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Eine Gratwanderung

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A. Ludwig ( Sektion St.Gallen ).

Von'iesmal muß man notwendig mit dem Wetter anfangen. Seit dem Jahre, in welchem der Touristenvater Noah in seiner schwimmenden Clubhütte den Ararat erreichte, hat wohl selten ein Sommer die Geduld des Landmanns und des Touristen so auf die Probe gestellt, wie der von 1896. Mit ihm verglichen erschienen gewöhnliche Regensommer als die reinsten Trockenperioden. Wenn man alle Stoßseufzer, Gebete, Verwünschungen und Flüche, die er den Touristen entlockte, in einem stattlichen Bande gesammelt sehen könnte! Und erst die Revanchepläne fi#r 1897, von denen natürlich auch nicht die Hälfte verwirklicht wird! Fttr den vergangenen Sommer ist einmal das „ socios habuisse malorum " ein wirklicher.Trost.

Auch wir hatten unser Teil abbekommen. Am 11. August waren Freund Imhof und ich durch hartnäckigen Nebel und strömenden Regen am Piz Michel zurückgeschlagen worden, als wir eben, nördlich oberhalb der Bleis Ota, über das den Oberhalbsteinern wohlbekannte, so einladende Band in die Gipfelfelsen einsteigen wollten, hatten uns dann bei allem Unwetter dem hohen, geröllreichen Orgelpaß ( 2703 m ) zugewendet und waren über Aelahütte und Chavagl grond nach Bergün — hinabgeschwemmt worden, hätte ich bald gesagt. Daselbst hieß es zunächst zwei Tage still-sitzen. Der manchem Bergsteiger wohl in Erinnerung stehende 14. August schien endlich eine Wendung im kläglichen Witterungscharakter markieren zu sollen. Prachtvoll glänzten die Gipfel, selbst die Aroserberge in weit herabreichendem, tadellosem Gewände von Neuschnee, überwölbt von einem wolkenlosen Morgenhimmel. Mettier bestieg an diesem Tage den Piz Kesch, weshalb wir unsern Plan einer Errbesteigung aus der Val d' Err über den steilen Errgletscher auf den folgenden Tag verschieben mußten, was übrigens der dort drohenden Lawinengefahr wegen sowieso angezeigt -'T'T ) ine Gratwanderung.

war. Wir entschieden uns darum am 14. für eine Gratwanderung von der Fuorcla Bever Crapalv bis zur Fuorcla da Mulix.

Früh um 4 Uhr verließen wir Mettiers gastfreundliches Haus und wanderten thalaufwärts. Ernst schaute der erhabene Gipfel des Aela in « einem winterlichen Gewände herab, während im Vordergrunde das bekannte originelle, fast an eine geometrische Konstruktion erinnernde Bild sich bot: die beiden Rugnux, verbunden durch einen gewaltigen, nach unten konvexen Bogen, und dem mittleren Teil dieses Bogens der schlanke, spitze Piz di! Barba Peder gleichsam wie ein Kreissektor aufgesetzt. Weiter hinten, gegen Naz zu, betrachteten wir den in der Morgensonne strahlenden schrecklichen Ostgrat des Aela, über welchen Herr Stokar seinen fast haarsträubenden neuen Aufstieg ausgeführt hatte. Auch von der Uertseh-kette bekommt man nach und nach wieder etwas zu sehen, aber noch nicht den Hauptgipfel, sondern einen jäh ansteigenden, etwas verbogenen Felskoloß ( Punkt 3026 ), der oft für den Piz Uertsch selbst gehalten wird und darum von Mettier spöttisch der Uertsch der Postinone getauft wurde. Einzig dieser Pseudo-Uertsch dürfte Schwierigkeiten bieten, wenn ein Clubist eine hier noch winkende schöne Aufgabe, nämlich die Gratwanderung vom Muot bis zum Piz Uertsch und Piz Blaisun, lösen wollte.

Bei meinem Vetter, dem Wirt auf dem Weißenstein, sprachen wir natürlich vor und eroberten ein zweites Morgenessen und eine Flasche Sassella, die unsere auf den diesjährigen Touren sonst mit Erfolg durchgeführten Abstinenzbestrebungen für diesen Tag zu Fall brachte.

