Eine Gletscher- und Felsenfahrt vom Roththal zum Schmadribach | Club Alpino Svizzero CAS
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Eine Gletscher- und Felsenfahrt vom Roththal zum Schmadribach

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Schmadribach.

Das Roththal ist bekanntlich ein sehr beliebtes Exkursionsziel, und seitdem der neue Felsenweg zur Jungfrauspitze gefunden ist, nimmt wohl der größere Teil der Jungfraubesteiger in der vom S.A.C. 1892 erworbenen geräumigen Clubhütte Quartier, um morgens früh den Aufstieg anzutreten. Doch der eigenartige Gletscherkessel des Roththals ist es auch wert, um seiner selbst willen aufgesucht zu werden. Die Aussicht, welche sich von Stufensteinalp an entfaltet, ist wirklich schön, und sehr verführerisch winkt das im Sonnenglanz sich ausbreitende Gebiet des Tschingelgletschers zum Roththal herüber, unwiderstehlich zu der angenehmen und genußvollen Tour auf den Petersgrat einladend. Auch die Flora da oben ist sehr hübsch; wer im Sommer hingeht, wird den Farbenteppich bewundern, in den sich das sonst etwas eintönige „ Magd " ob der Bärenfluh reizend kleidet. Verfasser hat denn auch das Roththal schon öfter aufgesucht, und nicht bloß als Station der Jungfrautour, sondern als Ziel einer leichtern Tagestour von Lauterbrunnen aus, sogar schon im Winter ( 15. November ). So haben wir uns denn auch einmal — mein junger Neffe stud.h.um. Hans J. und ich — am 25. Juli 1893 morgens 3 Uhr von Lauterbrunnen aufgemacht, Sack am Rücken, und sind nach Sichellauinen marschiert, wo der bekannte „ Schafpeter ", Peter von Almen, auf uns wartete, um uns als Führer zu dienen.

Um 9 Uhr war die Roththalhütte erreicht; es wurde abgekocht, geruht, die Aussicht genossen bis 11 Uhr. Nun aber war mir unterwegs der Gedanke aufgestiegen, es sei doch eigentlich recht langweilig, immer den gleichen Weg zum Abstieg wie zum Aufstieg zu benutzen und immer über die gleiche alte Bärenfluh zu klettern. Schafpeter, dem ich meine Gedanken mitteilte, meinte, es ginge wohl an, nach meinem Vorschlag über den Roththalgletscher hinüber nach dem Schmadribach vorzudringen. Wenn er auch den Gletscher bis hinüber nicht näher kenne, so zweifle er doch nicht an seiner Passierbarkeit, und die Felsen, die wir dann zum Abstieg benutzen müßten, würden auch zu begehen sein. Mein Neffe, ganz entzückt von dem Gedanken, heute unvermutet zu seiner ersten Gletschertour zu kommen, redete, wie ich argwöhne, noch heimlich dem Führer zu, doch ja keinerlei Bedenken gegen dieselbe aufkommen zu lassen. Glücklicherweise hatten wir ein Seil. Mit Gamaschen und Gletscherbrille war freilich nur ich versehen, und die Sonne schien herrlich; doch verfügten wir über zwei Pickel.

Vor allen Dingen ward mit dem Fernrohr von der Hütte aus über den Gletscher die jenseitige Passage rekognosziert, und wir fanden die Zerschrundung des Gletschers sehr arg gerade an der Stelle, die man sonst etwa wählt, um auf das jenseitige Plateau und über dasselbe zum „ Dürlocherhorn " zu gelangen. Der Name des letztern rührt, beiläufig gesagt, davon her, daß dieser felsige Vorsprung an einer Stelle vollständig durchbohrt ist und den Durchblick auf die dahinter liegende Gegend gestattet. Daher wurden wir rätig, nicht unten durch, sondern oben durch zu gehen und bedeutend weiter oben am Fuß der „ Ebenen Fluh " den Gletscher zu traversieren, wo wir weniger Schrunde anzutreffen hofften. So stiegen wir denn um 11 Uhr von der Roththalhütte schräg gegen den Hintergrund des Kessels auf den hier ganz ebenen und nicht zerschrundeten Gletscher hinab, seilten uns an und überschritten ihn.

Hei! was für ein fröhlich Wandern im Sonnenschein! Wie das rauscht und rieselt zu Füßen! Jetzt sind wir an dem steilen Gletscherabhang angelangt, der sich gegen die Ebene Fluh hinaufzieht. Da giebt 's Stufen zu hacken in dem abschüssigen, vollständig schneefreien, harten, zähen, glänzenden Eis. Höher und höher geht 's langsam und vorsichtig vorwärts. Aber wie wir die erste Anhöhe uns hinaufgearbeitet haben, sehen wir erst, daß wir das Plateau noch lange nicht erklommen haben und daß wir noch einmal zum Hacken ansetzen müssen. Von unten hat 's freilich anders ausgesehen. Item, endlich sind wir doch oben, nachdem gewaltige Schrunde uns höher, weit höher getrieben haben, als unsere Absicht war, zu steigen. Wir ziehen nun an der Ebenen Fluh vorbei.

