Eine Wallfahrt ins Überirdische (Mont Blanc) | Club Alpino Svizzero CAS
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Eine Wallfahrt ins Überirdische (Mont Blanc)

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Meine erste Mont-Blanc-Besteigung

Werner Güller, Freiburg i. Br.

Meine erste Mont-Blanc-Besteigung An einem selten klaren Herbsttag des Jahres 1948 stand ich auf der Kuppe des Belchens, des formschönsten Schwarzwaldberges. Die Reinheit des Äthers liess selbst das ferne, glänzende Firnhaupt des Mont Blanc in scheinbar greifbare Nähe rücken. Damals keimte in mir ein Sehnen, den höchsten Gipfel unseres Erdteils zu ersteigen; dass der Wunsch sechs Jahre später in Erfüllung gehen sollte, hätte ich mir damals allerdings nicht träumen lassen.

Eine Schönwetterperiode des Spätsommers 1954 benützte ich, um von Freiburg mit meinem damaligen « Fiat-Topolino » über die Grimsel und durchs Rhonetal nach Martigny zu fahren. Da die Verbindungsstrasse von Martigny über die Passhöhe La Forclaz damals noch in sehr schlechtem Zustand war - die neue, ausgezeichnete Fahrstrasse wurde 1957 für den Verkehr freigegeben -, zog ich die Benützung der Bergbahn einer halsbrecherischen Autofahrt vor.

Nach Verlassen eines langen Tunnels hatte ich in elementarer Unmittelbarkeit den Eisdom des Mont Blanc vor Augen, die bizarren Felsnadeln seiner Trabanten, die riesigen Eisströme, von denen der Glacier des Bossons und der Glacier de Taconnaz sich gleich urweltlichen Riesendra-chen in die Waldregion hinabwälzen. Wie aus Messungen immer wieder hervorgeht, ist der Glacier des Bossons im Gegensatz zu vielen anderen Gletschern des Alpengebietes in ständigem Zunehmen begriffen. Himmelstürmend reckten sich die schneekuppengekrönte Aiguille Verte und die glatten, abweisenden Wände der Drus nach oben. Je mehr sich die Bahn ihrem Bestimmungsort Chamonix näherte, um so geradliniger schien die wild drohende Lanzenreihe der Aiguilles de Chamonix mit ihren an gotische Fialen erinnernden Gratzacken emporzuschiessen.

Nach eingehenden Erkundigungen über die vorteilhafteste Anstiegsroute brach ich mit einem Kameraden zur Besteigung des « Weissen Berges » auf. Ein Omnibus brachte uns zunächst nach Les Houches, einer Ortschaft, welche am Fuss der Aiguille du Gôuter liegt. Unvorstellbar hoch ragt dieses 3835 Meter hohe, langgestreckte und schneefransengesäumte Felsmassiv, dessen Schneekehlen von häufigen Stein- und Eislawinen bestrichen sind, zum Himmel. In der Kabine einer Seilbahn schwebten wir sodann zum Sattel Bellevue, wo wir in die von St-Gervais kommende « Tramway du Mont Blanc » umstiegen. Die inzwischen elektrifizierte und modernisierte Zahnradbahn bestand damals aus einem Personenwagen mit grösstenteils zerbrochenen oder mit Pappe verklebten Fenstern. Und dieser Personenwagen wurde von einer heftig keuchenden Dampflokomotive stossweise und in sehr langsamem Tempo vorwärtsgeschoben. In seiner ursprünglichen Komik erinnerte das « Gefährt » geradezu an die seligen Zeiten eines Friedrich List und hob sich spielzeugartig von der imposanten Hochgebirgswelt ab. Auf etwa 2400 Meter Höhe verliessen wir die « Tramway » bei der Endstation « Glacier de Bionassay ».

Unter Benützung von Wegspuren stiegen wir nunmehr über Geröll und leichte Felspartien zu der auf einem Sporn gelegenen bewirtschafteten CAF-Hütte « Tête Rousse » ( 3167 m ) auf. Zur Rechten hatten wir ständig die formschöne und majestätische Aiguille de Bionassay, deren jähe Eisabstürze an die Nordflanke des Liskamms erinnern, vor Augen. Da wir erst in den frühen Abendstunden auf der The Rousse ankamen, mussten wir von dem ursprünglichen Plan, noch bis zur Aiguille-du-Gouter-Hütte aufzusteigen, Abstand nehmen.

Am folgenden Tag ( 4. September ) brachen wir noch bei Dunkelheit auf, um über die mit beinhart gefrorenem Schnee reichlich bedeckten Felsen steigeisenbewehrt die Aiguille du Gôuter zu erklimmen. Dank der grimmigen Kälte erwies sich die Duirhschrcitung eines durch Steinschlag und Seracstürze berüchtigten Couloirs oberhalb der The Rousse als völlig gefahrlos. Im frischen Morgenglanz boten die benachbarte Aiguille de Bionassay, das zinnenreiche Massiv der Dents du Midi im Hintergrund, die flache Schneekalotte des Mont Buet, die hellschimmernden Felsklötze der Aiguille de Varan im Verein mit dem wald-und wiesenbedeckten Talgrund eine wahre Farbensymphonie.

Eine sichere und fest ausgetretene Spur geleitete von der Aiguille du Gôuter über einen fast spaltenlosen Gletscher auf den breiten Firnrücken des Dôme du Gôuter ( 4304 m ). Mehr und mehr weitete sich das Gesichtsfeld während unseres Aufstieges, und immer niedriger schienen die imposanten Ausläufer des gewaltigen Monarchen. In der Ferne ragten die Walliser und Berner Alpen sowie die bizarren und abenteuerlichen Gestalten des Hochdauphiné aus dem Dunst.

