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Eine Besteigung des Finsteraarhorns

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Eine Besteigung des Finsteraarhorns

VON WERNER GÜLLER, FREIBURG I. BR.

Mit 1 Bild ( li )

150 Jahre liegen zurück, seitdem die formschöne Pyramide des Finsteraarhorns, die sich aus den Eismeeren des Finsteraar- und Fieschergletschers zur felsigen Zinne emportürmt, zum ersten Male erstiegen wurde. Mit grosser Kühnheit und aus Liebe zu naturwissenschaftlichen Forschungen drangen die Gebrüder Joh. Rudolf und Hieronymus Meyer aus Aarau in die Gletscherwelt des Berner Hochgebirges ein und bestiegen, begleitet von zwei Walliser Gemsjägern, 1811 erstmals den Gipfel der Jungfrau. Mitte August des darauffolgenden Jahres ( 1812 ) rückte Dr. Rudolf Meyer, in Gemeinschaft mit den Walliser Führern Alois Volker und Joseph Bortis, dem Oberhasler Kaspar Huber und Arnold Abbühl von Melchtal ( Unterwaiden ) von der Grimsel über Oberalp—Oberaarjoch dem Finsteraarhorn zu Leibe. Im Bereich der Gemslücke ( zwischen Finsteraarrothorn und dem Grataufschwung zum Finsteraarhorngipfel ) wurde in einem notdürftig hergerichteten Lager übernachtet. Tags darauf stiegen die fünf Männer zum Studerfirn ab und nahmen von dieser Seite das Erklettern des Hornes über eine sehr steile, scheinbar endlose Schnee- und Eishalde, bei der sie stellenweise in den Fels ausweichen konnten, in Angriff. Unter grösster Anstrengung erklommen sie den Grat, der zur höchsten Zinne hinaufreicht. Auf einem schmalen Schneesattel, ( etwa 4175 m ), blieb Dr. Meyer infolge Erschöpfung mit Kaspar Huber zurück. Abbühl und die beiden Walliser Volker und Bortis dagegen setzten in dreistündiger harter Arbeit die ausgesetzte Kletterei zum Gipfel fort. Hier befestigten sie zum Zeichen des Erfolges eine Fahne. Nach der Wiedervereinigung mit den Zurückgebliebenen stieg man über die Westseite des Berges zum Fieschergletscher hinunter. Tags darauf gelangten die Gletscherwanderer über die Grünhornlücke zum Aletschfirn, Märjelensee und zur Märjelenalp.

1829 erfolgte die zweite Besteigung des Horns und zwar durch Jakob Leuthold und Johannes Währen, die Bergführer des verdienstvollen Naturforschers Fr. Jos. Hugi, aus Solothurn, auf der heute gebräuchlichen Route über die Westseite und den nach Prof. Hugi benannten Sattel. ( Hugi selbst musste infolge eines verschlimmerten Fussleidens kurz unterhalb des Gipfels zurückbleiben ).

Nochmals verflossen 13, dann 15 Jahre, ehe die höchste Zinne des Finsteraarhorns erneut von einem Sterblichen betreten wurde. Erst von 1857 an mehrten sich die Besteigungen infolge eines erwachten Triebes zur Erklimmung der höchsten Bergspitzen.

Doch möchte ich nicht länger bei der Ersteigungsgeschichte verweilen und meine eigenen Eindrücke schildern, die mir eine Bergfahrt im niederschlagsreichen Sommer 1956 zu diesem einzig schönen, stolzen Schnee- und Felsriesen vermittelte. Hatte ich schon an einem klaren und windstillen Septembertage des Jahres 1953 mit Bergführer Karl Schlunegger von Jungfraujoch aus das Finsteraarhorn bestiegen, so geschah es dieses Mal führerlos mit einem Kameraden aus meiner Heimatstadt, Ulrich Wiehert.

