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Eine Nachlese im alten Clubgebiet

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D. Stokar ( Sektion Randen. )

Von Wie im Vorjahr, so nahm ich auch im Sommer 1893 wieder für einige Wochen festes Standquartier in der Pension Dönz in St. Antönien. Es galt im alten Clubgebiet noch eine Nachlese zu halten und einiges nachzuholen, was bisher noch unerledigt geblieben war. Da war einmal der letzten Sommer mißglückte Versuch, direkt über die Südwand auf die Sulzfluh zu kommen, mit hoffentlich besserem Erfolg zu wiederholen. Dann war das ”Frygebirg ", die wild zerrissene Kette Madriserhorn-Madriserspitz, genauer in Augenschein zu nehmen und in den Hauptgipfeln zu besteigen; endlich hatte mich unser Clubgenosse Herr Oskar Schuster in Dresden darauf aufmerksam gemacht, daß wahrscheinlich der Drusenfluh noch von einer neuen Seite, vom Gletscherchen im Tiergarten aus beizukommen wäre.

Der Anfang wurde mit dem Frygebirg gemacht. Diese nicht viel mehr als 1'Is Kilometer lange Kette muß mit ihren kühn geformten Zacken jedem aufgefallen sein, der schon einmal einen Blick in das prächtige Gafierthal geworfen hat. Sie gipfelt in fünf Hauptspitzen, von denen nur die äußerste und höchste, der Madriserspitz, bekannt und wiederholt bestiegen war; über ihn berichtet im letzten Jahrbuch Herr A. Ludwig. Die übrigen sind nach der Clubkarte von West nach Ost gezählt die Punkte: 2684, mit dem sich die Kette vom nordwärts ziehenden Hauptkamm abzweigt; dann nahe bei einander Punkt 2741 und 2757 und endlich näher beim Madriserspitz Punkt 2750. Diese Höhenzahlen dürften allerdings kaum zutreffend sein; der Unterschied zwischen den beiden mittleren Gipfeln kann unmöglich 16 Meter betragen; sie werden vielmehr fast bis auf den Meter gleich hoch sein, vielleicht eher noch der nach der Karte niedrigere westliche um eine Kleinigkeit höher als sein östlicher Nachbar. Diese beiden mittlern Spitzen sind die stolzesten und dominieren das Gafierthal so imponierend, daß ich es in erster Linie auf sie abgesehen hatte; die beiden anderen sind weniger verlockend und konnten daher einstweilen außer Betracht bleiben.

Ob diese Gipfel bestiegen seien oder nicht, war in St. Antönien nicht in Erfahrung zu bringen. Da die Kette ganz auf österreichischem Boden liegt, so ist sie den hiesigen Gemsjägern nicht bekannt. Den Namen „ Frygebirg " leiten sie von der Wildheit des Bergzuges ab, der den Jägern unzugänglich sei und in dem sich die Gemsen frei und sicher vor Verfolgung fühlen können. Davon, daß etwa ein Recht der schweizerischen Jäger auf diese Kette bestehe, daß sie somit für sie ein Freigebirg sei, wie Herr Ludwig im letzten Jahrbuch pag. 8 andeutet, habe ich nichts vernommen.

Um einmal mit dem Fernrohr von einem geeigneten Standpunkt aus die richtige Angriffsstelle zu erspähen, steuerte ich am 21. Juli früh in Begleitung des Herrn L. Schröter aus Zürich den Gargellenköpfen zu, welche schon Herr Ludwig ganz richtig als den geeignetsten Posten zur Beobachtung der Kette bezeichnet hat. Schlechtes Wetter nötigte uns zur Rückkehr, bevor wir den Gipfelgrat erreicht hatten. Als Rekognoszierungstour war die Fahrt aber doch nicht verloren, indem wir unser Objekt nahe genug zu Gesicht bekamen, um zu dem gewünschten Resultat zu kommen. Wir wurden einig, daß wir zunächst den westlichen, irrtümlich mit 2741 bezeichneten der beiden mittleren Gipfel in Angriff nehmen würden, und zwar durch ein Couloir, das etwas westlich von der Spitze in einer leichten Einsattelung auf den Gipfelgrat ausmündet. Einen anderen Zugang, der einige Aussicht auf Erfolg geboten hätte, konnten wir nicht entdecken. Die Aufgabe war augenscheinlich wenn nicht unlösbar, so doch jedenfalls keineswegs leicht. Hätten wir es mit einem Kalkgebirg zu thun gehabt, so wären wir wohl von vorneherein vom Versuch abgestanden. Da aber die Kette offenbar aus demselben großbrüchigen, dunkeln, krystallinischen Gestein besteht wie das Madriserhorn und dieses für den Kletterer viel günstiger ist als Kalk, so wollten wir immerhin unser Glück versuchen.

