Ein Besuch beim „Grattier | Club Alpino Svizzero CAS
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Ein Besuch beim „Grattier

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Der klare Sternenhimmel einer erst wenige Stunden alten Aprilnacht schaute auf zwei rätselhafte dunkle Gestalten herab, welche schlaftrunken, aber stetig, auf der Sohle des Welschtobels vor sich hin stolperten. Oft tappte ihr Fuß irrend in der Luft, wie der eines Betrunkenen, oder stieß sich am hartgefrornen Schnee, weil dieser dem Auge eine Ebene vorlog, wo, bei Tage besehen, Hügel mit Thälern abwechselten. Die Silhouette dieser beiden stummen Wanderer mußte besonders durch ein gewisses Etwas, das jedem wie ein riesiger Höcker auf dem Rücken saß, auffallen. Auch zog der eine geheimnisvoll zwei lange Dinger hinter sich her, die nicht aufhörten, mit klirrendem, schlurpendem Geräusch die tiefe Stille der Nacht zu unterbrechen, was das Unheimliche der Erscheinung entschieden erhöhen mußte.

Um es kurz zu sagen: es waren mein Freund St., mit Photographie-kasten und Ski bewaffnet, und ich selbst mit den gleichen Anhängseln, nur daß ich „ kanadische " trug und sie auf dem Rücken festgeschnallt hatte. Zweck dieser Nachtwanderung: Gemsen zu photographierenManchmal bewegten sich die dunkeln Tannen zu beiden Seiten, als steckten sie ihre Köpfe zusammen, oder im tiefsten Waldesinnern, zwischen den einzelnen Stämmen hindurch, vor uns, hinter uns — überall schienen spottfrohe Kobolde zu kichern. Phantastisch verkrüppelte Föhren schnitten uns höhnische Fratzen, und gut war 's, daß der Mond nicht schien, sonst hätten uns die eigenen Schatten Nasen gedreht.

Doch setzten wir unsern Weg mit dem fröhlichen Eifer fort, welcher nicht selten solch närrische Unternehmungen zu einem gewissen Ziele gelangen läßt.

Als gutes Omen erglänzte der Himmel im herrlichsten Sternengefunkel, wie es nur eine Winternacht und in dieser Klarheit jedenfalls nur eine Winternacht im Hochgebirge hervorbringen kann. Zu den bekannten Gestirnsgrößen von hohem und allerhöchstem Rang hatte sich eine erstaunliche Menge sonst unsichtbaren, mindern Gelichters gesellt, so daß einem Sterngucker, wie meinem Freunde, das Herz vor Freude im Alla breve-Takt schlagen mußte. Mich interessierte am meisten ein schönes Doppelgestirn, welches sich eben hinterm Guggernüll zu verschwinden anschickte; darum nämlich, weil man sich am wenigsten den Hals dabei zu verdrehen brauchte.

„ Unzertrennlich wie das Dioskurenpaar ", dachte ich laut. „ Und heißen auch sobemerkte mein gelehrterer Gefährte mit einem gering-schätzigen Achselzucken, das aber in der Dunkelheit viel von seiner Wirkung verlor. Ihm war bekannt, daß ich es nie weit gebracht hatte in der Kunst des Entzifferns all dieser Zusamraensetzspielfiguren, welche sich die Phantasie am Pappdeckel von Himmel angeklebt denkt, als da sind: Zwillinge, Einhörner, Drachen, Jungfrauen und andere Ungeheuer. Menschliche Namen und Klassfikationen verderben mir den Anblick des Sternenhimmels, dieses erhabenen Getümmels der Welten und Sonnen, ohne Namen im All, ohne Kegel im Ursystem, ohne Raum in der Unendlichkeit, ohne Zeit in der Ewigkeit — Schauer dringen auf mich ein, wenn ich lange nach oben schaue, mein Blick verliert sich in den unermeßlichen Tiefen des Himmelsgewölbes, meine Gedanken fliegen von Stern zu Stern — eine Ahnung, ein Hauch der Gottheit überkommt michRrrritsch — bumsverschwunden war mein irdischer Castor, und nur die Ski warteten geduldig wie Hündchen neben mir an zerrissener Schnur. Ein vom Himmel gefallener Stern hätte sich nicht ver-wunderter umsehen können, als ich, nachdem mich das Geräusch aus meinen himmlischen Träumereien heruntergepflilckt hatte. Aber Castor war und blieb verschwunden.

