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Gedanken zur Entwicklung des Freikletterns in der Schweiz

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Hanspeter Sigrist, Oberbalm

Am Abendberg im Diemtigtal, BO ( Ameisenweg ) Aus den Anfängen Bergell, September 1977, wir stehen am Fuss der Fiamma. Zitat aus meinem Tagebuch:

Was früher einer von Idealen geprägten Minderheit vorbehalten war, wird heute von einer immer grosseren Masse als Sportart mit leicht abenteuerlichem Image betrieben. Was früher als ( unmöglich ) galt, wird heute vom durchtrainierten Spitzenathleten elegant bewältigt.

Es gäbe sicher zahlreiche verschiedene Möglichkeiten, um diese Entwicklung, die mit leichter Verzögerung auch in der Schweiz stattgefunden hat und heute eher noch im Zunehmen begriffen ist, aufzuzeichnen. Denn überall, wo ambitionierte und leistungsstarke Kletterer in Gruppen oder allein die neuen Ideen aufnahmen und weiterverfolgten, wurde - praktisch unabhängig voneinander - die Schwierigkeit von der anfänglich magischen Grenze des 6. Schwierigkeitsgrades bis hin zum oberen 10. Grad gesteigert.

Der vorliegende Beitrag vermag nie - und will es auch nicht - diese in zahllosen Strängen verlaufene Entwicklungsgeschichte objektiv und lückenlos nachzuzeichnen. Deshalb soll hier primär vom persönlichen Erleben ausgegangen werden. Prägen doch jeweils die Reisen ins Ausland und die ungezählten Kletterfahrten in den heimischen Gebieten sowie alle damit verbundenen besonderen Erfahrungen und amüsanten Begebenheiten in erster Linie die Entwicklung eines Kletterers. Daraus gewinnt er die wichtigen Impulse und Erkenntnisse für neue Horizonte und motivierende Ziele.

möchte auch einmal so gut klettern wie er. Danach komme ich an die Reihe. Nach dem ersten Haken rutsche ich aus und falle ins Seil - ich bin auf derart hohe Schwierigkeiten nicht gefasst gewesen. Vom Rest weiss ich, dass er sehr anspruchsvoll ist. Beim zweiten Haken schlottert mein linker Fuss, doch fällt mir die Passage nicht allzu schwer. Macht es hier die Seilsicherung von oben so viel leichter ?) Meine Erlebnisse an der berühmten Fiamma zeigen, dass es sich dabei durchaus bereits um einen engagierten handelte und dass die Geburtsstunde der Freikletterei in der Schweiz keineswegs auf ein bestimmtes Ereignis festgelegt werden kann. Wohl begann man von einem gewissen Zeitpunkt an, seinen sportlichen Ehrgeiz in Worte zu fassen und die formulierten Regeln in die Praxis umzusetzen. Die Vorstellung über den Wert einer Begehungsart oder einer Kletterleistung war aber zweifellos bereits viel früher schon vorhanden. Bloss - nur wenige versuchten, sich immer wieder konsequent an die eigene Leistungsgrenze heranzutasten, was allerdings auch erst mit der Entwicklung von besserem Sicherungs- und Schuhmaterial sinnvoll wurde.

So kletterten zahlreiche, damals führende Kletterer mit halbschweren Kletterschuhen jahrelang den 6. Schwierigkeitsgrad. Dann, unter den neuen Gesichtspunkten, d.h. unter strenger Einhaltung einiger ganz einfacher und selbstauferlegter Grundregeln sowie mit verbessertem Material ( die ersten profillosen Reibungskletterschuhe fanden in der Schweiz erst ab 1980 grössere Verbreitung ) und neuer Motivation begannen sie praktisch übergangslos in kürzester Zeit bis zu 2 Graden schwieriger zu klettern. Die festgelegten Grundregeln begannen sich allmählich im Bewusstsein zu verankern und erlaubten es dadurch, die Leistungen auch erstmals klar zu definieren und zu vergleichen. Die anfänglich komplizierten Definitionen einer Begehungsart ( von oben gesichert, d.h. im Nachstieg, im Vorstieg mit Stürzen, sturzfrei im Vorstieg usw. ) verknüpften sich mit bestimmten Engagementsebenen und Gefühlen und schufen klare Voraussetzungen, die sich auch auf die Motivation auswirkten. Heute empfindet wohl jeder auch nur einigermassen engagierte Kletterer in seinem Innersten nur dann völlige Genugtuung, wenn ihm seine Route flüssig in einem Zug und ohne Hakenhilfe oder Rasten gelungen ist.