Auf dem sehr angenehmen Aufstieg zur Fuorcla Beyer Crapalv begleiteten uns weit hinauf vereinzelte Arven und hoch ob der jetzigen Waldgrenze modern mächtige Stämme und Strünke, zeugend von einstiger Waldesherrlichkeit, für deren Verschwinden aber hier schwerlich der Mensch verantwortlich gemacht werden kann. Schöne Gletscherschliffe, deren man schon unten hart an der Straße zur Genüge trifft, finden sich bis auf die Paßhöhe, ja, auf der Westseite derselben trafen wir die geglätteten Felsen noch wesentlich höher. Die Gletscher des Beverser- und des Albulathales standen zur Eiszeit über diese Paßlücke miteinander in Verbii>diii>g.

Schon bevor man die Paßhöhe erreicht, bekommt man die Prachtsgestalt des Piz Ot zu Gesichte, bei deren Anblick man förmlich „ paff " wird. Dieser schneidigen Bergform, einem schlanken Kegel von seltener Regelmäßigkeit und imponierender Höhe, wüßte ich aus meinem allerdings beschränkten touristischen Erfahrungskreise gar nichts Ebenbürtiges an die Seite zu stellen, als den Piz Linard, von der Fuorcla Zadrell gesehen.: Etwas oberhalb der Paßlticke, in einer Höhe von fast 2600 m, ließen wir uns zu einer Rast nieder, um das schon hier herrliche Panorama mit Muße zu genießen. Piz Uertsch und Blaisun fangen jetzt an, sich geltend zu machen, während vorher die Landschaft durchaus vom vorgeschobenen A. Ludwig.

.Funkt .8017 beherrscht wurde. Neben den kühnen, vo& der Beverserthal-Gleite übrigens eher zugänglichen Gipfeln von den Giumels bte auur Crasta mora, erblickt man im Engadin das Dorf Bevers. Das Beverserthaf mit seinem in zahllosen Krümmungen dahinfließenden Bache ist fast in seinem gftnssen Verlaufe sichtbar. Warum so viele „ Umschweife ", möchte man fragen, warum so unbesiegbare Neigung zu Serpentinenbildung, zu sa mäandrischem Laufe, wenn doch die gerade Linie der kürzeste Weg ist zwischen zwei Punkten und die Natur sonst so haushälterisch umgeht? Es geht dem Wasser wie dem Menschen, eine geringfügige Ursache lenkt es schon von der geraden Bahn ab, und „ en guete Chrumm ist nid um% denkt vielleicht auch der Bach, klüger als oft mancher Tourist.

Die zahmen, gegen das Beverserthal sich senkenden Gletscher, die im Vergleich mit dem Errgletscher freilich die reinste Unschuld repräsentieren, und die sie tiberragenden Höhen vom Piz Bever bis zu den Errgipfeln geben dem Thale einen fesselnden Hintergrund. Aber der Glanzpunkt bleibt eben doch der Piz Ot.

Eigentlich, sagte ich mir bei seinem Anblick, hat das große Publikum recht, wenn es, unbekümmert um berufsmäßige und gefahrensuchende Bergsteiger, immer wieder die alten berühmten Aussichtsberge aufsucht. Wenn ein Clubist, der nicht gerne auf oft betretenen Pfaden wandelt, die Ziele seiner Wanderungen der Allgemeinheit empfehlen möchte und auf einmal entdeckt, daß irgend ein sekundärer Gipfel oder eine außerordentlich schwierige Route ganz besonders lohnend und interessant sei-(wohlweislich sagt er dies erst, nachdem er allfällige Jungfernkränzchen geholt ), so ist dies seine Sache, aber auf einen praktischen Erfolg bei der großen Menge muß er nicht zählen. Die von der letztern bevorzugten sogenannten Modeberge verdanken ihre Anziehungskraft nicht nur der leichten Ersteigbarkeit und der wundervollen Aussicht, sondern sehr oft auch ihren schönen und mächtigen Formen; sie gehören an und für sich zu den stolzesten Berggestalten. Punkte wie Piz Ot, Flttela-Schwarzhorn, Scesaplana, Glärnisch etc. werden ihren Reiz, selbst für verwöhnte Touristen, immer behaupten, ja, die Bezeichnung „ Modeberg " paßt für sie eigentlich nicht einmal recht, denn sie werden nie aus der Mode kommen. Ich habe einst, etwas unüberlegt, wenn auch ohne Absicht der Geringschätzung, das Fltiela-Schwarzhorn einen abgelaufenen Modeberg genannt, bekenne mich jetzt aber offen zu einem etwas andern Standpunkt. Daß ich übrigens mit diesen Bemerkungen das Aufsuchen von weniger begangenen Pfade » nicht etwa verpönen möchte, wird man mir hoffentlich glauben.

