Eine Höhlenfahrt in die Abruzzen
( SChlUSSVon Alfred Güller
Mit 1 SkizzeOtelfingen, Zürich ) Der Nachmittag gilt der Retablierung und Ruhe. Auch das Gummiboot wird wieder instand gestellt und der Riss, wohl von einem Bergschuhnagel, oder einer scharfen Felszacke unter dem Wasserspiegel eines Teiches hervorgerufen, durch Überkleben dicht gemacht. Nach dem Abendessen — diesmal gibt es Hörnli mit Tomaten und Büchsenhackfleisch — beginnen die Vorbereitungen für einen zweiten Vorstoss in die Höhle. Es wird jedoch nahezu Mitternacht, bis jedermann soweit ist und der Zug neuerdings durch den schwarzen Schlund im Berginnern verschwindet. Diesmal wird zusätzlich eine lange Holzleiter mitgeführt, die inzwischen vom Dorf herbeigeschafft worden ist. Obwohl ihr Transport recht mühsam und beschwerlich ist, so erleichtert sie die Überquerung der kleineren Strudellöcher ganz beträchtlich, und vor allem die schwierige Abseilstelle, die uns beim ersten Vorstoss so lange aufgehalten hat, kann damit ganz umgangen werden. ( Es war beabsichtigt, speziell gebaute, leichte Metalleitern aus der Schweiz mitzunehmen, doch wurde dies durch verschiedene Umstände verunmöglicht. ) So erreicht die Spitzengruppe verhältnismässig schnell die Strickleiter und darüber hinaus die Stelle, wo das erste Mal der Rückzug angetreten worden ist.
Von der Strickleiter geht 's direkt ins Boot und dann über den See, der eine Länge von 30—40 m und eine ebensolche Breite aufweist. Die Höhle erweitert sich hier plötzlich ganz gewaltig. Am jenseitigen Ufer des Sees befinden sich die Leute in einem gigantischen Dom, der sich in der Fortsetzung noch vergrössert. Der Raum erreicht schliesslich eine Breite von 30 bis 40 m und eine Höhe von schätzungsweise 70 m. In seinem Zentrum befindet sich ein Hügel, und grosse Felsblöcke bedecken den Boden. An den Wänden erheben sich mächtige Tropfsteinsäulen, an deren Fuss sich hübsche Sinterterrassen ausdehnen, die mit ihrem treppenartigen Aufbau an eine künstlich bewässerte Stufenlandschaft aus einem ostasiatischen Reisgebiet oder an eine waadtländische Weinbaugegend mit ihren zahlreichen Mäuerchen erinnert. Nach der einen Seite steigt der Boden steil an und mündet schliesslich in kleine Gänge, die von der zentralen Halle aus weiterführen. Die eigentliche Fortsetzung des Haupteinganges erfolgt in der andern Richtung, wo sich der Höhlenboden langsam senkt und die Wände wieder enger aneinander treten. Eine Folge von Wasserbecken beginnt hier von neuem das Vordringen zu erschweren.
Nachdem dieser zauberhafte Dom und seine Fortsetzung einigermassen erkundet und die interessantesten Partien von unserem Photofachmann Paul Brenner mit Hilfe von Blitzlichtlampen und Magnesiumraketen auf den Film gebannt waren, wurde der Rückweg angetreten. Da jetzt alles Material mit zurückgebracht werden musste, ging es diesmal nicht so schnell vor sich. Mühsam musste die Strickleiter eingezogen und aufgerollt werden, und auch die Seile wanden sich infolge der Nässe zu wirren Knäueln. Endlich erreichten wir den Höhleneingang und traten mittags 12 Uhr in die Sonne, deren Strahlen unsere fröstelnden Körper wohltuend erwärmten.