Um eine Besserung des Wetters abzuwarten, stationierten wir im Berghotel « Jungfrau » am Eggishorn ( 2200 m ) und unternahmen zunächst nur kleinere Ausflüge. Nach einigen Tagen konnten wir die geplante Hochtour in Angriff nehmen und wanderten zum Märjelensee auf einem gut angelegten Weg mit eindrucksvollen Tiefblicken auf den wild zerrissenen Fieschergletscher, der sich gleich einem urzeitlichen, zu Eis erstarrten Riesenlindwurm zwischen jähen Felsabstürzen dem Tale entgegen-wälzt. Am Rande des Grossen Aletschgletschers gelegen wies der Märjelensee mit seiner tiefblauen Färbung und den darauf schwimmenden Eisblöcken, die vom Gletscher abgestossen wurden, damals noch arktischen Charakter auf und trug zur Belebung des Landschaftsbildes in hohem Grade bei. Durch den starken Rückgang des Gletschers und die dadurch verminderte Stauwirkung ist der See seit 1957 bis auf einige kleine Reste, die mit dem Eisstrom nicht mehr im Zusammenhang stehen, verschwunden. Vor Jahrzehnten besass er mitunter eine solche Ausdehnung, dass seine Wassermassen eine Überschwemmung zu verursachen drohten, und ein künstlicher, unterirdischer Stollen nach dem Fiescherbach seinen Ausfluss regeln musste.

In der Nähe des Märjelensees stiegen wir über glattgeschliffenes, mit Geröll durchsetztes Gestein zum Gletscher hinab. Diesen überquerten wir bis zur Mittelmoräne, da in ihrer Umgebung der Eisstrom am wenigsten zerklüftet ist und ein rasches Vorwärtskommen ermöglicht. Der Marsch zum Concordiaplatz führte trotzdem stellenweise an tiefen Spalten vorbei, die zu häufigem Ausweichen nach der einen oder anderen Seite zwangen. Stellenweise rauschten muntere, grünlichblau schillernde Gletscherbäche über das Eis dahin. Unseren Blicken bot sich sogar das seltene Phänomen einer mächtigen, etwa 5 m hohen Springfontäne, deren Sprühregen im Glanz der Sonne ein wundervolles Farbenspiel bot. Den Hintergrund beherrschte das Massiv der Jungfrau mit ihrem reich gestuften Ostgrate. Unterhalb des Concordiaplatzes lag auf dem Gletscher bereits Neuschnee. Daher legten wir das Seil an, mussten uns jedoch durch sorgfältiges Sondieren mit dem Pickel vorwärtstasten, da zahlreiche Spalten durch trügerische Schneebrücken verdeckt waren. In steilerem Anstieg gelangten wir zur Grünhornlücke ( 3289 m ).

In seiner ganzen Wucht und Grösse hatten wir das Finsteraarhorn vor Augen, das gleich einer unnahbaren Gralsburg gegen den Himmel ragt. Die jähen Abstürze schienen im Schmuck des rosa-schimmernden Hochfirns geradezu überirdisch verklärt. Nicht weniger ergreifend war der Rückblick zur gewaltigen, in zartem Alpenglühen aufleuchtenden Eisburg des Aletschhorns. Doch verblieb uns nicht die Zeit, die einzigartige Sprache dieser stummen Meister lange zu belauschen. Schweigsam und beschleunigten Schrittes stiegen wir zum Fieschergletscher hinab, um vor Einbruch der Dunkelheit in der Finsteraarhornhütte Geborgenheit zu finden.

Am darauffolgenden, wolkenlosen Morgen unternahmen wir die Gipfelbesteigung. Zunächst über leichten Fels, dann über steile Firnhänge - der hartgefrorene Schnee veranlasste uns, die Steigeisen zu verwenden - erklommen wir in sehr langsamem, gleichmässigem Schritt den Hugisattel ( 4089 m ). Hier rasteten wir nur allzu lange und bewunderten die grossartige Fernsicht im Süden, wo über den Walliser Fiescherhörnern die weissen Majestäten der Walliser Eiswelt: Monte Rosa, Dom, Matterhorn, Weisshorn, Grand Combin sich klar und scharf gegen den tiefblauen Himmel abzeichneten. Auf der gegenüberliegenden Seite zeigten sich über schwindelerregende Abgründe hinweg der firnbedeckte Finsteraar-, der ausgeaperte, schuttbeladene Lauteraargletscher sowie das Stau-seengebiet der Grimsel, überragt von dem gletscherreichen Massiv der Dammastöcke und der Schneekuppel des Galenstockes. Mit packender Wucht erheben sich im Vordergrund die Gestalten des Schreckhorns und Lauteraarhorns, die in ihrer bizarren, abweisenden Formgebung an die Zyklopen des Hochdauphinés erinnern.