Unter neuem Blickwinkel Mit der Formulierung der Grundregeln und der damit verbundenen Messbarkeit der Kletterleistung öffnete sich der ersten Freiklettergeneration eine völlig neue, wunderbare Welt. Jeder Fels gewann wiederum an Bedeutung, überall waren alte hakentechnische Routen frei zu klettern, überall taten sich neue Möglichkeiten auf und waren neue Anstiege zu erschliessen. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Einzig die klettertechnischen Fähigkeiten und die physischen Voraussetzungen schienen die limitierenden Faktoren zu sein. Doch mit der Erkenntnis, was möglich sein kann, waren diese wie auch der anfänglich grosse Rückstand auf die ausländische Konkurrenz, die sich bereits in unvorstellbar hohen Kletterschwierigkeiten bewegte, rasch und weitgehend wettzumachen.

Dabei zeigte sich ebenfalls, dass die Schweiz nebst einigen leistungsstarken Kletterern seit je her auch anderes zu bieten hatte, nämlich eine unendliche Vielfalt von kleinen und grossen Felsmassiven und damit ein unerschöpfliches Potential an Klettermöglichkeiten.

Gewaltige Plattenschüsse aus allerbestem, scheinbar völlig grifflosem Granit machten die etwas öde Landschaft oberhalb von Guttannen auf einmal reizvoll und weltweit bekannt. Und bald darauf wurden die einzigartigen, goldgelb getönten Felsfluchten im Bereich des Naturschutzgebietes am Grimselstausee entdeckt, die man von jetzt an Eldorado nannte.

Was ist inzwischen aus diesen Gebieten geworden? Sind sie bereits in Vergessenheit geraten, zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken? Nun, die Entwicklung pflegt selbst vor grossen Marksteinen nicht Halt zu machen. Und in der Tat stehen diese Gebiete heute nicht mehr im Zentrum des Interesses. Das wird erst wieder der Fall sein, wenn zurzeit noch nicht gangbare Platten und Wände unter neuen Voraussetzungen die Aufmerksamkeit zukünftiger Elitekletterer auf sich zu ziehen vermögen.

Aber selbst wenn die ersten modernen und damals revolutionären Routen am Grimselpass nicht mehr zuoberst auf der Liste der begehrtesten Ziele stehen und sogar oft etwas voreilig als eintönige und gleichförmige Klettereien abgestempelt werden, empfinde ich doch jedesmal wieder dasselbe Gefühl und dieselbe angespannte Unruhe wie vor Jahren, wenn ich mich diesen Granitpanzern nähere.

Granitkletterei in der Route

Derartige Eindrücke sind beim heutigen Angebot an ausgezeichneten Klettermöglichkeiten an zahlreichen Orten und fast jederzeit nachvollziehbar. Man ist anspruchsvoll geworden und versucht, sich die Rosinen herauszusuchen, ohne aber das besondere Gefühl der faszinierenden Erstmaligkeit und Einzigartigkeit jemals in vollem Umfang wiederzuerlangen.

Die Erschliessung Waren es in der Schweiz ursprünglich solche Granitaufstiege, die zum Inbegriff und zum Vorbild des freien Kletterns wurden, so sind es in den meisten Kletterzentren Europas seit jeher die Kalkfelsen gewesen, die hier die mehr sportlichen Komponenten förderten. Die reiche Strukturierung, die Verschiedenartigkeit des Gesteins - von rauh bis glatt, von ein-liegend bis stark überhängend - sind wie geschaffen, den Drang nach Leistungsvergleich und Leistungssteigerung voll auszuleben. Die oft recht stadtnahen Klettergebiete des Juras und der Voralpen waren denn auch immer Spielplätze intensiver Auseinandersetzungen, Diskussionen und Rivalitäten, aber - und damit einhergehend - auch bedeutender Erkenntnisse und Fortschritte.