Zu meinen ergreifendsten und nachhaltigsten Eindrücken in einer strengen und gigantischen Hochgebirgswelt gehört der Blick vom Dôme du Gôuter zu der in blendendem Weiss erstrahlenden Firnkuppe des Mont-Blanc-Gipfels. Eine wunderbare Ausgewogenheit der Schneeflanken und Felsabstürze lenkt die Blicke, gleichsam den gotischen Kraftlinien entlang, unwiderstehlich nach oben und lässt den Beschauer in Ehrfurchtverstummen.

Der nun folgende Gang über den Col du Dôme und über den Bosses-Grat zur Spitze des « Weissen Berges » glich einer Wallfahrt ins Überirdische. Je höher wir dem Gipfel zustrebten, um so intensiver hob sich dieser als steile Schneepyramide, die trotz der bestürzenden Nähe in einer jenseitigen Welt zu liegen schien, vom dunkelblauen Firmament ab. Beim Überwinden der letzten Höhenmeter vom Rocher de la Tournette aus, auf schmalem Firngrat zuletzt, hatte man das Empfinden, auf einer Himmelsleiter ins All zu steigen, jeglicher Erdgebundenheit entrückt.

Wir hatten das seltene Glück, den Gipfel ( 4807 m ) bei fast völliger Windstille zu betreten. Unter uns ein wogendes Nebelmeer, das zeitweilige Durchblicke ins fast 4000 Meter tiefer gelegene Tal von Chamonix und zum Glacier de Talèfre gestattete. In der Ferne erhoben nur die höchsten Bergspitzen, wie Weisshorn, Dom, Grand Combin, die beinahe zierliche Felszacke des Matterhorns und das breitgelagerte Monte-Rosa-Liskamm-Mas-siv, ihre Häupter über die Wolkenballungen.

Gar zu rasch verging die kostbare Zeit auf der ausgedehnten höchsten Kalotte des Alpenwalles. Die etwas vorgerückte Stunde mahnte zum Abstieg. Mühelos gelangten wir zum Col du Dôme zurück, von wo uns eine gut ausgetretene Fährte über das Grand Plateau, Petit Plateau in verhältnismässig kurzer Zeit zum Felsen der Grands Mulets geleitete. Während des ganzen Rückmarsches hatten wir die mannigfach gegliederte Aiguille du Midi im Blickfeld.

Im nun folgenden Bereich der Jonction ( d.h. Vereinigung des Glacier des Bossons mit dem Glacier de Taconnaz ) jedoch stellten sich noch allerlei Schwierigkeiten ein. Wir mussten uns durch ein Gewirr von Eistürmen und Spalten von einer Wildheit und Zerklüftung, wie ich sie bis dahin noch nicht gekannt hatte, förmlich hin-durchkämpfen. Glücklicherweise war das Gelände völlig ausgeapert und jeder Riss deutlich zu erkennen. Die anfängliche Trasse war kreuz und quer liegenden, schwach ausgeprägten Steigei-senabdrücken gewichen. Ein Glücksgefühl überkam uns, als wir diese heikle Zone überlistet hatten und uns auf einem ebenen Teil des Bossons-Gletschers erholen konnten, doch nur für ein paar Minuten.

Für die gewaltigen und unvergesslichen Eindrücke, die uns der Mont Blanc bisher geschenkt, verlangte er seinen Tribut: Es gelang uns vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr, einen Durchgang durch den stark zerklüfteten Rand des Eisstromes zu finden. So mussten wir als « Gefangene des Berges » eine lange und kalte, doch niederschlagsfreie Nacht zubringen, unweit der heutigen Zwischenstation des Téléphérique à l' Aiguille du Midi. Das Gelände ermöglichte ein Aus- ruhen auf einem vom Eisstrom mitgeführten Ge-steinblock im Wechsel mit aufwärmendem Hin-und Herschreiten. Krachend von einem Hängegletscher der Aiguille du Midi niedergehende Sé-racstürze und berstende Eistürme unterbrachen mit dumpfem Grollen die nächtliche Stille. Am Horizont leuchteten Blitze auf und gaben für Bruchteile von Sekunden der leblosen Landschaft ein fahles, unheimliches Aussehen. Geradezu als Hohn sandte ein buntes Lichtermeer von Chamonix seine Grüsse zu unserem einsamen Standort. Zwischen dünnen Wolkenschichten waren vereinzelte Sternbilder, besonders deutlich das Siebengestirn, zu erkennen.

Immer langsamer schien die Uhr weiterzu-laufen. Doch nahte die Stunde der Erlösung, als die ersten Zeichen eines neu anbrechenden Tages am Firmament sichtbar wurden. Der Ausgang aus dem Labyrinth des Gletscherrandes erwies sich angesichts der frühen Morgenstunden als nicht so schwierig, wie es am Vorabend den Anschein gehabt hatte. Aufatmend konnten wir den Weg zur Seilbahnstation und ins Tal fortsetzen.

Am Tag vor unserer Abreise von Chamonix fuhren wir mit der Seilbahn auf den Brévent. Von dieser einzigartigen Schaukanzel hatten wir, einer Arena voll schimmernden Glanzes gleich, das Massiv des gewaltigen Bergriesen nochmals in seiner ganzen Grosse und Majestät vor Augen. Seine in schönstem Firnkleid prangende Gipfelkalotte zeigte mächtige Schneefahnen.

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