Von unserem Rastplatz gingen wir in fast westlicher Richtung über den zunächst noch breiten, welligen Rücken bis zu einem plumpen, steilen und hohen abgestumpften Felskegel, der unser Vordringen hemmte. Wenn wir zu ihm emporschauten, mußten wir die Köpfe fast zurückwerfen, und wir schätzten die Steigung auf über 60 °, allein das Klinometer zeigte, kaum glaublich, nur 47°. Wieder eine Bestätigung der alten Wahrheit, daß man allen nur auf Schätzung beruhenden Angaben von Neigungswinkeln ganz unbedingt mißtrauisch gegenüberstehen muß.

Besagten Felskegel umgingen wir unschwer auf der südlichen. Vai Bevor zugekehrten Seite, die im ganzen Gebirgszug fast überall die gangbarere ist, und gewannen dann durch eine steile, fast bis oben beraste Kehle den Grat wieder, gerade an der richtigen Stelle, denn von hier an bot der Kamm bis auf die vordere, mit den Resten eines zerfallenen Steinmannes bedeckte Spitze ( 2921 m ) des Piz della Pyramida keine Schwierigkeiten mehr. Nach halbstündiger Rast wurde auch die hintere, jedenfalls äußerst selten betretene Spitze ( 2962 m ) mit leichter Mühe erreicht. Nördlich vom Verbindungsgrat der beiden Spitzen bildet ein kleiner Gletscher^ der es aber doch zu einem ordentlichen Bergschrund gebracht hat, einen wohlthuenden Gegensatz zu den düstern, die Mulde einschließenden Felsen.

Vom Punkt 2962 ist der Weißenstein noch knapp sichtbar. Ganz gut machen sich die winzigen Seelein auf der Nordseite der Paßlücke.Von Dörfern erblickt man immer noch Bevers, Bergün, Latsch und Stuls. Die Gebirgsaussicht hat sich natürlich bedeutend erweitert. Auch Piz Kesch und Ducankette sind nun in die Linie getreten, und im Süden steigt machtvoll die silberglänzende Berninagruppe empor. Auf nähere Bekanntschaft im nächsten Jahre! möchten wir ihr zurufen. Denn die Königin der Bündneralpen immer nur mit Resignation und ungestillter Sehnsucht aus der Ferne zu grüßen, ist doch eine gar zu platonische Liebe.

Die beiden Spitzen des Piz della Pyramida bestehen noch aus Albula-A granit. Die nicht gerade schöne Färbung der Felsen rührt teilweise von der Bedeckung mit grünlichen Flechten her. Sonst ist die eigentliche Änwitterung dieses Granites weißlich, was man an granitischen Moränen gut beobachten kann.

Die Ersteigung des in ziemlicher Entfernung winkenden Piz Bial ( Punkt 3064 der Exkursionskarte, Albulagebiet ) beanspruchte nun allerdings mehr Zeit und Mühe » Wir mußten uns bald auf die südliche Seite des Kammes wenden. Nachdem wir den starken, ungefähr 1 cm. südwestlich von Punkt 2962 gegen das Beverserthal abschwenkenden Grat nahe an seiner Abzweigungsstelle überschritten hatten, erlebten wir wieder die alte, bekannte, aber doch nie geglaubte und darum immer wieder neue Geschichte. Über den Grat zum Piz Bial direkt vorwärts konnten wir nicht absteigen in die Mulde, von wo der weitere, zwar mühsame, aber durchaus unschwierige Aufstieg gegeben war, wollten wir nicht; wir fingen also an, die seitlichen Felsrippen zu überqueren. Das ist immer ein zeitraubendes und mißliches Unternehmen, sobald man es mit ziemlich coupiertem Gehänge zu thun hat » Schließlich mußten wir doch hinab bis auf die A. Ludwig.