Anfänglich pilgerte jeder ambitionierte ( Pionier ) zu den ersten vereinzelten Gradmessern der neuen Schwierigkeitsstufen, um sich ein Bild von den jeweiligen Anforderungen zu machen. Routen wie Anarchia im Basler Pelzli, wie Quo Vadis in Ueschenen und etwas später die Supertouren im Bockmattli füllten ganze -Seiten und wurden zu umworbenen ( Testpieces ). Aus der gemeinsamen Idee, die doch einen so enorm grossen Freiraum er- öffnete, entstanden -wie übrigens fast überall -etliche Streitereien um Schwierigkeiten, Wiederholungen und Begehungsarten. Missgunst und Intoleranz waren an der Tagesordnung, und jeder Erstbegeher betrachtete seine Erschliessungen als eine Art Heiligtum, in das er viel persönliches Engagement und Aufwand gesteckt hatte.Viele Routen wurden dadurch zu weit mehr als kletterbaren Linien durch an und für sich bedeutungslose Felszonen. Sie wurden zum Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und Kreativität und damit vorübergehend zum Mass aller Dinge. Mit der Erstbegehung verband sich eine gewisse Geschichte und die Erinnerung an nicht wiederholbare Eindrücke. Einige konnten aufgrund ihrer Besonderheit einen Teil ihres Nimbus wahren, andere gerieten alsbald in Vergessenheit oder reihten sich neben all die anderen ihrer Kategorie. Lediglich für den unmittelbar beteiligten Erstbegeher oder Wiederholer blieben und bleiben sie prägende Marksteine in der persönlichen Entwicklung zum besseren Kletterer und vielleicht auch zum reiferen Menschen.

Die folgenden Aufzeichnungen vom Herbst 1983 schildern Gedanken und Erlebnisse, die dem Laien die Faszination und den Inhalt der Freikletterei vielleicht etwas näherbringen. Sie beziehen sich im wesentlichen auf zwei Rou- Klettern am ( Luftibus ) in der Balsthaler Klus ten, könnten aber unter abgeänderten Vorzeichen ebenso für andere Situationen stehen. Die Voraussetzungen unterliegen einer ständigen Wandlung, die Ebenen verschieben sich -die Bilder aber bleiben sich gleich.

und ( Scacciapensieri ) Früher habe ich jeweils meine Touren aufgelistet und dazu ein Tagebuch mit spannenden Schilderungen über meine ersten Gehversuche als Bergsteiger und Kletterer geführt. Selbst wenn ich heute nicht mehr weiter-schreibe, so blättere ich doch ganz gern darin. Weitere Aufzeichnungen würden sich doch nur immer wieder ähneln - dann nämlich, wenn eine anfänglich stark umworbene Route bereits kurze Zeit nach ihrer Begehung einen grossen Teil des Reizes verloren hat und den Gedanken an neue Ziele Platz machen muss. Zurück bleibt meist nur die Erinnerung an eine besondere Passage, an eine Griffkombination, die kürartig einstudiert werden musste und daher noch eine Zeitlang im Unterbewusstsein verhaftet bleibt. Doch ebenso schnell, wie sich die Freikletterei entwickelt, verlieren diese Erlebnisse an Bedeutung, wenn neue Eindrücke und Ziele in den Vordergrund treten. Andere setzten sich dagegen um so mehr fest. Ausgestandene Ängste und erlebte Freude liessen manches Tagebuch füllen und prägen die Entwicklung eines Kletterers.

Der gewaltige Sturz bis an den Einstieg hinunter, nach vermeintlich erfolgreicher Begehung des Brombeeri in Wilderswil bei Interlaken ( BO ) ist nicht so schnell vergessen. Ebensowenig die Ängste beim nächsten Versuch.