An einem der nächsten schönen Tage, Dienstag den 25. Juli, machten wir uns früh auf den Weg, wiederum Herr L. Schröter und ich. Einen Führer nahmen wir nicht mit, da doch niemand zu haben war, der das Frygebirg näher gekannt hätte. Unser Weg führte uns zunächst in den Hintergrund des Gafierthals und dann über großblockige Schutthalden und Schneefelder aufwärts gegen das Madriserhorn zu, dem wir Tags zuvor in größerer Gesellschaft einen Besuch abgestattet hatten. Wir konnten im Schnee ganz deutlich die Spuren der gestrigen vergnüglichen Rutschpartie verfolgen. Der direkteste Weg zu unserm Zielpunkt hätte eigentlich aus dem Hintergrund des Gafierthals beim Hochstelli direkt links bergan geführt, auf den niedrigen Kamm zu, der sich vom Madriserhorn gegen die Gargellenköpfe hinzieht. Der Abhang sah aber mit seinen endlosen, steilen Schutthalden so abschreckend aus und schien zwar nicht eine unmögliche Kletterei, wohl aber eine so ungemütliche Schinderei zu versprechen, daß wir einen namhaften Umweg vorzogen und ohne besondere Anstrengung auf den Sattel Punkt 2611 zusteuerten, die Stelle, wo sich nach Südosten der Valzifenzergrat und nach Nordosten unser Frygebirg vom nördlich streichenden Hauptkamm abzweigen. Der Umweg war freilich kein kleiner, indem wir cirka 150 Meter über Schutt und Schnee wieder absteigen mußten, um an den Westfuß unseres Zielpunktes zu gelangen. Ein Blick in die Tiefe zeigte uns aber, daß wir diese Abweichung von der geraden Linie nicht zu bereuen hatten. Die infam steile Schutthalde hätten wir nicht hinaufkeuchen mögen. Hier in der Höhe von cirka 2400 Meter ließen wir uns zur ersten Rast nieder, um uns auf die bevorstehende Arbeit zu stärken und den Berg einer genauen Inspektion zu unterziehen. Das Resultat war ein wenig ermutigendes. Unmittelbar vor uns erhob sich die Kette in drohend steilen, dunkeln Wänden. Die Möglichkeit, daß wir wirklich den westlichen der beiden mittleren Gipfel, auf den wir es zunächst abgesehen hatten, würden erreichen können, erschien sehr problematisch. Es bestätigte sich, daß das von uns bei unserer Rekognoszierungstour wahrgenommene Couloir die einzige Stelle war, an welcher der düstere Geselle möglicherweise zugänglich sein konnte. Die Aussicht auf Gelingen wurde aber durch den fatalen Umstand nicht gesteigert, daß das Couloir etwa in Zweidrittelshöhe durch einen großen eingeklemmten Block gesperrt schien. Mit wenig Hoffnung auf Erfolg machten wir uns an die Arbeit, alles entbehrliche Gepäck unter einem großen Stein geborgen zurücklassend. Zunächst ging es über Schnee und grobblöckige Trümmerhalden empor; die Steigung wurde allmählich steiler, bis wir schließlich an die eigentlichen Felsen gelangten. In keineswegs besonders schwieriger Kletterei drangen wir weiter und weiter empor, mündeten in das bewußte Couloir ein und kamen endlich auch an die gefürchtete, entscheidende Stelle. Da war in der That der hier ziemlich enge Spalt durch einen derben, festgekeilten Block versperrt, über den wegzuklettern so ziemlich unmöglich schien. Wir waren schon darauf gefaßt unverrichteter Dinge umkehren zu müssen, da zeigte sich zu unserer angenehmen Überraschung, daß unter dem Block noch eine Öffnung ausgespart war, in der ein beleibter Mann allerdings stecken bleiben würde, durch welche wir beide uns aber eben noch emporwinden konnten. Oben angelangt sahen wir, daß auch das Umklettern des Blockes nicht zu den Unmöglichkeiten gehören würde.