Obersten Schutthalden. Aus der Mulde kamen wir, steil über Trümmer ansteigend, in anstrengendem Marsche wieder auf den Grat und von da in nordöstlicher Richtung auf den Gipfel, der nur zuletzt eine kaum nennenswerte Kletterei über große rauhe Felsblöcke erforderte. Droben grüßte der vom ersten Ersteiger, Herrn Stokar, erbaute Steinmann, die Flasche dagegen konnten wir im Neuschnee nicht finden.

. Der Piz Bial besteht schon nicht mehr aus Granit, sondern aus wenig steil geschichtetem Dolomit, aus welchem an der Gipfelpartie mitunter fast paketförmige Felsklötze herausmodelliert sind. Dieser Dolomit ist inwendig nicht so gleichmäßig grau, wie das schöne Gestein des Piz d' Aela, wittert auch etwas gelblicher an und ist zum Teil mit orange* farbenen oder gelblichen Flechten bedeckt. Der Gehalt an kohlensaurem Kalk ist jedenfalls namhaft größer, als im Dolomit der BergtinerstÖcfce, denn das Gestein braust, wenn auch schwach, mit Salzsäure.

Mein Gefährte, der etwas vor mir angelangt war, hatte auch den wenig niedrigeren, östlichen Vorgipfel besucht. Dieser besteht schon aus schieferigem Gneis, der demjenigen des Piz délias Calderas ganz ähnlich ist. In der Lücke zwischen beiden Gipfeln findet man Thonschiefer und dem Verrucano ähnliches Gestein ( wahrscheinlich eine Varietät des Saluvergesteins von Escher und Studer ). Ob der dortige Thonschiefer eine eigene Stufe vorstellt, oder ob es sich nur um thomg-schiefrige Zwischenlagen im Dolomit handelt, war nicht deutlich zu ersehen.

Fast eine Stunde blieben wir auf diesem Gipfel, der durch seine instruktive Aussicht und seine thalauswärts sehr imponierende Form Herrn Stokars Empfehlung durchaus verdient. Er stellt viel mehr vor, als der wenig charakteristische Piz della Pyramida.

Noch ein Wort vom Piz d' Err! Herr Stokar bemerkt anläßlich seiner Bialbesteigung, der Piz d' Err mache von hier aus den Eindruck „ eines langweiligen, form- und charakterlosen Schneehaufens mit schwachen, halb mißlungenen Ansätzen zur Gipfelbildung ". Ich war zuerst frappiert, ja fast entrüstet ob diesem Urteil, aber bei objektiver Betrachtung mußte ich es in seiner zweiten Hälfte durchaus bestätigen. Wenn man das; unscheinbare Gipfelköpfchen des Err ins Auge faßt, so möchte man in der That fast sagen, der Berg habe eine Maus geboren; eher, aber nicht viel mehr kommt der Calderas zur Geltung. Fast schämte ich mich, daß ich vor zwei Jahren über die Begehung des ganzen Hauptkammes von Punkt 3253 bis zum Piz d' Agnelli mich so sehr gefreut hatte. Aber wenn wir auf unserer heutigen Wanderung den weiten Gebirgskranz, dessen reich vergletscherte Abhänge die Wasser des Beverserthales speisen, als Ganzes betrachteten — und wir thaten dies oft und lange —, so mußten wir uns doch sagen, daß die Errgruppe eine mächtige und schöne Hochgebirgswelt vorstellt, die nicht umsonst von Coaz, Theobald und E. Burckhardt gerühmt und empfohlen worden ist. Und als wir am folgenden Tage den reizvollen Aufstieg über den Errgletscher und den ebenfalls hochinteressanten Abstieg zum Castellins machten, da war unsere Begeisterung für den gewaltigen Gebirgsstock fast wieder auf ihrer frühern Höhe angelangt. Ja, es steigt mir heimlich der Verdacht auf, auch Herr Stokar wisse trotz der wenig imposanten Form der Gipfel die unbestreitbar vorhandene Anziehungskraft dieses Gebirges doch zu würdigen, denn nur des Wetters Tücke verhinderte ihn im Sommer 1896, dem Piz d' Err aus Val d' Err über den Gletscher einen Besuch abzustatten.