Dann - die erste freie Begehung der Schlussseillänge in der Bubichopf-Nordwand in Oberdorf. Von Martin Brunner bereits ein Jahr zuvor eingerichtet, doch nie versucht. Zwanzig Meter, schrecklich überhängend an Fingerlöchern, mit der ständigen Angst im Nacken, vor dem Einhängen des Hakens entkräftet ins Leere zu stürzen. Sichere Bohrhaken lassen die von unten kaum auszumachen-den Grifflöcher auch nicht sichtbarer werden. Die Seillänge scheint unmöglich. Wie beim ersten zaghaften Versuch vor einer Woche. Jetzt - nach einer schlaflosen Nacht und wirren Gedanken an die einzuhaltenden Griff-und Trittkombinationen, verstärkt sich während der Hinfahrt ein flaues Gefühl im Magen. Warum diese Angst? Die Aufgabe habe ich mir selbst gestellt. Niemand weiss davon, niemand hat mich in dieses schattige Loch geschickt. Auf der anderen Seite lädt die Sonne zu Genussklettereien ein. Doch eine unsichtbare Kraft treibt mich an diese Wand, um mich dann bei der ersten Gelegenheit auch gleich wieder aus ihr zu reissen.

Der Seillänge gab ich den Namen Engel haben keine Schonzeit. Ihre Schwierigkeit interessiert mich wenig, wenn ich an den Gefühlsausbruch oben auf dem kleinen Gipfel denke. In solchen Momenten werden Zahlen bedeutungslos. Bubichopf-Nordwand - ein unnahbares, schattiges Wändchen an einem unscheinbaren Felsklotz, irgendwo im Wald. Ein grosser Berg aber in der Erinnerung und von starker Bedeutung für den, der sich intensiv damit auseinandergesetzt hat.

Manche meinen, die Freikletterei gerate in eine Sackgasse. Schwierigste Routen werden erst nach tagelanger ( Arbeit ) geklettert. Die Schwierigkeit wird in Bereiche hochgedrückt, in welcher der Kletterer eigentlich permanent überfordert ist. Viel Theorie und zähe Diskussionen über die Art der möglichen Bewältigung von Zahlen. Der Charakter der Route und das Erlebnis des Erstbegehers interessiert niemanden. Gefragt sind in erster Linie Zahlen, die eine Bestenliste erstellen lassen.

Die Wiederholung einer schweren Route reizt mich meist nur dann, wenn mich ihr Anblick begeistert und ich zu spüren glaube, dass ich ihren Schwierigkeiten vielleicht nicht im ersten Versuch, aber doch in kurzer Zeit gewachsen bin. Einzig und allein wegen der hohen Schwierigkeiten lange Zeit

War ich den Luftibus zusammen mit Daniel Anker in halsbrecherischer und ungewohnter Artif-Kletterei gleich von unten angegangen, so schlug ich die Bohrhaken der Schlüsselpassage des Scacciapensieri aus dem Abseilsitz heraus, ohne vorher auch nur zwei Meter zusammenhängend geschafft zu haben. Im Luftibus stellte die Passage bis an die Dachkante kein Problem dar, der Rest erschien dagegen um so unmöglicher. Das Projekt wurde somit aufgeschoben.

Ähnlich am Abendberg: Mit den verschiedensten Schuhmarken versuchte ich Vorteile auf den praktisch inexistenten Trittchen her-auszuschinden. Krämpfe in den Füssen und grosse Frustration waren aber jeweils das Resultat meiner Bemühungen. Einzig die untere nachträglich eingerichtete Seillänge vermochte mich einigermassen zu entschädigen. Es handelt sich um steile und ausgesetzte Kletterei an Wasserlöchern mit einer interessanten Gleichgewichtspassage über ein abschliessendes kleines Dach. Eine der schönsten Seillängen, die ich bisher eröffnen konnte. Der Rest aber...