Der vom Hugisattel zur höchsten Spitze emporführende, ausgezeichnet gestufte Grat war reichlich mit teilweise festem Schnee bedeckt. Zur Vorsicht behielten wir deshalb die Steigeisen an den Füssen. Mit Seilsicherung erkletterten wir bald auf der scharfen, von gähnenden Abgründen eingefassten Gratkante, bald durch Ausweichen in die Südwestflanke den Gipfel des Finsteraarhorns ( 4275 m ), der an jenem Tage mit einer eindrucksvollen, nach Nordost überhängenden Wächte versehen war.

Bei der Ankunft auf dieser hohen Warte überkam uns das Gefühl der Erhabenheit über alles irdische Tun und Treiben, wie ich es ausserdem nur auf dem Mont-Blanc erlebt hatte. Tief unter uns einige Häuser von Grindelwald am Fusse grüner Triften, sowie das malerische oberhalb Fiesch im Rhonetal gelegene Ernen. In klassischem Ebenmass überragt das Dreigestirn Jungfrau - Mönch -Eiger den Kamm der reichvergletscherten Grindelwalder Fiescherhörner, während über dem zierlichen Firnhaupt des Aletschhorns aus weiter Ferne der Weisse Berg grüsste. Ostwärts schweifte der Blick über zahllose Gebirgszüge zum massigen Felsstock des Tödi und zur entlegenen Berninagruppe.

Die Betrachtung dieser gewaltigen Hochgebirgswelt drängte unwillkürlich zu einem Vergleich mit dem Panorama vom Jungfraugipfel, das sich ein Jahr früher mir geoffenbart hatte. Im ganzen zeigt dasjenige vom Finsteraarhorn aus infolge der zentralen, überragenden Stellung des Berges inmitten von riesigen Gletschern und gewaltigen Kämmen eine schauerliche, das Gemüt tief ergreifende Erhabenheit und eine Grossartigkeit der Wildnis. Die Aussicht von der Jungfrau aus zeigt dagegen mehr Ruhe und Ausgeglichenheit in der Gruppierung der Gipfelformen und Eistäler. Im Osten und Süden beherrscht die grosse Linie der Hochgebirgsarchitektur, der Adel der Bergformen das Gesichtsfeld. Einen Glanzpunkt bildet das majestätische Finsteraarhorn und das in schmuckem Firnkleid prangende Aletschhorn, ein von wenigen Felsriffen durchzogener Eisdom. Ein endloses Gipfelmeer dehnt sich im Südwesten bis zu den fernen Savoyeralpen mit dem beherrschenden Mont-Blanc-Massiv aus. Dadurch, dass die Jungfrau sich am nördlichen Rande des Berner Hochlandes erhebt, öffnet sich dem Blick nach Norden ein Landschaftsbild von wohltuender Harmonie, ein Landschaftsbild, das durch die Föhnstimmung am Tage unserer Jungfraubesteigung in sehr markanter, beinahe phantasievoller Farbtönung zu unseren Füssen lag: Das tief eingeschnittene Tal der Zweilütschinen, dunkle Laub- und Nadelwaldungen, saftig grüne Matten der Vorberge und der zwischen Vorbergen sich friedlich ausbreitende Thunersee: Jenseits der fruchtbaren Gefilde des Alpenvorlandes liessen sich im fernen Dunst die Umrisse der Schwarzwaldberge erahnen.

Die auf beiden Gipfeln gewonnenen Eindrücke hinterliessen mir ein Gesamtbild von erhabener Majestät und wunderbarer Herrlichkeit - Allzu früh mussten wir vom Gipfel des Finsteraarhorns Abschied nehmen.

