle drei geübte Männer; so kam es, dass wir trotz einer am Ende des Grates gemachten halbstündigen Pause die Bovalhütte von der Spitze des Piz Bernina aus in 31k Stunden erreichten. Freilich war dies nicht anders zu ermöglichen, als indem wir durch den sogenannten « Gletscherfall » gingen, wie der am meisten'zerklüftete Mittelstrom des oberen Morteratschgletschers genannt wird. Mit Recht ist diese gewaltige Eiscascade gefürchtet, von der sich, namentlich am späten Nachmittag, jeden Augenblick Massen loslösen können. Neun Jahre zuvor ( 1869 ) waren Hans und ich, ebenfalls vom Piz Bernina kommend, mitten in diesen Séracs von einer Eislawine überfallen, in eine hundert Fuss tiefe Gletscherspalte geschleudert und durch die wunderbarste Verkettung von Umständen, und indem wir uns gegenseitig das Leben retteten, aus unserm kalten Grabe befreit worden.Der gleichen Gefahr waren wir nun wieder ausgesetzt, uns ihrer auch vollständig bewusst; aber der Glaube, dass nach den bereits gethanen Thaten uns nichtsSiehe Deutsche Rundschau, Jahrgang III. Heft 9. „ In den Eis- und Schneeregionen der Hochalpen ".

mehr geschehen könne, beherrschte uns fatalistisch. Der Verblendung durch den Erfolg ist der Mensch eben unter allen Verhältnissen ausgesetzt, mag er einen Marschallsstab oder ein einfaches Gletscherbeil in der Hand halten. Der erstarrte Fall, der mit seinen phantastischen Bildungen, seinen überhängenden Eiswänden wie ein lauerndes Ungethüm da lag, konnte jeden Augenblick auf uns losbrechen, uns unter seinen Trümmern begraben. Mit Meisterschaft führte Hans durch die steilen Abstürze, über Brücken, Blöcke und Wände; aber wir gingen doch mit aufgeregter Hast. Zweimal dröhnte es unheimlich von kleinen, lokal gebliebenen Einstürzen; und als wir die Schreckenssphäre kaum verlassen hatten, hörten wir ein lautes Donnern, wie eine warnende Stimme über unsere Missethat.

Um 5 Uhr war alle Gefahr vorüber; fröhlich veranstalteten wir drei Rutschpartieen und betraten mit dem Schlage Sechs die Bovalhütte. Anderthalb Stunden später erreichten wir die Restauration am Fusse des Morteratschgletschers und trafen noch zu guter Stunde in Pontresina ein.

Der Gesammtweg von Alp Misaun zum Pizzo Bianco hinauf, durch die Scharte hindurch und über Piz Bernina hinab bis bis zur Morteratsch-Restauration beanspruchte 18 Stunden und 17 Minuten, die sich so vertheilen:

Marsch. Pausen. Summa.

St. Min. St. Min. St. Min.

Alp Misaun-Pizzo Bianco 7 .30 1 32 9 02 Pizzo Bianco-Piz Bernina ( Scharte ) 2 53 — 20 3 13 Uebertrag 10 23 1 52 12 15 Güssfeldt.

Marsch.

Pausen.

Summa.

St. Min.

St. Min.

Hin.

Uebertrag 10 23 1 52 12 15 Auf Piz Bernina...

— 07 — 50 — 57 Piz Bernina-Boval..

3 05 — 30 3 35 In der Bovalhütte..

20 — 20 Boval-Morteratsch- Restauration...

1 101 10 14 45 3 32 18 17 Die hier gegebene Schilderung möchte ich nur als eine Ergänzung meiner in den Jahrbüchern des S.A.C. niedergelegten Fahrten betrachtet sehen, und dadurch das Lückenhafte derselben, namentlich bezüglich der Terrainbeschreibung, motiviren.

Die Erinnerung an die Vorgänge und Eindrücke, welche mit der Ueberwindung der « Berninascharte » verknüpft sind, zwingt mich, auszusprechen, dass die -voranstehenden Zeilen ihren Zweck verfehlt hätten, wenn sie irgend Jemanden zu einer Wiederholung des Unternehmens veranlassen würden. Es ist genug, dass die Art der Zusammengehörigkeit des Pizzo Bianco und des Piz Bernina einmal festgestellt ist; und es bedarf keines zweiten Unternehmens, um sie von Neuem festzustellen. Zwar wird der nachfolgende Besteiger, nachdem nicht nur die Möglichkeit an sich nachgewiesen, sondern auch der Weg angegeben ist, nur die kleinere Hälfte der Schwierigkeiten kennen lernen, aber diese sind noch immer gross genug, um ihn selbst, wie seine Führer, zu Fall zu bringen. Auch wird ein weit grösserer Zeitaufwand, als der von uns benöthigte, erforderlich sein, selbst wenn das eigentlich schlimme Stück in zwei, statt in drei und einer Viertelstunde, zurückgelegt werden kann, und aller Wahrscheinlichkeit nach würde sich der Abstieg vom Piz Bernina zu einem Nachtmarsch gestalten.