Es ging nun wieder in der bisherigen Weise, doch mit wachsender Schwierigkeit, weiter, und schließlich mündeten wir in einer kleinen, flachen Einsattelung auf den Grat aus. So weit dieser sich überblicken ließ, war er nach links aufwärts ohne Schwierigkeit gangbar. Wir waren aber ganz auf die unliebsame Überraschung gefaßt, daß wir nächstens vor einem tief eingerissenen Grateinschnitt stehen würden, jenseits dessen sich der uns unzugängliche Gipfel erheben würde.Voll gespannter Erwartung eilten wir daher über den Grat empor und standen plötzlich nach wenigen dutzend Schritten ganz verblüfft oben. Kein Zweifel, wir hatten den Gipfel erreicht, einen ziemlich langen schmalen Grat in der Richtung von Nordwest nach Südost. So war denn die Aufgabe gelöst, wir wußten kaum wie; fast wollte uns eine gewisse ärgerliche Enttäuschung beschleichen, daß der gefürchtete Berg nicht mehr Schwierigkeiten geboten hatte. Die Felsen sind wohl sehr steil und auch nicht fest; häufig brach unter der prüfend tastenden Hand ein Brocken los; was aber einmal festhielt, das bot mit der rauhen Oberfläche reichlichen Halt für Hand und Fuß. Im übrigen war die ja immerhin nicht gerade leichte Kletterei vermöge der abschreckend düsteren Umgebung hochinteressant und romantisch gewesen, so daß wir uns wohl zufrieden geben konnten.

Das erste nach der Ankunft auf dem Gipfel war natürlich, daß wir uns nach Spuren früherer Besucher umsahen. Zu unserer großen Befriedigung fand sich absolut nichts; wir waren demnach die ersten Besteiger des schönen, wenn auch namenlosen Gipfels, oder doch zum allermindesten die ersten touristischen Ersteiger.

Die Aussicht war tadellos hell und aufs schönste beleuchtet. Nach Norden, Osten und Westen ist sie nicht wesentlich von derjenigen des Madriserhorns verschieden, welch letzteres natürlich sozusagen die ganze Südseite verdeckt und übrigens selbst einen ganz prächtigen Vordergrund abgiebt. Ganz besonders interessant ist aber der Blick auf die wild zerrissene Kette des Frygebirges, auf dessen wahrscheinlich zweithöchster Spitze wir standen, namentlich auf den äußersten und höchsten Gipfel, den Madriserspitz, der mit seinem feinen, schlanken Gipfelköpfchen und seinem jähen Absturz nach dem Gargellenthal eine Bergphysiognomie ganz eigener Art zur Schau trägt. Hätte ich eine Ahnung gehabt, daß die Besteigung nicht schwieriger sein würde, so hätte ich den photographischen Apparat nicht unten liegen lassen. Der Madriserspitz würde ein Bild von seltenem Reiz geben, und auch das Madriserhorn scheint förmlich nach der Camera zu rufen.

Auf dem äußersten Punkt des Grates gegen das Gafierthal zu errichteten wir in gut einstündiger Arbeit einen nahezu mannshohen Steinmann, den man auch vom Thal aus recht deutlich wahrnimmt.

Nach reichlich einstündigem Aufenthalt wurde wieder aufgebrochen. Es galt, womöglich dem nächsten Nachbarn im Osten auch noch einen Besuch abzustatten. Derselbe kehrte uns allerdings eine nackte, schwarze Wand zu, an der jeder Versuch von vorneherein ausgeschlossen war. Möglicherweise konnte er aber doch auf der hinteren, südlichen oder südöstlichen Seite seine Achillesferse haben. Um zu dieser zu gelangen, mußten wir aber erst in den Sattel zwischen den beiden Gipfeln zu kommen trachten. Zu unserer Überraschung ließ sich das auf die bequemste Weise ausführen durch eine steile Runse in der hinteren Wand unseres Gipfels, durch deren feinen, losen Schutt wir ein gutes Stück am Stock stehend abfahren konnten. Auch vom Sattel aus zeigte sich eine steile, nur selten durch niedere Felsstufen unterbrochene Rasenhalde, über welche wir ohne eine Spur von Schwierigkeit den Gipfel erreichten. Der Übergang vom ersten zum zweiten Gipfel hatte wenig über 20 Minuten in Anspruch genommen. Auch hier war keine Spur eines früheren menschlichen Besuchs zu finden. Wir mußten uns aber sagen, daß die beiden Spitzen bei ihrer auf der Südseite so überraschend leichten Zugänglichkeit fast notwendig schon gelegentlich von Gemsjägern haben besucht werden müssen. Auf dem zweiten Gipfel, einem ziemlich breiten Plateau, errichteten wir nur schnell ein kleines Steinhäufchen, in dem wir eine Notiz über unsere Besteigung bargen, und traten dann den Rückweg an. Vom Sattel aus zogen wir uns vor dem erstiegenen Gipfel durch über Schutt, Schnee und leichte Felsen abwärts unserem Ausgangspunkte zu, und erreichten ohne allen Aufenthalt den Lagerplatz mit dem zurückgelassenen Gepäck.