Am nächsten Morgen unternahmen einige von uns einen kleinen Ausflug in die Umgebung des Lagers. In Pietrasecca war gerade ein Fest, und die ganze Bevölkerung fand sich bei Musik und Tanz auf dem Dorfplatz zusammen. Heute erschienen uns die braunen, verwetterten Gesichter weit weniger düster und Misstrauen erweckend als in jener nächtlichen Stunde unserer Ankunft. Einige der jungen Männer zeigten uns sogar sehr freundlich und zuvorkommend die « Sehenswürdigkeiten » ihres Dorfes, in der Berechnung natürlich, sich dadurch ein Engagement als Eseltreiber für unsere nächste Dislokation sichern zu können. Dann besuchten wir den Ausgang der Höhle von Pietrasecca. Dieser befindet sich auf der Südseite des Berges am Fusse der hohen Felswand, auf der der südliche Teil des Dorfes steht. Durch einen Teich mit übel riechen-dem Wasser, das bis an das Dach der Höhle reicht, wird der Zugang hier ganz unmöglich gemacht. Zur Regenzeit quillt an dieser Stelle das Wasser, das auf der andern Bergseite bei unserem Zeltplatz in den Berg hineinfliesst, als kräftiger Bach wieder hervor. Etwa 30 m über diesem Ausgang findet sich eine weitere, kleinere Öffnung, die vielleicht mit der grossen Höhle ebenfalls in Verbindung steht. Obwohl diese trocken ist, wurde bisher von hier aus ein Vorstoss noch nie unternommen, und auch wir müssen einen solchen aus zeitlichen Gründen unterlassen.
Am Nachmittag wird das Lager abgebrochen und auf vier Maultiere verladen. Dann geht es durch ein kleines Tälchen, dessen Hänge teilweise mit Buschwald und Ginsterstauden bedeckt sind, nach Norden. Alte, hochstämmige Bäume sind, mit Ausnahme einiger Kastanienbäume, kaum zu finden. Alle sind der intensiv betriebenen Köhlerei zum Opfer gefallen, ehe sie recht ausgewachsen waren. Den Untergrund dieser Gegend bilden weiche Sandsteine, in welche unser Weg oft tief eingeschnitten ist. Nach ca. drei Stunden gelangen wir, vorbei an rauchenden Kohlenmeilern, über ein kleines Pässchen ins Tal de Varri. Dieses West-Ost verlaufende Tal, am Südfuss eines hohen, langgestreckten Höhenzuges aus hellen Kalkgesteinen, erinnert mit seinen grünen Matten etwas an ein schweizerisches Jurahochtal. Bei einbrechender Dunkelheit errichten wir unser Zeltlager am Eingang einer engen Schlucht, auf deren Grund ein kleines Bächlein fliesst.
Am nächsten Morgen beklagen sich meine Kameraden, während der Nacht gefroren zu haben. Mein Tourenthermometer, das ich an einem Spann-seil des Zeltes aufgehängt hatte, zeigt 0 Grad. Ich kann es nicht recht glauben, sind wir doch in Mittelitalien, und noch immer herrscht das schönste Sommerwetter. Da Francesco, der Küchenboy aber meldet, in unseren Ga-mellen seien die Kakaoreste von gestern abend mit einer Eisschicht überzogen, so muss ich dem Thermometer doch Glauben schenken.
Der Eingang zur Höhle Val de Varri liegt ca. 200 m von unserem Lager entfernt am Ende der vorerwähnten Schlucht. Der Einstieg gestaltet sich hier besonders schwierig, da vorerst der Grund eines 15 m tiefen Schlundes mit überhängendem Rand gewonnen werden muss. An grossen Felsblöcken wird eine Strickleiter befestigt, über die eine 30° geneigte, glitscherige Felsplatte erreicht wird. Über diese Platte gelangt man in die eigentliche Höhle. In dieser müssen einige Absätze ohne besondere Schwierigkeiten überklettert und Wassertümpel umgangen werden. Einige Mühe bereitet die gegenseitige Verständigung, denn zwischen den Steinen fliesst Wasser, dessen Rauschen das Höhleninnere erfüllt. In einer tiefen, seitlichen Nische stossen wir wiederum auf eine prachtvolle Tropfsteingruppe. Wie mächtige Eiszapfen hängen die zahlreichen Stalaktiten vom Höhlendach herunter und sind zum Teil mit den aus dem Boden wachsenden Stalagmiten zu schlanken Säulen zusammengewachsen. Wie eigenartig sind doch die Formen der Natur in dieser feuchten Unterwelt!