Um 2 Uhr 45 Min. wandten wir uns vom Piz Bial jenen noch jungfräulichen Gipfeln zu, welche hoch über der Terrasse Sur la Crappa dem prachtvollen Hintergehänge der Val Mulix entragen und nicht unpassend als Pizzi della Crappa bezeichnet werden könnten. Es sind hier, neben einigen unbedeutenden Erhebungen, hauptsächlich vier Gipfel zu unterscheiden, von denen allerdings von Mulix aus nur drei so recht gesehen werden, während der östlichste ( Punkt 3009, der dem von der Breitseite gesehenen Groß-Litzner nicht unähnlich ist, etwas zurücktritt. Auf ihn stießen wir zuerst, als wir vom Piz Bial weg in südwestlicher und westlicher Richtung an zwei noch gefrorenen Gletscherseelein vorbei unsern Marsch über den anfänglich zahmen, mit Geröll und Schnee bedeckten Orat einige Zeit fortgesetzt hatten. Er wies uns seine ungangbare Ostkante. Wir umgingen ihn leicht auf der Nordseite und hätten ihm von Westen her gut beikommen können, doch die vorgerückte Zeit trieb uns sofort auf den zweiten, zudem etwas höhern Gipfel zu, dessen oberste, aus rötlichem, verrucanoähnlichem, zum Teil sehr verwittertem Gestein bestehende Felsen mit leichter Mühe gewonnen wurden. Von Wohnungen gesellig lebender Menschen ist hier nicht mehr viel zu sehen, nur Latsch, prächtig auf seiner Terrasse thronend, hat sich noch behauptet. Einen ganz merkwürdigen Anblick gewährt der breite grüne Cuolm da Latsch, in frappantem Gegensatz stehend zu dem schauerlichen, weithin auffallenden und stetig sich vergrößernden Felsaufriß der Val Strieta. Fast scheint es, als wollte dieser Einschnitt, rückwärts sich verlängernd, den obera Teil des Stulserthales ablenken, dem Tuorsbach tributar machen und zugleich den Cuolm da Latsch gänzlich isolieren. Im Süden ist die lange, von Punkt 3253 südöstlich ziehende Felswand von ganz gewaltiger Wirkung. In ihr fällt schon aus großer Entfernung eine fast schnurgerade, weit sich erstreckende Linie auf, wahrscheinlich eine Gesteinsgrenze.

Nun galt 's dem dritten ( immer von Osten an gerechnet ), höchsten und wildesten Gipfel ( Punkt 3060dieser kleinen Gruppe. Der Grat war kaum gangbar, wir mußten ihn von der Breitseite packen. Auf der Nordseite kamen wir über Schneelehnen und schlüpfrigen Fels zu einem sehr abschüssigen Schneecouloir. Überschritten wir dieses, so konnten wir auf einem westlich schief ansteigenden Bande bis auf den Gipfelgrat ?^3 ?:?