Zunächst galt es nun, einen günstigen Standpunkt zur photographischen Aufnahme der Frygebirgkette zu finden. Unser Lagerplatz lag ihr zu nahe. Da es noch früh am Nachmittag war, so bummelten wir gemächlich über den Rasengrat gegen die Gargellenköpfe zu, bis wir bei Punkt 2463 die gewünschte Stelle fanden, von der aus das Bild sich aufs schönste präsentierte.

Von hier aus erblickten wir den auf hoher, einsamer Terrasse gelegenen kleinen, aber sehr hübschen Gafiersee, der an prachtvoller Färbung dem Partnunsee nichts nachgiebt. Zu dieser Terrasse stiegen wir nun über steile Rasenhalden hinab, und von dort war durch eine abschüssige, mit beweglichem Schutt gefüllte Runse die Sohle des hinteren Gafienthales bald erreicht. In Gafien-Stafel, auf der Karte einfach Gafien genannt, machten wir längeren Halt in der obersten Hütte, in der dieses Jahr eine ganz gut eingerichtete, saubere und gute Wirtschaft eröffnet worden war, welche bei den Partnuner und St. Antönier Kurgästen vornehmlich um ihres ausgezeichneten „ geschwungenen " Rahms willen bekannt war und sich zahlreichen Besuchs erfreute. Hochbefriedigt von der pittoresken, an prächtigen Bildern so reichen Tour kamen wir Abends in St. Antönien wieder an. Über die Zeit habe ich leider keine genauen Notizen. Wir mögen den ersten Gipfel in cirka 5 Stunden erreicht haben, eine halbstündige Rast inbegriffen.

Nach einer längeren Regenperiode konnte erst Donnerstag den 3. August wieder an größere Unternehmungen gedacht werden. Der Tag wurde dem schon erwähnten Versuch einer Drusenfluh - Besteigung vom Gletscherchen im Thiergarten aus gewidmet. Mein vorjähriger Drusenfluh- führer, Lehrer Michel, schloß sich mir auch diesmal wieder an. Da der Versuch nicht zum Ziel geführt hat, so verzichte ich auf eine nähere Schilderung des Hergangs. Durch ein unten tief eingerissenes, nach oben sich mehr und mehr verflachendes Couloir drangen wir bis etwa Zweidrittelshöhe des Berges vor, in beständig schwieriger, häufig sehr schwieriger Kletterei, oft mit dem Seil arbeitend. Wo das Couloir auslief, konnten wir eine schmale Terrasse erreichen, welche ein Stück weit nach links führte, und dort zeigte sich in geringer Höhe über uns ein neues Couloir, das weiteres Fortkommen zu versprechen schien. Zu diesem Couloir hinüber zu traversieren, erwies sich aber als unthunlich; bei wiederholtem Ansetzen wollte sich für die noch fehlenden vielleicht 15-20 Kletterzüge nicht der geringste Halt für Hand und Fuß finden, und so mußten wir, wohl oder übel, den Rückweg antreten. Fast wider Erwarten kamen wir nach reichlich 4Va stündiger, ununterbrochener Kletterei glücklich wieder unten an, nicht zum wenigsten dank der hervorragenden Tüchtigkeit Michels, der in Kraft, Gewandtheit und Ruhe alle Eigenschaften eines Kletterers von hohem Rang entwickelte und gegenüber dem Vorjahr augenscheinlich ganz gewaltige Fortschritte gemacht hatte. Eine Wiederholung des Versuchs möchte ich nicht anraten; wir durften froh sein, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Eigentlich waren wir schon lange weiter geklettert, viel weniger in der Erwartung, den Gipfel erreichen zu können, als vielmehr in der Hoffnung, einen andern Ausweg zu finden und nicht auf der Anstiegsroute wieder umkehren zu müssen. Über den höchsten Turm des östlichen Drusenfluhmassivs hat Herr A. Ludwig im letzten Jahrbuch berichtet. Es hätte daher keinen Zweck, ausführlich auf die Besteigung dieses Gipfels einzugehen, die ich am 7. August mit drei Begleitern, darunter ein 14jähriger Knabe, ausführte. Ich kann nur bestätigen, daß die Schilderung Herrn Ludwigs durchaus zutreffend, die Tour wirklich sehr leicht und in hohem Grade lohnend und die Aussicht wundervoll ist. Abweichend von Herrn Ludwig überschritten wir das Drusenthor und zogen uns etwas unterhalb der Paßhöhe auf der Österreicher Seite über Schutthalden langsam aufwärts, bis wir in das Schneefeld einmündeten, das zwischen dem mittleren und kleinsten Turm auf die Grathöhe führt und über welches auch Herr Ludwig aufgestiegen ist. Unsere Route dürfte wohl etwas bequemer und nicht länger sein, als die seinige. Besonders interessant war es mir, auf dem kleinsten Turm ( 2755 ) ein unverkennbares Steinmännchen und damit die Bestätigung des in St. Antönien bisher rundweg bestrittenen Gerüchts von der Besteigung dieses Zackens zu erblicken. Im Nachtrag auf der letzten Seite des Jahrbuchs fand ich dann nachträglich das Genauere angegeben. Ich hätte in der That nicht geglaubt, daß diese das Matterhorn an nadelähnlicher Schlankheit womöglich noch übertrumpfende Spitze bezwungen werden könnte.