Stöhnend echote es endlich aus dämmerigen Tiefen herauf: „ puh, ich glaube, ich stehe in der Plessur !" und bald nachher krabbelte denn auch der Abhandengekommene den unsichtbaren, tückischen Trichter zu meinen Füßen heran. Was da wie ein schwarzes Loch gähnte, war allerdings ein Stückchen Plessur, seicht und harmlos zwar, daß man kaum eine Katze drin hätte ersäufen können, und in nichts dem schäumenden, sprudelnden Wildbach ähnlich, der hier im Sommer keck über Felsblöcke setzt. Doch hörte mein Begleiter im Weitergehen nicht auf, vor sich hin zu brummen, und ich vermute, er habe dem stillen Wässerlein ein nicht gerade „ schmückendes " Epitheton angehängt.

So ging 's weiter im Schlendrian, am letzten Baum und letzten Gestrüpp vorbei, bis das Thal sich allmählich verengt hatte und nun die Zeit zum Aufstieg gekommen war.

Über langgestreckte Schnee- und Geröllhalden zuerst. Schon strich der Nachtwind kühler, verheißungsvoller von den Höhen herab, und beim ersten Tasten, Stolpern und Aufwärtskrabbeln im Fels fing auch schon die himmlische Farbenouverture an, zu Ehren des werdenden Tages ihren ganzen Tonreichtum zu entfalten. Hellblau, graugrün, grüngelb, orange, rosa dämmerte es hinter unserm Rücken herauf und verschwamm wieder ineinander, während wir bergwärts strebten, das Auge fest ans graue Gestein geheftet. Als aber auch schon zu unsern Häuptern die Purpur-lichter angesteckt wurden, als das sanfte Leuchten und Flimmern in den Lüften einer brennenden Glut Platz machte, da war keine Zeit mehr zu verlieren.

Schon an mehreren Tagen zuvor hatten wir ein starkes Rudel Gemsen beobachtet, das jedesmal in derselben Richtung geflohen war, so daß sich mit einiger Sicherheit annehmen ließ, der scheuen Tiere gewohnter Zufluchtsort befinde sich da oben in dem Felslabyrinth, in dessen Irrgänge wir soeben den Fuß gesetzt hatten. Unsere Absicht war nun vor Sonnenaufgang eine dominierende Höhe zu gewinnen, die „ Tieren nach einigen schneefreien Rasenhügelchen im Thal, ihren Weideplätzen, abziehen zu lassen und dann erst bei ihrer Rückkehr unter günstigeren Umständen, d.h. gegen den Wind, anzuschleichen. Das war alles schön ausgeklügelt und über die Haut des Bären — in diesem speciellen Falle das Konterfei der Gemse — wie nicht anders zu erwarten stand, längst verfügt. Es galt nun, die Tiere vor den Apparat zu postieren, dann „ bitte, recht freundlich " mit dem üblichen süßen Photographenlächeln zu rufen und — doch das weitere würde sich finden. Allein schon die erste Nummer dieses Programms, der Sonnenaufgang, fand viel zu frühzeitig statt, ehe wir nur unsere Plätze eingenommen hatten. Nach guter Schweizerart verlegten wir uns aufs Reklamieren, allein es half bei dieser eigensinnigen Graubündner Sonne nicht die Bohne. Als einziger Entschuldigungsgrund mochte gelten, daß sie ( feminini generis ) so neugierig war auf unser Vorhaben, daß sie es sich nicht versagen konnte, ein wenig hinter ihren Bettvorhängen hervorzublinzeln. Freilich — die Apparate drückten auch gar so schwer auf die Schultern, der Berg war gar so steil und felsig und hoch; tief unten im Thal erschien der elefantengroße Felsblock, unter dem wir unsere Schneeschuhe verborgen hatten, nur mehr so winzig, wie ein Gletscherfloh, während sich noch immer über uns Wand an Wand, Klippe an Klippe türmten. Und dazu kein Schwänzchen von etwas Lebendigem zu sehen weit und breit! Ich weiß nicht, wie es kam, aber als nun das volle Tageslicht so in die hintersten Winkel unseres Planes leuchtete, mußten wir beide aus vollem Halse lachen.