A. Ludwig.

gelangen, waren dann aber vielleicht noch immer nicht auf dem höchsten Punkte; Das gar nicht einladende Couloir trieb uns jedoch auf die sonnige Südseite. Auf der Nordseite hatte es überall noch getropft und getauscht, hier dagegen war in den Felsen der Schnee fast ganz verschwunden, während in den darunter ansetzenden Halden fortwährend kleine Lawinen gingen. Es folgte nun eine nicht gerade technisch schwierige, aber recht disponierte Kletterei. Imhof erreichte den Grat zuerst eben an jener Stelle, wo das schiefe Band der Nordseite ausmündet, und es erwies sich jetzt* daß der höchste Punkt noch östlicher lag. Also etwas zurück und noch-, naratte angesetzt. Der Fels ist Dolomit, ungemein zerklüftet, zackig, rissig toi rauh, der Gipfel sieht mit einem Wort ganz „ ghudlet " aus, doch ist das Gestein nicht schlecht. Über schmale Bändchen, schwindlige Ecken ind durch kaminartige Risse eroberten wir doch ziemlich bald die vorher schwerlich jemals betretene Höhe, genossen die im wesentlichen gleich gebliebene Aussicht und bauten ein dürftiges Steinmännchen. Nach nur viertelstündigem Aufenthalt verließen wir etwas nach 5 Uhr den Gipfel und bewerkstelligten mit Vorsicht den Abstieg. Die Kletterei ist, wie gesagt, nicht eigentlich schwierig, aber wenn jeweilen der eine stillstand und dem andern zuschaute, so sah die Sache doch ganz greulich aus. Und man würde es dem Burschen von Mulix aus nicht einmal ansehen/ daß er etwas zu schaffen geben könnte, denn von dort erscheint er als zwar recht breite, aber niedergedrückte und nicht sonderlich imponierende Felswand.

Gerade umgekehrt verhält es sich mit dem vierten und letzten Gipfelr der an Höhe dem vorigen fast gleichkommt. Von Süden könnte man eine Kuh hinauftreiben, viel respektabler dagegen schaut er nach Mulix hinab und erscheint von dort aus auch völlig so hoch, als sein östlicher Nachbar. So kurz und leicht auch zum Schluß der Abstecher auf diese Spitze gewesen wäre, und so gerne wir nochmals einen Blick von oben auf diese abgelegene, so selten besuchte und doch so anziehende Gletscherlandschaft geworfen hätten, wir mußten darauf verzichten, wollten wir nicht spät in die Nacht kommen.

Nun folgte das Unangenehmste, was einem ermüdeten Bergsteiger gegen Abend noch begegnen kann, nämlich ein scheinbar endloser Marsch über nicht tragenden Schnee. Da werden mitunter die besten Freunde gereizt und mißmutig. Aber mein leichtfüßiger Gefährte stampfte unermüdlich voran, und eine Mißstimmung konnte in dieser im Glänze der Abendsonne strahlenden fesselnden Landschaft nicht aufkommen. Gewiß ist ein Sonnenaufgang im Gebirge etwas Herrliches, aber wer unsere Alpen nicht auch schon beim Abendschein von hoher Warte aus betrachtet hat, der hat sie noch nicht in ihrer vollen Schönheit gesehen. Dieses Glück genossen wir anno 1894 kurz vor Sonnenuntergang auf dem Pir d' Agnelli, und daß es uns heute abend wieder zu teil wurde, versöhnte Eine Gratwanderung.5 uns mit dem noch sehr weiten Heimweg. Wir hätten zwar, um abzukürzen, von dem flachen, gegen Punkt 3056 schwach ansteigenden Firnfeld nördlich abschwenken können und wären dann, obwohl ohne Seil, dem östlichen Rande des sehr spaltenreichen Gletschers entlang ohne große Gefahr auf die Crappa hinuntergekommen. Aber es lag uns darà », von dem fcßf Fuorcla da Mulix führenden Grate noch einen Blick auf den Errgletscher werfen zu können, um für die Tour des folgenden Tages einige Anhaltspunkte zu haben. Wir konnten während unserer Schneewaterei den Punkt 3141 sattsam betrachten und wunderten uns, daß Wir diesen Burschen vor zwei Jahren nicht erstiegen, sondern die nicht unbedenkliche Umgehttiig über die westlichen, steilen und harten Firnhalden vorgezogen hatten. Endlich, endlich betraten wir den Fels- und Scbneerücken unter Punkt 3056, und nun präsentierte sich auch der Errgletscher mit seinen Spaltensystemen und Eisbrüchen. Die Lust zu seiner Begehung wuchs, je besser er uns beim Abwärtssteigen ins Gesichtsfeld rückte, und mit Befriedigung sahen wir, daß die Lawinen, deren Bahnen unser von der Natur vorgezeichneter Weg unbedingt kreuzen mußte, an diesem Tage schon niedergegangen waren.