Dagegen erscheint es sehr wünschenswerth, dass der Pizzo Bianco in die Reihe der Pontresiner Hochtouren aufgenommen werde. Er bietet in keiner Weise aussergewöhnliche Schwierigkeiten und rangirt nach dieser Richtung etwa zwischen dem Piz Bernina und Piz Palü. Nur ist der Aufstieg länger. Uns kostete er neun Stunden. Die erste Besteigung erforderte elf und eine halbe Stunde, die zweite, so viel mir bekannt, nicht weniger. Kann man also beim Abstieg nicht rutschen, so ist die Expedition langwierig, länger als irgend eine bei Pontresina, der Monte Rosso di Scerscen ausgenommen. Aber dafür darf nicht vergessen werden, dass die Aussicht vom Pizzo Bianco auf den Piz Bernina an Eigenthümlichkeit und schaudervoller Grösse Alles übertrifft, was wir sonst sehen können. Der Anblick der versinkenden Scharte, des daraus aufsteigenden Felsenthurmes und des ihn überragenden Berninakegels -wird unerreicht bleiben, weil sich zu der Kühnheit der Formen die schwindelnde Höhe ihrer Lage gesellt. Der Besteiger, der sich nach grossartigen Eindrücken sehnt, darf also hier den Lohn seiner Mühe erwarten. Wenn ein Theil der Fernsicht naturgemäss durch den Piz Bernina selbst verdeckt wird, so darf nicht vergessen werden, dass die Fernsicht ein untergeordnetes Moment sehr hoher Berge ist; diese theilen sie mit leichter erreichbaren Höhen; aber die Nahsicht unterscheidet sie davon und giebt ihnen das individuelle 9 Gepräge, welches den Ersteiger so oft in Bewunderung versetzt und zur Begeisterung fortreisst.

Die Reihe der grossen Unternehmungen in diesem Theile der Alpen ist mit der Ueberwindung der Berninascharte und dem Erreichen des Piz Bernina von Norden her zum Abschluss gebracht, und die Kette schliesst sich an-eben dem Punkte, von dem sie einst ausging, auf dem höchsten Gipfel. Eine kurze Spanne Zeit, nur achtundzwanzig Jahre, hat genügt, uns das zu enthüllen, was der vorangegangenen, nach Jahrhunderten zählenden historischen Periode ein furchtbares Geheimniss geblieben war. Aber wer weiss, ob nicht eher als wir es denken die Zeit wieder da sein wird, wo die Berichte unserer Besteigungen wie eben so viele Märchen klingen werden, ob nicht der Geist der alternden und absterbenden Generation mit dieser selbst ins Grab sinkt? Bemühen wir uns, dies zu verhindern; es ist eine Pflicht, auf welche die jetzt ablaufende Epoche der alpinen Entdeckungsgeschichte und die Anzeichen einer ermattenden Theilnahme uns hinweisen. Sprechen wir es aus, dass der Reiz erster Besteigungen zwar ein mächtiger Impuls für die bisher entfaltete Thätigkeit war, dass das Charakteristische unserer Bestrebungen und Leistungen aber nicht in der blossen Befriedigung dieses Reizes zu suchen ist. Unsere höheren Ziele — die subjektiven wie die objektiven — bleiben unberührt davon, ob ein Berg schon vor uns betreten wurde oder nicht; denn dieselben liegen, meiner Ansicht nach, in der Erhebung unserer Seele durch den Anblick einer erhabenen Natur, in der Entwickelung-unserer physischen Kraft und Gewandtheit durch Ueber Berninascharte.31 Windung grosser Schwierigkeiten, in der Entzifferung des gewaltigen Baues der Alpen, in der Erkenntniss der an denselben geknüpften physikalischen und Lebenserscheinungen.

Wenn wir die jüngere Generation sich von diesen Zielen durchdringen lassen, so haben wir dafür gesorgt, dass unsere Freuden auf sie übergehen, und unsere Arbeit von ihr getheilt und fortgesetzt wird.

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