Da horch — still! Ei der Tausend, da steht ja so'n Beest! In leichtem Galopp, die letzten Schritte nur mehr zögernd, kam es heran, ein zottiger Bock im schönsten Winterschmuck. Die Hörner waren stark geschweift und abstehend, der Pelz glänzte im dunkelsten Braun und Schwarz, nur am Hals und am Kopf schimmerte es silberweiß hervor.

Wer verblüffter war ob des ungewohnten Anblicks, die Zwei- oder der Vierbeiner — ich weiß es nicht. Was wir aber echt Sonntagsjäger- mäßig durch laute Ausrufe kundgaben, drückte jener durch andere Mittel aus: bolzgerade standen die langen schwarzen Rückenborsten, welche bei diesen Tieren im Winter eine eigentliche Mähne bilden. Dazu hatte er sein ganzes Gebiß entblößt und streckte die Lippen weit vor. Besonders die Oberlippe bewegte sich in eigentümlicher Weise, was ihm im Verein mit den weit geöffneten Nüstern, den blitzenden Augen, dem gestreckten Hals und den gespannt lauschenden Ohren ein kühnes, ja wildes Aussehen verlieh, welches gar wenig mit dem jener sanften Ziegen auf den Emblemen des S.A.C. zu vergleichen war. Es ließ sich alles-genau betrachten, denn der Bock war direkt auf uns zugesprungen und stand nun zehn Schritte vor uns auf erhöhtem Piédestal wie aus Erz gegossen, mit schroffen Zacken und weißen Firnen zum Hintergrund — ein prächtiges Bild!

Fieberhaft arbeiteten wir an unsern Apparaten herum, nur noch wenige Sekunden, und das Tier war im Kästchen gefangen. Allein ich hatte nicht mit der bekannten Vischerschen „ Tücke des Objekts " gerechnet. Diesmal war 's ein kleines Glassplitterchen, das sich höchst un-nötiger- und niederträchtigerweise an einem heikein Ort festgeklemmt hatte und trotz alles Schtittelns und Rütteins, ja trotz aller Verwünschungen nicht nachgeben wollte. Wie zum Hohn blieb der Bock noch einige Zeit auf seinem Felsblock stehen und verschwand dann mit kurzem Galopp aus unserm Gesichtskreis. Und wie zum Hohn zeigte sich an derselben Stelle, wo das erste erschienen war, ein zweites Tier und folgte nach kurzem Besinnen seinem Kameraden. Sollte nun, da wir infolge dieses dummen Splitters unthätig zusehen mußten, die ganze Herde an uns vorbeidefilieren? Aber es kam nichts mehr, und wir blieben mit unserm Ärger allein.

Der Rest ist bald erzählt.

Behutsam spähten wir vom Rand der äußersten Felsrippe die jenseitige Gegend ab. Ein weiter Cirkus that sich da mit einemmal vor den Blicken auf; längs der gegenüberliegenden Wand führte eine starke Fährte zu überhängenden Felsen hin, den Nachtquartieren, und dort, ja dort wanderte ja die ganze Herde abwärts. Eben stieß die zweiköpfige Patrouille, welche zur Rekognoscierung auf unsere Seite herübergesandt worden war, in großem Bogen wieder zu den übrigen zurück, so daß nun das ganze Rudel die stattliche Zahl von 21 Tieren aufwies. Noch war jetzt vielleicht nicht alles verloren, aber es hieß geduldig warten; denn vor 6—7 Stunden kamen sie kaum zurück, und vorher war jede Annäherung unmöglich, weil sie sich stets auf der Thalsohle aufhielten und von dort aus auf einige Kilometer in der Runde einen freien Überblick auf Schneefelder hatten. Aber trotzdem verließ sie ihre Wachsamkeit keinen Augenblick, und interessant war es, zu beobachten, wie sie sich auf dem Schnee fortbewegten. Der Anführer ging voraus, blieb stehen, witterte, galoppierte weiter, blieb wieder stehen, und erst wenn er so auf dem jenseitigen apern Fleck angelangt war, folgten die andern einzeln oder zu zweien ebenso vorsichtig nach. Dort auf dem Rasen waren sie in dieser Entfernung fast nicht von der Farbe des Bodens zu Ein Besuch beim „ Grattier ".