Es war schon 6x/a Uhr, als wir die östliche Fuorcla da Mulix ( 2897 m ) erreichten. Es ist dies ein thorartiger, »von beiden Seiten leicht zu erreichender, firnerftillter Einschnitt. Die andere, nordwestlich davon gelegene Fuorcla da Mulix ( 2874 m ) ist von der Westseite an einer mächtigen, fast schwarzen Halde ( Serpentinschon aus großer Entfernung leicht kenntlich. Von dieser Gegend an bis östlich vom Piz Bial wechseln auf dem Ramme oft in sehr rascher Reihenfolge als Reste einer einst viel mächtigern Decke über dem Granit hauptsächlich der wohl der Trias angehörende Dolomit und die verschiedenen Varietäten des Saluvergesteins ( Verrucano-Äquivalent ), in kleinerem Maße auch Gneis und Thonschiefer. Die geologische Karte ( Blatt XV ) kann hier nur ganz schematische Andeutungen geben, denn eine detaillierte Darstellung würde sehr zeitraubende und mühevolle Aufnahmen erfordern.

Mit langen Schritten eilten wir über das steile Gletscherchen nach Norden hinab. Es hat, im Gegensatz zu seinem östlichen Nachbarn, nur wenige und kleine Spalten; doch brachte es jeder von uns fertig, einmal einzubrechen, natürlich ohne Schaden. Aber den Gletschern, und seien sie noch so klein und scheinbar unschuldig, sollte man nie trauen.

In merkwürdigem Kontrast standen jetzt, nachdem die wärmende und verklärende Sonne verschwunden war, die düstern, fast bläulich-grünen Felsen zu dem Weiß des Firns und den fahlen Moränen. Noch einen Blick vom untern Rand des Gletscherchens auf das eigenartige Bild, dann vorwärts, denn jetzt heißt es wirklich pressieren, die Crappa mußten wir unbedingt noch bei genügender Helligkeit zurücklegen können, sonst gab es ein langes Suchen und am Ende gar ein Bivouac auf der Terrasse.

Zum Glück zogen sich südlich neben der auf der Karte eingezeichneten Moräne lange Streifen alten Schnees hinab, über die wir rasch vorwärts kamen, das lästige, unermeßliche und zeitraubende Geröll vermeidend. Wenn diese Schneeflecken fehlen, kommt man nördlich von der Moräne über anstehenden Fels und Rasen besser durch.

Nachdem auch der hohe Felsabsturz hinter uns lag, erwischten wir glücklich das zur Alp Mulix hinausführende Weglein. Trotz ununterbrochenen Marschierens rückten wir erst um 91k Uhr in Bergün ein. Mettier, der vom Kesch nach Ponte abgestiegen war, kam noch später. Wir waren alle drei recht müde, und es brauchte am frühen folgenden Morgen große Überwindung, um die Errtour anzutreten. Unsere heutige Tour hatte 171/2 Stunden beansprucht, wovon allerdings auf die Rasten cirka 3V2 Stunden entfallen.

Wir haben auf dieser kurz geschilderten Wanderung keine hohen Gipfel erstiegen, nichts besonders Erwähnenswertes ausgeführt, und dennoch freuen wir uns heute noch jener schönen Stunden. Den größten Gewinn trägt derjenige Clubist aus den Bergen heim, der dort eingesehen hat, daß er in der Angst, Sorge, Qual und den Widerwärtigkeiten des Lebens noch nicht ganz verbittert und versauert ist, daß er noch im stände ist, mit wackern Gefährten fröhlich zu wandern, von ganzem Herzen sich zu freuen, aus voller Brust zu singen und mit Leib und Seele teilzunehmen an einem Genuß, dem in der Erinnerung nichts Bitteres anhaftet. Je länger, je mehr gelange ich zu der Ansicht, daß gerade im Gewinn dieser Erkenntnis, die neuen Lebensmut einflößt, ein Hauptwert und Hauptvorzug des Alpinismus liegt. Es ist und bleibt das Bergsteigen ein edles Vergnügen im besten Sinne des Wortes.

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