Unterdessen war auch der Luftibus eingerichtet. Zwei weitere Bohrhaken in der überhängenden Ausstiegswand und eine Abseilschlinge am Stand vervollständigten die unwahrscheinliche Linie. Nur gerade zwanzig Klettermeter, jedoch mindestens zehn Meter weit überhängend. Schwierigste Klettermeter in luftigster Ausgesetztheit. Die Schlüsselstelle beginnt dort, wo die Kraft meist schon zu Ende ist, nämlich kurz nach der Dachkante. Ein anstrengender Handwechsel an einem runden Untergriff, alles überhängend, die Fussspitzen in Löcher verkeilt, ein Seil, das in die Tiefe zieht. Komplizierte Seilmanöver und die ganze Einhängerei müssen erst perfektioniert werden, bevor überhaupt an einen Erfolg gedacht werden kann.

Das zu Ende gehende Jahr war zu kurz oder der Nebel im Herbst zu dicht, um die Route zu vollenden. All meine Versuche endeten irgendwo mit einem Sturz. Der beste weit über der Schlüsselstelle, fünfzig Zentimeter unter dem grossen Ausstiegsgriff. Dieser Versuch fand spät im Herbst statt, und ein leicht schmerzender Arm versprach wenig Gutes. Daher war die Überraschung gross, als ich mich nach einer völlig verpatzten Seileinhän-gerei plötzlich weit über der Schlüsselstelle befand. Den Ausstiegsgriff vor Augen und den letzten Bohrhaken direkt neben mir, tat ich einen verbotenen Blick in die Tiefe.Verunsichert ob der verrückten Ausgesetztheit, war der Sturz unvermeidlich. Dem sichernden Walter Josi wird er in bester Erinnerung bleiben. Er verlor durch den Ruck des Seiles den Halt auf seinem abschüssigen Sitzplatz und pendelte, festgeklammert am Sicherungsseil, weit in den Wald hinaus. Leider verunmöglichte mein nun doch stark schmerzender Arm einen letzten, vielleicht erfolgreichen Versuch.

Herrlich warmes Wetter in den Voralpen und ein riesiges Nebelmeer über dem Mittelland, wo sich die Sonne kaum mehr zeigte und sich eine feuchtkalte Witterung breitgemacht hatte, liessen jeden Klettertag im Herbst zu einem wahren Geschenk werden. Dem Abendberg galt daher die Aufmerksamkeit in diesen letzten Sonnentagen. Mit der Rückkehr zu diesen Felsfluchten wird jeweils deutlich, dass wieder ein Jahr zu Ende geht. Liebliche Plätzchen auf ausgesetzten, steil abfallenden Pfeilern geben Einblick in die gegenüberliegenden Wände.Verschiedene Seilschaften tasten sich über bereits gezogenen Linien. Unwirklich erscheinen die Bewegungen, erkennt doch das Auge von weitem weder Griff noch Tritt. Noch unerschlossene Flächen versprechen weitere Möglichkeiten und regen zur Träumerei an.

Einer dieser Tage lässt mich in einem wahren Rausch einige meiner schönsten Anstiege am Abendberg begehen. Auf den ersten Metern noch etwas stockend, gewinnen die Bewegungen zunehmend an Fluss und Leichtigkeit. Gross ist die Freude, in absoluter Sicherheit vorzusteigen und am Stand Ruedi Köchli, mit dem ich endlich einmal zusammen klettern wollte, nachzusichern.

Da ist auch plötzlich der Drang, den Pfeiler, durch den mein Projekt Scacciapensieri führt, doch noch einmal zu versuchen. Ich fühle mich grossartig und bitte Ruedi, sich neben der Route abzuseilen und einige Photos zu machen. Peter Wüthrich erklärt sich bereit, mich zu sichern. Die Abseilfahrt über die Route und hinunter auf den kleinen Felskopf ist stets wieder eindrücklich. Die Schlüsselstelle erscheint völlig haltlos. Weisse Flecken zeugen von meinen erfolglosen Versuchen in den vergangenen Wochen. Es hat seither nicht mehr geregnet. Am Stand vor der ersten Seillänge warte ich ungeduldig, bis Ruedi sich auf der Höhe des Überhangs eingerichtet hat. Endlich ist es soweit. Nur auf möglichst ideale Bewegungsabläufe bedacht, in keinem Moment an die Ausgesetztheit und die recht freie Absicherung denkend, gelingt mir diese Traumseillänge optimal. Der gut ausgewogene Kletterfluss erfüllt mich dabei mit Genugtuung. Beinahe unglaublich, dass Klettern in diesen Schwierigkeiten zum absoluten Genuss werden kann. Ich gelange zum Stand auf einer Leiste.Vor mir die Schlüsselseillänge: Gegen oben steilt sich die Wand noch auf, und die Griffe werden immer kleiner und seltener. An der Schlüsselstelle lassen sich lediglich noch ein Einfingerloch und ein Seitkänt-chen für drei Fingerspitzen ausmachen.