Am nächsten Morgen klettern wir frühzeitig wieder über die Strickleiter in die Höhle hinunter. Wir haben uns in zwei Gruppen geteilt. Die erste, mit dem Photographen und dem Geometer, soll die Höhle längs des Baches verfolgen, soweit es ihr möglich ist, und sie auf dem Rückweg vermessen. Die zweite Gruppe soll den obern Teil der Höhle untersuchen, der, wie von frühern Forschungen her bekannt ist, prähistorische Siedlungen enthält. Dieser Teil der Höhle bildet einen schiefen Gang, der über dem ersten liegt und ziemlich trocken ist. Er führt ca. 20 m über dem Schlund ans Tageslicht, jedoch so, dass er heute von aussen nicht mehr direkt erreicht werden kann. Die vorderste Partie dieses Höhlenteiles erhält so viel Licht, dass sie ringsum mit Moospolstern hübsch ausgekleidet ist. Im hintern Teil herrscht ein unangenehmes Zwielicht, an das sich die Augen zuerst gewöhnen müssen, ehe sie richtig sehen können. Hier aber liegen, wie wir bald erkennen können, die gesuchten Siedlungsplätze, teils in Nischen längs der Wand, teils zwischen grossen Steinen in deren Mitte. Nachdem dieser Höhlenteil vermessen und skizziert ist, wählen wir einige der Siedlungsstellen zur genauem Untersuchung aus und beginnen, darin nach Kulturgegenständen zu suchen. Diese kommen bald sehr zahlreich zum Vorschein; Kohlenreste, Knochen und vor allem Stücke von zerbrochenen Gefässen, die zum Teil recht hübsche Verzierungen aufweisen. Gegend Abend werden die Fundstücke in leeren Proviantkistchen EINE HÖHLENFAHRT IN DIE ABRUZZEN ( ITALIEN ) Rufrisskizze der Höhle Val de Varri fi = SchacM n. Segre -eüMer B = C = Unferer Gang mi^ jel'zigem Oberer, trockener Qang WasserlauF765 C D - E - Prahist Siedlungsstellen Teich
F = Siphon
D m mt. o 10 20 30 sorgfältig verpackt und die Grabungsstellen nach der Rückkehr der ersten Gruppe photographiert. Der Transport des Fundmaterials aus der Höhle und besonders durch den Schlund erfordert viel Mühe und Zeit. Endlich gegen Mitternacht sind alle wieder im Lager beieinander.
Das « Heizungsproblem » fand hier bereits am zweiten Tag eine vortreffliche Lösung. Unweit des Lagers steht ein brennender Kalkofen, der eine solche Wärme ausströmt, dass ein Teil unserer Kameraden es vorzieht, neben diesem unter freiem Himmel zu nächtigen. Sie rühmen denn auch jeden Morgen, sehr gut geschlafen zu haben.
Von Val de Varri geht nun die Reise via Leofreni, einem malerischen, kleinen Bergdorf, längs einer staubigen Strasse, die unter dem Regime Mussolinis kunstvoll angelegt worden ist, nun aber durch den Krieg ziemlich gelitten hat, zurück nach Pietrasecca. Hier wird ein Teil unserer Ausrüstung deponiert und der Proviant wieder ergänzt. Dann geht es in südöstlicher Richtung weiter. Gegen Abend errichten wir unser Lager unweit des Einganges der Höhle « Luppa ». Auch das Val di Luppa, das dieser Höhle den Namen gibt, ist ein kleines Hochtälchen ohne oberflächlichen Abfluss. Sein tiefstliegender Punkt, ca. 870 m ü. M., befindet sich am Eingang der Höhle, was schon die jetzt trocken liegenden Bachbette beweisen, die, von West nach Ost kommend, sich an dieser Stelle vereinigen. In der Ferne erhebt sich in östlicher Richtung der 2487 m hohe Monte Velino, eine der höchsten Erhebungen der Apenninen.