unterscheiden, dagegen konnte man auf dem Schnee deutlich erkennen, wie plump im allgemeinen ihre Bewegungen aussahen, mochten sie nun gehen, spielen oder in tollen Sprüngen herumjagen. Weicher Schnee und der zottige Winterpelz mögen das Ihrige dazu beigetragen haben, aber erst später auf der Flucht verlor sich das Unschöne in der Gestalt, erst als jeder Muskel gestrafft und die ganze Sinnesthätigkeit auf einen Punkt konzentriert war, machten die Tiere ihrem Ruf von der Zierlichkeit und Eleganz der Bewegungen Ehre.

Die langen Stunden verrannen nur langsam; wir verbrachten sie beobachtend, lesend, ja sogar zu einem Vormittagsschläfchen reichten sie hin. Da wir auch inzwischen eine halbe Stunde näher herangerückt waren, so postierten wir uns beim ersten Anzeichen von der Rückkehr der Herde, Castor im Fels, ich ein gutes Stück weiter unten, auf dem Bauch liegend, hinter eine Deckung, den Apparat, der sich inzwischen wieder eines Bessern besonnen und den Streik aufgegeben hatte, schußbereit in den Händen. Die Sonne brannte heiß auf den Rücken, eine Stunde verging, mehr noch, und noch immer zeigte sich nichts. Allein Castor machte die verabredeten Zeichen, und so harrte ich in meiner unbequemen Lage aus.

Endlich erschienen zwei Hörnchen, ein Kopf, ein Hals über dem Boden, und bald stieg die ganze Herde lautlos gegen mich heran. Wahr- scheinlich wäre sie noch näher gekommen, aber voll Ungeduld sprang ich auf, und in dem Moment, wo das Rudel durchbrennen wollte und nur die Leitgeiß ruhig dastand, machte ich die erste Aufnahme. Nun ging 's in Carriere über Geröll, Latschen und Schnee; noch einen Augenblick hielt die ganze Bande wie auf Kommando lauschend still, dann aber im Hui auf und davon — und ward nicht mehr gesehen.

Spuren im weichen Schnee von 3 bis 4 Meter Weite zeugten von der großen Sprungkraft der Flüchtlinge, aber auf dem Fels verloren sie sich und ließen uns über die eingeschlagene Richtung im Ungewissen.

Wir eilten thalabwärts, schnallten die Schneeschuhe an und zogen davon, nicht ohne einmal noch einen Blick auf die verlassenen Höhen zu werfen. Da oben auf der höchsten Klippe bewegten sich einige dunkle Punkte hin und her — wahrhaftig, es war die ganze Sippschaft, welche auf einem enormen, für menschliche Füße stundenlangen Umweg in wenigen Minuten zu ihrem alten Zufluchtsort heimgekehrt war. Nun saßen sie da auf ihrer Klippe, wie auf der Bank der Spötter, und sahen offenbar äußerst befriedigt unserm Abzug zu.

Na, ihr könnt meinetwegen lachen! Wenn das greifbare Resultat des Tages auch gering war, so hatten wir doch einen eigenartigen Blick in das Tierleben gethan, der alle Mühen entschädigte.

Ja, wenn der Glassplitter nicht gewesen wäreC. Egger ( Sektion Davos ).

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