Während unseres Abstieges über den Grat verschlechterte sich das Wetter. Als wir beim Hugisattel die Felszone verlassen hatten, jagten bereits unheilverkündende Gewitterwolken um unseren Berg, hüllten den Gipfel ein, gaben ihn kurz darauf wieder frei. ( Über dem Wallis entluden sich um jene Zeit schwere Unwetter. ) Uns bot sich ein schauerlich schönes Naturschauspiel, mit abenteuerlichen Beleuchtungen. Für kurze Zeit konnten wir wie eine Fata Morgana die Konturen des Dom-gipfels durch eine Lichtung der Wolkenbälle erkennen. Im knietiefen Schnee - er war von der sengenden Mittagssonne aufgeweicht - eilten wir zur Finsteraarhornhütte hinab, die wir zwar bei einsetzendem Regen, doch vor Ausbruch eines heftigen Gewitters erreichten. Dieses hielt die ganze Nacht über an und hatte starken Schneefall zur Folge.

In Anbetracht des Neuschnees, der alle Spuren zur Grünhornlücke verdeckt hatte, und des dichten Nebels wäre uns unmöglich gewesen, den Übergang zum Aletschgletscher zu finden. Jedoch hatten wir Gelegenheit, uns Bergführer Volken anzuschliessen, der mit seinem Touristen, Dr. Theodor Müller aus Basel, den interessanten, aber nicht leichten, unmittelbaren Abstieg zum Rhonetal über den Fieschergletscher ausführte. Dieser Eisstrom ist heutzutage so stark zerklüftet und von Abbruchen durchsetzt, dass seine Begehung nur an einigen Stellen möglich ist. Deswegen muss er meist durch ein Ausweichen in den Fels- oder Moränenbereich des rechten Ufers umgangen werden.

Bei dichtem Nebel verliessen wir das schmucke Berghaus und überquerten diagonal den mit frischem Pulverschnee bedeckten Gletscher, ständig die Schneeunterlage auf ihre Tragfähigkeit prüfend. Über Felshalden und Grastriften stiegen wir dem rechten Ufer entlang abwärts. Inzwischen klarte das Wetter mehr und mehr auf. Für wenige Minuten gaben die Wolken den Blick zum Finsteraarhorn frei, um dessen Gipfelgrat mächtige Schneefahnen wehten. Erneut legten wir ein Stück Weges auf dem aperen Gletscher zurück, schon weit unterhalb der Neuschneegrenze. Bald darauf mussten wir einen Eiskatarakt durch mehrmaliges Abseilen überwinden. Für diesen Zweck schlug der Bergführer einen etwa tischgrossen « Pilz » aus dem Gletschereis. Um diesen wurde das Seil geschlungen und jeder einzelne von uns im Schenkelsitz langsam hinuntergesichert. Als gefährlichster Teil der Strecke erwies sich ein gewaltiger Gegenanstieg über eine sehr steile, mit haltlosem Gestein durchsetzte Moräne. Während der Führer mit dem Pickel an besonders heiklen Stellen Tritte in den harten Sand einritzte, ermahnte uns Dr. Müller immer wieder, nicht an den Steinen zu ziehen, sondern uns nur vorsichtig zu stützen. Ein Ausgleiten hätte in diesem exponierten Gelände schlimme Folgen gehabt. Wir atmeten erleichtert auf, als wir nach der Biegung um eine Felskanzel den Fuss auf einen Rasenstreifen setzen konnten, der sich hoch über dem Gletscher entlangzieht und beiderseits von schroffem Felsgehänge begleitet ist. Eine bunte Mannigfaltigkeit der Alpenflora erfreute das Auge auf der schmalen Grastrift, als wir, noch immer angeseilt, unsere Schritte zum Becken eines vor Jahren durchgebrochenen Sees lenkten. Der weitere Abstieg führte in einem geröllreichen, jedoch wasserarmen Bachbett wieder zum Gletscher hinab. Kurz bevor wir ihn endgültig verliessen, fesselte noch ein prächtiger, mannshoher Gletschertisch unsere Blicke. Auf steinigem Pfad wanderten wir zwischen Grünerlenbüschen und knorrigem Birkengehölz hindurch dem Tale zu. Gegen Abend erreichten wir Fiesch. Uns alle erfüllte das beglückende Gefühl, eine abwechslungsreiche und höchst eindrucksvolle Bergfahrt erlebt zu haben, die sich unvergesslich unserer Erinnerung einprägte.

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