Am 9. August wiederholte ich mit den Herren Ludwig Schröter und Seminarlehrer Imhof in Schiers die voriges Jahr erstmalig ausgeführte Besteigung der Drusenfluh von der Südseite aus über den Roten Gang. Es ist das immerhin ein tüchtiges Stück Arbeit, das mir jetzt das zweite Mal noch fast schwieriger vorkam, als bei der ersten Ersteigung. Ein tüchtiger Führer wird übrigens auch einen mittleren Kletterer ohne Schwierigkeit am Seil hinaufbringen, sofern er nur schwindelfrei ist. Das Seil hatten wir freilich zu Hause gelassen und vermißten es schwer. Die schwierigste Stelle unterhalb der Grathöhe konnten wir diesmal umgehen, indem sich nach links ein etwas leichterer Übergang auf den Grat fand. Auch die steile Platte, über welche es nach Erreichung des Grats jenseits zunächst ein Stück weit abwärts geht, war seit dem Vorjahr namhaft leichter geworden, indem sie gut zur Hälfte mit aufgefallenem Geröll bedeckt war. Im künftigen Sommer ist sie vielleicht schon ganz verschwunden.

Auf Punkt 2633 trafen wir zu unserer freudigen Überraschung mit Herrn Ludwig zusammen, der in Begleitung des Herrn stud. jur. Hartmann aus Schiers den von Herrn Schuster in umgekehrter Richtung zum ersten Mal gemachten Weg vom Schweizerthor aus selbständig neu gefunden hatte. Wir stiegen gemeinschaftlich vollends zum Gipfel auf, der trotz schönem Wetter eine nur mittelmäßig helle Aussicht bot. Ich habe an dieser Stelle noch einen Irrtum in meinem vorjährigen Artikel zu berichtigen. Ich sprach dort die Ansicht aus, die Kirchlispitzen könnten über Rasenstreifen von Süden aus erstiegen werden. Von diesen Rasenstreifen konnte ich nun nichts mehr entdecken und müßte sehr bedauern, wenn sich jemand durch meine irrige Angabe zu einem aussichtslosen Versuch verführen lassen sollte. Bei der geringen Anziehungskraft, welche die abgelegene und wenig charakteristische Bergkette ausübt, ist das allerdings wenig wahrscheinlich. Beim Rückweg trennten wir uns, indem Herr Ludwig sich wieder zum Schweizerthor wendete, während wir nach Norden durch die Mulde absteigen wollten, durch welche die Herren Blodig und Sohm und später Herr Schuster den Berg bestiegen haben. Schon ziemlich weit unten angekommen, fanden wir es aber angezeigt, wieder umzukehren, da das die Mulde ausfüllende Schneefeld in dem heißen Sommer ungewöhnlich stark abgeschmolzen und weit unten augenscheinlich durch einen Absturz unterbrochen war. Ob dieser zu überwinden wäre, erschien sehr zweifelhaft, und so zogen wir es vor, noch rechtzeitig umzukehren und bis nahe zum Gipfel wieder aufzusteigen und der Partie Ludwig nachzufolgen. Auf Punkt 2633 holten wir diese wieder ein und stiegen mit ihr zum Schweizerthor ab. Die letzten paar hundert Meter geht es dort über steile Felsen, die aber von so vorzüglicher Beschaffenheit sind, daß von ernstlicher Schwierigkeit keine Rede sein kann. Diese Route kann somit lebhaft empfohlen werden. Auf dem Heimmarsch nach St. Antönien gerieten wir noch mitten in den Ganden drin in die stockfinstere Nacht und wurden vor einem unfreiwilligen Bivouak ohne alle passende Ausrüstung nur durch den unerwarteten Glücksfall bewahrt, daß wir auf meinen Führer Michel stießen, der uns, dank seiner genauen Ortskenntnis, glücklich nach Hause führte.