Wie die Höhle Val de Varri war auch diejenige von Luppa von unseren italienischen Kameraden bei früheren Unternehmungen schon weitgehend durchforscht worden. Nach ihren Angaben soll sie die grössten Schwierigkeiten bieten, wie wir uns am nächsten Tag denn auch bald selbst überzeugen können. Der Eingang der Höhle ist an die 10 m breit und nahezu ebenso hoch. Sie wird jedoch alsbald enger und verzweigt sich in mehrere kleine Gänge, von denen der Hauptgang, dem wir folgen, bald nur noch einen Meter breit ist. Nach kaum 100 m beginnen schon die Schwierigkeiten. Unvermittelt stürzt die Höhle ca. 5 m senkrecht hinunter in einen tiefen, mit Wasser gefüllten Strudeltopf. Von dessen unterstem Rande, der kaum so breit ist, dass man richtig darauf stehen kann, geht es wiederum 8 m senkrecht hinunter in den nächsten Strudeltopf und von diesem weiter in einen dritten. Die Löcher haben Durchmesser von 2 bis 4 m und sind zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Mit einer Strickleiter wird die ganze « Treppe » überwunden. Dann folgt eine Erweiterung der Höhle, wo stehengebliebene Felssäulen mit seitlich oder im Höhlendach einmündenden Gängen abwechseln. Unter den letzteren finden sich bisweilen wunderschöne Sinterbildungen, die wie erstarrte Wasserfälle aussehen. Sie beweisen, dass durch diese Öffnungen grosse Mengen Sickerwasser ins Innere gelangen. An diesen Stellen ist gelegentlich ein feiner Luftzug zu verspüren, der von Dr. Segre, welcher sich hauptsächlich auf die Untersuchung der atmosphärischen Verhältnisse in den Höhlen konzentriert, mit Hilfe des Thermometers auf weite Strecken nachgewiesen werden kann. Er vermag jedoch nicht, die von Feuchtigkeit gesättigte Luft in der Höhle zu verdrängen.
Unvermittelt folgt der nächste Absturz von 20 m Tiefe. Dessen Überwindung wird dadurch besonders erschwert, dass er im obern Teil derart schmal ist, dass man reichlich Mühe hat, mit den Rucksäcken zwischen den Wänden durchzukommen Am Fuss des Absturzes befindet sich wiederum ein Teich, so dass von der Strickleiter direkt ins Boot geklettert werden muss. Nach einem kurzen Zwischenstück über Sand und Geröll folgt der « canion sotterraneo », eine lange, schmale, aber an die 40 m hohe Schlucht, auf deren Grund ein See liegt. Da das Boot nur zwei Mann fassen kann, nimmt die Überwindung dieses Stückes wieder sehr viel Zeit in Anspruch. Dann geht 's vorbei an neuen, wundervollen Tropfsteinbildungen, an « Eiszapfengruppen » und über Sinterteppiche. Wieder folgen Teile, deren Überquerung das Boot erfordert. Nach einer neuen Erweiterung der Höhle, wo seitliche Gänge einmünden, folgt eine Stelle, die jedes weitere Vordringen verunmöglicht, in Siphon. Das ist dieselbe Erscheinung, die auch in schweizerischen Höhlen bekannt ist und zum Beispiel im « Hölloch » ( an der sogenannten bösen Ecke ) oder im « Laui-Loch » im Muotatal ein weiteres Vordringen schon verhindert hat. Bei einem früheren Vorstoss war es den Italienern jedoch gelungen, diese Stelle zu bezwingen und jenseits derselben noch an die 150 m vorzudringen. Heute aber ist der Wasserspiegel zu hoch, ein Weiterkommen diesmal unmöglich. So bleibt uns nichts anderes übrig, als hier, ca. 400 m vom Eingang entfernt, den Rückweg anzutreten.
Der Rückmarsch wird durch die Sicherungsseile und die gut verankerten Strickleitern erleichtert. Trotzdem ist es eine mühevolle Arbeit, bis alles EINE HÖHLENFAHRT IN DIE ABRUZZEN ( ITALIEN ) Material wieder nachgezogen ist. Endlich, nach vierzehneinhalbstündiger unterirdischer Kletterei, sind wir wohlbehalten zurück im Lager und erfreuen uns wieder an der soeben aufgehenden Sonne.
Am folgenden Morgen erscheinen die braven Vierbeiner mit ihren Treibern am Lagerplatz und bringen unsere Gerätschaften zurück nach Pietrasecca, von wo aus wir auf einem Lastwagen gegen Abend wiederum Rom erreichen.
Damit war die gemeinsame schweizerisch-italienische Höhlenexpedition zu Ende. Das herrliche Wetter, das uns stets begleitete, und ganz besonders der kameradschaftliche Geist, der alle Teilnehmer trotz der Verschiedenheit ihrer Zunge eng verband, beschied dem Unternehmen einen schönen Erfolg. Für alle, besonders aber für uns Schweizer, brachte diese Höhlenfahrt eine Unmenge bleibender Eindrücke. Die Erforschung der Höhlen in den Abruzzen wird noch sehr viel Arbeit erfordern. Dazu wünschen wir unseren italienischen Kameraden recht vielen Erfolg.