Gleich vom Stand weg erfordert die Kletterei eine ausgefeilte Stehtechnik, denn nur ein paar winzige Warzen und kleinste Fingerdellen bieten hier minimen Halt. Nach vier Metern ein letzter Ruhepunkt auf einer kleinen Leiste.Vor mir noch zwei Bohrhaken, dann folgt die über die beinahe senkrechte Platte führende, völlig trittlose Schlüsselpassage. Für die Hände finden sich lediglich Seitgriffe, die nur optimal belastet etwas taugen. Die rechte Hand am letzten Seitkäntchen, links eine Delle zum Stützen. Der Körper bleibt dadurch im Gleichgewicht. Nun mit den Füssen hoch antreten und am Seitgriff durchziehen - bis ans Fingerloch. An diesem das Körpergewicht aufziehen und weiterklettern. Aber wieSturz. Da hat nur wenig gefehlt. Der Zug am Fingerloch ist schmerzhaft und fordert einige Überwindung. Dann muss entschlossen weitergestiegen werden, auch wenn sich keine Tritte anbieten, Andernfalls bleibt der nächste Bohrhaken weiterhin in unerreichbarer Ferne.

Konzentration für den nächsten Versuch: Das Fingerloch, hochtreten - die Sohlen haften noch knapp. Rechts ein winziges Känt-chen. Gleichzeitig anziehen und hochsteigen, dann der runde Seitgriff. Von hier aus kann man einhängen. Doch ich kriege keine Hand frei. Erst nach gewagten Schrittwechseln lässt sich die Schlinge im Bohrhaken einklinken, nicht aber das Seil. Ein Fuss rutscht weg und ich fliege bis zu Peter hinunter, da dieser bereits etwas Seil ausgegeben hat. Soll ich lachen oder schimpfen? Einerseits habe ich diese Stelle erstmals klettern können, andererseits bin ich danach doch wieder abgeflogen. Die Stelle ist brutal schwer. Für meine Körpergrösse und meine momentane Kraft im absoluten Grenzbereich. Es macht mir Mühe, mir vorzustellen, jemals vielleicht noch schwieriger klettern zu können.

Weit oben hängt eine einsame Schlinge.Von dort bin ich heruntergefallen, doch beim nächsten Versuch werde ich auch das Seil einhängen - dessen bin ich mir jetzt gewiss.

Die Sättigung Die beiden oben beschriebenen Routen Luftibus und Scacciapensieri zählen heute zu den Extremklassikern. Für mich bleiben sie mit bewegten Bildern verbunden. Für die neue Generation sind sie aber nichts weiteres als eine vielleicht zufällige oder ausgewählte Station auf dem Weg zu neuen Horizonten. Der gewaltige Überhang des Luftibus kann heute mehrmals hintereinander geklettert werden. Gleichsam zum Einklettern oder zur Schulung der Ausdauerfähigkeit - ganz wie 's beliebt. Im Scacciapensieri sucht kaum noch jemand nach kleinen Trittmöglichkeiten. Das neue Schuhmaterial haftet bei richtiger Belastung ohnehin fast überall.