Bald stellt sich heraus, daß der Gletscher außerordentlich verschrundet ist. Unzähligemal müssen Spalten übersprungen oder auf leichten, schmalen Brücken passiert werden, wobei der Pickel erst lange sondiert, bis eine zutrauenswürdige Stelle sich findet. Oft aber sind die Spalten gar nicht zu passieren, da sie als förmliche Thäler mit lotrechten Wänden sich uns in den Weg stellen; wir müssen sie immer und immer wieder umgehen, größere Strecken weit retirieren, um weiter oben gegen den Bergschrund zu sie überqueren zu können. So sind wir allmählich, nicht ganz freiwillig, in eine bedeutende Höhe gelangt, und noch ist der Irrsale kein Aufhören abzusehen. Unsere Zuversicht fängt an etwas abzunehmen, und auf Schafpeters Gesicht spiegelt sich so etwas wie Verlegenheit. Er meint, wieder nach Roththal zurück würde er doch jetzt sehr ungerne gehen, und ich stimme ihm in Anbetracht des langen, steilen Eishanges, den wir heraufgekommen sind, bei. Wenn wir nur einmal aus dem verflixten Gletscher heraus die Felsen erreichen könnten, um über sie niederzusteigen! Jetzt endlich tauchen sie vor uns aus dem Schnee empor, Erlösung verheißend. Aber gerade in ihrem Angesicht noch scheint die ganze Fahrt, scheitern zu müssen. Ein furchtbarer Schrund, ein ganzes breites Thal klafft uns im Gletscher entgegen, und soweit das Auge reicht, keine Möglichkeit der Umgehung. Vergebens suchen wir hin und her, um eine Stelle zu entdecken, die einen Übergang ohne Lebensgefahr böte. Jenseits, nicht weit, winken die ersehnten Felsen, ersehnt, trotzdem sie keineswegs eben freundlich und lockend aussehen; aber wie hinüber gelangen über dieses letzte und größte Hindernis? Mein Neffe macht zwar den abenteuerlichen Vorschlag, der Führer solle, von uns am Seil gehalten, Stufen hackend, in die Tiefe steigen und auf einen Eisgrat zu gelangen suchen, der in den Schrnnd hereinragend eine Verbindung mit jenseits darstellt, wir sollten dann nachfolgen. Aber nach kurzer Prüfung muß der Gedanke von uns gesetzten Leuten, dem siebenzigjährigen Führer und mir, entschieden von der Hand gewiesen werden. Lieber umkehren, als so ein in seinem Erfolg sehr Ungewisses Kunststück, bei dem Lebensgefahr vor Augen liegt. Noch einmal rückwärts und hinauf, ein letzter Umgehungsversuch, und wenn 's nicht gelingt, dann in Gottes Namen wieder den ganzen Weg zur Hütte zurück. Beklommenen Herzens wird der Versuch gemacht, und endlich haben wir 's überstanden. Wir finden den Übergang und nahen uns abwärts nun ohne alles Hindernis den Felsen, die sich von der Ebenen Fluh nord- oder nordwestwärts niedersenken. Es ist zunächst ein grobstückiges Trümmergewirr, das wir jetzt beschreiten; hier sind mächtige Felsen im Laufe der Zeit zusammengestürzt. Über ein steiles Schneefeld hinunter, in das wir den Felsen entrinnen, erreichen wir endlich einen auf vorspringendem Felsen erbauten Steinmann. Einen Augenblick lagern wir uns hier, nehmen einen Stärkungsschluck auf den gehabten Schrecken und genießen die herrliche Aussicht auf den ganzen Hintergrund des Lauterbrunnenthals.

Aus einer Tiefe herauf, welche die sommerlichen Farben also dämpft, daß sie wie ein mattes ödes Grau erscheinen, grüßt das blaue Auge des wunderhübschen Sees auf Oberhornalp. Von den Gletschern, die sich hier durchwegs in größter Steilheit niedersenken, ziehen glänzende Wasseradern zu Thal, unter ihnen der Schmadribach, der, aus solcher Höhe gesehen, freilich nicht den Effekt macht wie weiter unten, wo man ihn in seiner leuchtenden breiten Wasserfülle beständig vor Augen hat. Uns umgeben alle die Gipfel, die sich von oberhalb Murren bis zur Jungfrau im Kranze ausdehnen: Schwarzbirg, Schilthorn, Groß-Hundshorn, Bütlassen, Gspaltenhorn, Tschingelgrat, Balmhorn, Wilde Frau, Blümlisalp, Mutthorn, Tschingelhorn, Breithorn etc.