Es blieb mir nun noch eine Hauptaufgabe übrig, die im vergangenen Sommer mißglückte Besteigung der Sulzfluh direkt über die Südwand, über das sogenannte „ Sträßli ". Vor etwa 30 Jahren sollen einmal zwei Jäger, darunter ein einarmiger, die Sache ausgeführt haben; seither hat sich niemand mehr daran gewagt. Es wurde mir von verschiedenen Seiten zugeredet, ich solle das Gott versuchende Wagestück unterlassen. Meine Erinnerung vom vorigen Jahr und wiederholte genaue Untersuchung der Wand mit dem Fernrohr wollten damit aber nicht stimmen, ließen mich eher zu dem Schluß kommen, unter günstigen Umständen, bei trockenem Fels, sei es mit der Gefährlichkeit nicht gar so arg bestellt. Schwierig war es nur, einen Führer zu finden. Michel lehnte nicht geradezu ab, war aber wenig zuversichtlich, und auch augenblicklich gar nicht zu haben, da er weit oben in einem abgelegenen Mähder beim Heuen war. Da erklärte sich Conrad Flutsch, genannt Zuchueret, bereit, mit mir zu kommen, derselbe, der mir schon voriges Jahr den richtigen Zugang zur Drusenfluh geöffnet hatte. Mit dem, das wußte ich aus Erfahrung, war ich aufs denkbar beste versorgt. So berichtete ich ihm denn nach Partnun, wo er während der Heuernte wohnte, wir würden Sonntag den 13. August die Sache zusammen versuchen. Als keine Antwort kam, glaubte ich schon zu meinem großen Ärger von der Sache absehen zu müssen, als sich glücklicherweise der Landjäger und Grenzwächter Buzzi, ein jüngerer, kräftiger Mann und eifriger Gemsjäger, zum Mitkommen bereden ließ. So zogen wir Sonntag früh aus und zwar zunächst nach Partnun, um nachzusehen, was mit Flütsch los sei. Derselbe erwartete mich und schloß sich uns an; sein Bericht war mir nur durch ein Mißverständnis nicht zugekommen.

In gemächlichem Schritt zogen wir bei prächtigem Wetter durch die Mähder der Sulzfluh entgegen. Wir nahmen uns vor, die Sache in keiner Weise erzwingen zu wollen, sondern ruhig umzukehren, wenn die Gefahr wirklich zu groß sein sollte.

Die Kletterei bis zu dem etwa in Zweidrittelshöhe der Wand beginnenden Sträßli ist absolut nicht schwierig. Es geht meist durch breite Rinnen aufwärts; man hat stets reichlich Halt und muß nur wegen der häufig sich lösenden Steine Obacht geben. Es kletterte deshalb meist nur einer auf einmal, während die anderen in gedeckter Stellung warteten, bis er irgendwo sicheren Stand gefaßt hatte. Überraschend sehne 1 kamen wir so auf dem „ Sträßli " an, einer breiten, sehr abschüssigen Halde, welche sich links aufwärts auf den Grat zwischen den beiden Gipfeln zieht.

Auf einer vorspringenden Ecke ließen wir uns nieder, um die gefürchtete Passage genauer anzusehen. Es war genau die Stelle, an der wir voriges Jahr umgekehrt waren, weil das Band damals mit frischen Hagelkörnern bedeckt war. Der erste Anblick war in der That ein abschreckender. Das Band oder, richtiger gesagt, die Halde fällt außerordentlich steil gegen den Abgrund ab und ist aus sehr schlechtem bröckligem Material zusammengesetzt. Die unterhalb liegende, 5—600 m tiefe Wand ist unter dem unteren Rand der Halde nicht sichtbar, so daß der Blick unvermittelt in den Abgrund fällt und erst weit unten die Weideterrassen am Fuß des Berges erreicht. Geradeaus durch die Mitte der Halde ging es nicht, das war ganz klar. Dem unteren Rande nach war es vielleicht nicht unmöglich, aber augenscheinlich sehr schwierig. Blieb noch die Möglichkeit, zuoberst der Wand entlang vorzudringen. Buzzi wurde als Kundschafter ausgesandt und rief uns auch bald zu, wir sollten nur nachkommen, es gehe. Es ging auch in der That unter der anfänglich etwas überhängenden Felswand durch, dann etwas abwärts über bröckligen Felsen und wieder aufwärts auf einen zweiten Vorsprung und so weiter mehrmals abwechselnd in eine Einbuchtung hinein und wieder auf einen Vorsprung hinaus. Das Terrain war nicht gar so schlecht, wie ich erwartet hatte, allerdings bröcklig, aber doch nicht bloß lose aufliegendes Geröll. Eigentlich schwierige Klettergriffe gab es kaum; es war mehr eine recht ausgiebige Schwindelprobe als ein Kletterkunststück. Ich möchte es am ehesten mit der verschrieenen „ bösen Nase " am Vorder Mürtschenstock vergleichen. Wie jeder Vergleich, hinkt freilich auch dieser etwas; an der „ bösen Nase " hat man den Abgrund noch unmittelbarer unter sich, während hier zwischen dem Kletterer und dem Abgrund noch ein Stück abschüssiger Halde liegt. Was ärger sei, kann übrigens erst noch zweifelhaft sein. Wenn man den Absturz nicht sieht und der Blick ohne alle Vermittlung ins Leere taucht, so kann unter Umständen der Eindruck der gähnenden und lockenden Tiefe noch stärker sein als wenn man direkt am Abhang klebt und ihn selbst mit seiner Böschung, seinen Vorsprüngen und Absätzen überblickt. Ein wesentlicher Unterschied besteht freilich auch darin, daß am Mürtschen die ganze Geschichte in etwa 20 Schritten abgemacht ist, während es hier gewiß 20 Minuten lang so fortgeht. Nun ist ja freilich der Ruf des Mürtschen als eines sehr schwierigen Bergs ein stark übertriebener, und so wird auch der schwindelfreie Gänger auf dem „ Sträßli " nichts finden, vor dem er zurückzuschrecken brauchte. Wir legten die Strecke in aller Ruhe und Gemächlichkeit zurück, ohne je zu stocken und an die Verwendung des mitgebrachten Seils zu denken. Als wir endlich oben im Sattel zwischen den beiden Gipfeln standen, waren wir alle drei darin einig, daß die Sache noch ein gutes Teil schwieriger hätte sein dürfen, ohne daß wir deshalb umgekehrt wären.

Im Sattel stand ein Stock mit Überresten eines Fahnentuchs. Wie mir meine Begleiter erklärten, ist das ein Jägerkniff. Die Gemsen benützen das bisher als ungangbar geltende „ Sträßli " natürlich mit Vorliebe als Ausgang, wenn sie von unten gejagt werden, und da hofft man sie durch das flatternde Tuch erschrecken und zur Umkehr, dem lauernden Jäger entgegen bringen zu können. Ich möchte fast befürchten, unsere heutige Expedition, durch welche das „ Sträßli " den Jägern als gangbar erwiesen worden ist, dürfte in der Folge dem einen und anderen der hübschen Tiere das Leben kosten.

Ein kurzer Marsch über Schnee und den obersten Grat brachte uns auf den Gipfel, auf dem wir trotz dem schönen sonnenwarmen Tag nur eine Aussicht von mittlerer Klarheit trafen. Die ganze Besteigung hatte von Partnun aus kaum 21/2 Stunden gedauert, obschon wir uns in keiner Weise beeilt hatten. Auf dem gewöhnlichen Weg durch das Gemstobel müßte einer gewaltig ausziehen, wenn er in derselben Zeit oben sein wollte. Unser Weg hat somit gegenüber dem recht einförmigen durch das Gemstobel neben dem Vorzug des größeren Interesses auch noch denjenigen der Kürze. Schwindelfreie Bergsteiger sollten ihn in Zukunft stets wählen.