Peter mahnt bald zum Aufbruch; es ist ihm offenbar nicht wohl, als bis er uns glücklich aus dem wilden und außerordentlich steilen Felslabyrinth heraus hat. In der That, diese Abstürze sind recht grausig, und dazu möchte mein Neffe noch überall da durch, wo 's am allerdirektesten abwärts geht, während ich nicht so sehr darauf erpicht bin. Also wieder auf die Beine! Wir drücken uns vom Steinmann weg unter vorspringendem Felsen über drohendem Abgrund durch und betreten eine sehr abschüssige, mit lockerem Geröll besäete Grashalde, die unten in senkrechte Felsen ausmündet. Wir wissen, daß wir noch immer über den untern Gletscherstufen uns befinden, die ihre Zungen weit hinabsenden. Der eingeschlagene Pickel muß mir hier festen Stand sichern helfen; mein junger Begleiter geht sehr gut, furchtlos, doch zu wenig vorsichtig und kommt in Gefahr, zu rutschen. Es geht in eine Schuttrunse hinein, die sich von den wüsten, wilden Felsen niederzieht; sie kann aber nicht bis zu Ende verfolgt werden, und so geht 's noch einmal über steile, schlechte Halden, an deren Ende eine Bärenfluh en miniature unser wartet. Wie diese — ziemlich leicht — überwunden ist, haben wir endlich das Felsgewirr hinter uns und damit auch die Schwierigkeiten. Indessen gerade auf dem nun folgenden Moränenschutt eines zurückgegangenen Gletschers giebt 's noch ein paar kleine Intermezzos. Neffe Hans hat oben eine Reihe merkwürdiger großer Steine entdeckt, die er unbedingt für versteinerte Baumstämme erklärt, da sie in der That mit solchen einige Ähnlichkeit haben und so etwas wie Rinde, Jahrringe unterscheiden lassen. Natürlich muß so ein Exemplar mit, und er trägt es in Händen. Da wir aber in unserer Lage die Hände anderweitig gebrauchen, so entrollt ihm einmal der tückische Fels und rollt mit Donnergepolter abwärts, Hans ihm nach. Doch kommen beide Objekte zum Stehen, und Hans, zufrieden seinen Stein wieder zu haben, achtet der Spuren nicht, welche das Mißgeschick zum Glück bloß an seinen Kleidern hinterlassen hat. Wir andern beide aber standen unterdessen in ziemlicher Steinschlaggefahr. Mir wird, als ich, die im harten Schutt vom Führer geschlagenen Stufen verschmähend, eigenen Weg nehme, das Vergnügen, in einer losgetretenen Steinlawine, von deren Staub umhüllt, abzufahren; doch bald fasse ich, mit dem Pickel steuernd, wieder festen Fuß und komme mit einem Loch in der Bekleidung eines gewissen Körperteils davon. Nach 4V2Stündiger ununterbrochener Arbeit lagern wir uns endlich zu gemütlicher Rast an einem klaren Wässerlein, das durch den Schutt herabrinnt, seitwärts und unterhalb einer herunterhängenden Gletscherzunge, machen es uns so bequem, als es in den Steinen eben möglich ist, und sprechen den Lebensmitteln zu. Der ganze, große und fortwährende Aufmerksamkeit und Vorsicht erheischende Abstieg über das abschüssige Terrain hat uns wirklich recht ermüdet, und wir lassen uns alle Zeit zur Restauration der gesunkenen Kräfte. Auf einmal kracht es über uns; das unterste Ende der vorhängenden Gletscherzunge bricht ab und rollt in Blöcken abwärts. Obwohl bei dem Krach uns ein Schreck durchfahren hat, sehen wir doch gleich, daß wir nichts zu fürchten haben. Um halb fünf Uhr wird wieder aufgepackt, der famose Stein so versorgt, daß er nicht mehr davonlaufen kann, und über den Gletscherschutt gelangen wir endlich auf guten Grasboden. Nach Norden schauen wir bis nach Lauterbrunnen hinaus und unterscheiden die Häuser, die schon im Schatten liegen.

Wir stehen etwa auf der Höhe des Schmadribachfalles und können den Blick nicht wenden von dem nahen im Abendsonnenglanz strahlenden schäumenden Wassersturz; überhaupt ist die ganze abendliche Gebirgslandschaft ein Bild von höchstem Reiz. Ist doch der Hintergrund des Lauterbrunnenthaies unter den Perlen von Gebirgsbildern, wie sie unser Vaterland aufweist, eine der berühmtesten und schönsten. Ich begreife die Höhenstürmer nicht, die von errungener Höhe herab sich nie schnell genug zu Thal stürzen können, keinen Blick für das Landschaftsbild haben, das gerade im Abstieg so schön sich aufthut, und sich auf dieses verständnislose Verfahren noch etwas einbilden. Ich steige nur zögernd und gleichsam widerwillig zu Thal und kann kaum Abschied nehmen von all der Pracht. Ein Weglein führt uns bald durch Alpenrosen zur Alphütte „ Auf dem Hubel " ob Trachsellauinen und durch Tannenwald und schöne, üppig wuchernde Farngruppen nach Trachsellauinen ( halb sieben Uhr ). In Stechelberg wird unser Peter, der uns recht brav geführt hat, entlassen, und wir beide traben noch thalauswärts nach Lauterbrunnen, wo wir nach acht Uhr ankommen. Das ist unsere improvisierte Fahrt durch ein Gebiet, von dem unser Führer behauptete, daß wohl noch kein Tourist es betreten habe.C. Stauffer ( Sektion Oberland ).

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