Den Abstieg nahmen wir zur Tilisuna-Clubhütte, die heute zahlreichen Besuch namentlich aus dem Montafun hatte. Da fand sich denn die beste Gelegenheit, Genaueres über die angebliche Schmuggelgeschichte zu vernehmen, welche den Zeitungen so viel zu schreiben gegeben und sogar diplomatische Verhandlungen veranlaßt hat. Mein Begleiter Flutsch war selbst beteiligt, indem auch sein Vieh in der Herde war, die sich über die Grenze verirrt hatte und von den österreichischen Grenzwächtern mit Beschlag belegt worden war. Seine Pferde hatte er erst wenige Tage vor dem Vorfall von der Alp weggeholt, sonst wären sie auch nach Feldkirch gewandert. Alles, auch die anwesenden Österreicher, war einig im Schimpfen über die verhaßten Grenzer, welche die wirklichen Schmuggler fast nie erwischen und dann ihren Übereifer an einer harmlosen Viehherde ausgelassen hätten. Es muß ein ungemütliches Handwerk sein, so vom Haß der ganzen Bevölkerung verfolgt die Grenze hüten zu müssen. Alles hilft den Schmugglern und legt den Grenzern alle denkbaren Hindernisse in den Weg, was ja gewiß nicht schön, aber am Ende als eine Art Notwehr menschlich zu begreifen ist, wo der Staat dem Volk seine unentbehrlichsten Genußmittel wie Kaffee und Tabak dermaßen verteuert, daß an einem einzigen glücklich durchgeschmuggel-ten Sack eine namhafte Summe verdient werden kann. Übrigens hat doch in letzter Zeit der Schmuggel nur gegenüber dem Vorjahr merklich abgenommen, weil die Grenzposten kürzlich verdoppelt worden sind. Wenigstens waren die österreichischen Schmuggler, die noch vorigen Sommer alle paar Tage sich in St. Antönien einstellten, um sich ihre Säcke füllen zu lassen, dies Jahr seltene Gäste geworden.

Den Rückweg nahmen wir liber den Grubenpaß, der, recht bezeichnend, bis zur österreichischen Grenze ganz gut angelegt und unterhalten ist, auf Bündner Boden aber sofort in eine rauhe, holprige, sich mehr und mehr verlierende Wegspur übergeht, welche schon manchen im Wegfinden nicht Routinierten auf üble Irrgänge in den rauhen Karrenfeldern geführt hat. Es ist das übrigens nicht der alte auf der Karte verzeichnete Paßweg, der sich mehr an der östlichen Seite der Grubenmulde hinzieht und wenig mehr begangen wird, sondern der bedeutend kürzere auf der Karte nicht angegebene sogenannte Schmugglerpfad.

Die Sulzfluh war meine letzte Besteigung von St. Antönien aus. Herr Schröter war schon abgereist und ein Führer war nicht mehr aufzutreiben, da alle Mannschaft beim Heuen beschäftigt war. So mußte ich darauf verzichten, auch den östlichen Teil des Frygebirgs bis zum Madriserspitz noch zu begehen, wie ich mir vorgenommen hatte.

Das alte Clubgebiet ist nunmehr, wenigstens soweit ich es kenne, d.h. im Hauptkamm vom Schweizerthor bis zum südlichsten Ausläufer, der Saaser Calanda, nahezu vollständig abgesucht und auch im Jahrbuch beschrieben, so daß die dem S.A.C. gestellte Aufgabe als gelöst gelten kann. Was etwa noch zu leisten wäre, ist kaum von Belang. Eine Wiederholung des von den Herren Imhof und Schuster im Sommer 1892 gemachten Versuchs, direkt über die Südwand auf den Gipfel der Drusenfluh zu klettern, dürfte doch wohl wenig Aussicht auf Erfolg bieten. Lohnend und gewiß nicht übermäßig schwierig wäre die eben genannte Gratwanderung im Frygebirg und für einen unternehmungslustigen Kletterer böte sich noch eine schöne Aufgabe in der Ersteigung der Sulzfluh vom Drusenthor aus, von der Herr Ludwig im letzten Jahrbuch spricht und die auch in der That ein Gemsjäger einmal ausgeführt haben soll. Freilich soll er nachher erklärt haben, er würde es um keinen Preis zum zweitenmale thun. An der steilen Westwand der Scheienfluh endlich findet sich eine Stelle, die von Jägern schon passiert worden ist, und von einer anderen meinten meine Bekannten, dort könnte man einmal einen Versuch machen.

Ich habe St. Antönien noch im Zustand seiner unverfälschten Ursprünglichkeit genossen. Wer weiß, wie lange es noch so bleiben wird. Es ist unverkennbar als Luftkurort im Aufblühen begriffen. Von Jahr zu Jahr vermehrt sich die Zahl seiner Besucher und schon soll der Bau eines neuen Gasthauses geplant sein. Wenn mehr Raum und auch etwas mehr Bequemlichkeit geschaffen wird, so ist das gewiß nur zu begrüßen und braucht der Behaglichkeit noch keinen Abbruch zu thun. Hoffentlich fällt das Thal aber nicht den großen Hotels mit ihrem internationalen Publikum zur Beute. Es wäre Schade um seine großen Naturschönheiten und seine wackeren Bewohner, wenn sie auf diese Weise verdorben werden müßten.

II. Freie Fahrten.

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