In den gut erschlossenen Regionen sind Routen im neunten Schwierigkeitsgrad an der Tagesordnung und gesamtschweizerisch kaum mehr zu zählen. Und es wären noch weit mehr, würde man nicht ständig der Versu- chung unterliegen, noch anspruchsvollere Möglichkeiten zu finden, um die Schwierigkeiten immer mehr zu steigern. Doch es liegt eben im Geist der Freikletterei, dass gleiche Bilder und ähnliche Empfindungen nur unter immer höheren Anforderungen zu erleben sind. Von dieser Faszination lebt jede Sportart. Sie fördert damit die Entwicklung an ihrer Spitze, aber auch in der Breite. Wenn der Weg einmal vorbereitet und geebnet ist, nachdem sein Verlauf mit viel Idealismus geplant und durchgesetzt wurde, kann er nun praktisch von jedermann beschritten werden. Der Nachvollzug kann eben bereits unter ganz anderen Voraussetzungen geschehen. Und dies ermöglicht es auch, in kurzer Zeit viel weiter voranzukommen.

Mit der Erschliessung sämtlicher möglicher und unmöglicher Kletterrouten in den stadtnahen Klettergärten geht zwangsläufig auch eine gewaltige Breitenentwicklung einher. Zudem kann jeder neue Fels sofort mit einem dichten Routennetz belegt werden. Es entfällt die Suche nach der kletterbaren Möglichkeit an der Grenze zum Unmöglichen. Bei guter Felsqualität besteht nur selten das Problem, dass die Routen nicht mehr begehbar sind. Vielmehr fehlt es an geeigneten Felsstrukturen, um die Routen ausreichend schwierig zu gestalten. Die Kletterei hat sich in derart hohe Bereiche entwickelt, dass man diesbezüglich an Grenzen stösst. Entweder fallen dann vielversprechende Projekte zu leicht aus, oder sie bleiben schlichtweg unmöglich. Die Felsstruktur genügt den Ansprüchen nicht mehr!

Diese Sorge bleibt aber vorderhand den Spezialisten vorbehalten. Daneben gibt es in der Schweiz nach wie vor überall eine unendliche Vielfalt von Möglichkeiten, die sich noch erschliessen lassen. Dies weniger unter dem Aspekt neuer Formen oder der Annäherung an neue Grenzbereiche als im Hinblick auf die Schaffung neuer und reizvoller Klettergebiete - einer Sportanlage gleich, um es etwas überspitzt auszudrücken. Und wo die Felsen nicht mehr ausreichen, werden künstliche Wände errichtet. Damit rückt das Klettern noch näher an die Siedlungszentren und steht plötzlich allgegenwärtig und von jedermann erfassbar neben allen anderen Sportarten. Zusätzlich zu den nach wie vor primär am Bergsport interessierten Kreisen werden dadurch andere -neue - Gruppen und Bereiche einem direkten An der in der Balsthaler Klus Bezug zum bisher manchmal eher respektvoll behandelten Klettersport finden. Und dies wird zweifellos stark auf die nächste Entwicklungsphase abfärben.

Neue Horizonte Ein düsterer Ausblick? Schwarzmalerei? Keineswegs - oder höchstens bedingt. Jedem Kletterer wird es überlassen sein, seinen eigenen Idealen nachzuleben. Nach wie vor kann jeder sein Privatgebiet hegen und pflegen wie es ihm beliebt. Ungehindert kann er sich in eigener seiner Lieblingsbeschäftigung widmen. Seit je her besteht die 19 Schweiz nicht aus einem einig Volk von Kletterern, sondern viel mehr aus einem Haufen von Eigenbrötlern mit ausgeprägtem Kantönligeist. In anderen Ländern spielt sich die ganze Entwicklung - mit nicht weniger Problemen - geballt in einigen Zentren ab; sei dies aus Platzmangel wie vielleicht in Deutschland oder aufgrund einer viel breiteren Spitze wie in Frankreich. Bei genügend Phantasie verfügt in der Schweiz dagegen jeder noch über sehr viel Freiraum. Einerseits wird dadurch die Konzentration von den rein sportlichen und wettkampfspezifischen Aspekten doch noch stark auf die Auseinandersetzung mit der Natur und der eigenen Person gerichtet. Andererseits fehlt dadurch etwas der Druck zum Drang nach neuen Wegen und Horizonten. Demnach werden wir vielleicht immer etwas den Entwicklungen, wie sie z.B. in Frankreich stattfinden, nachhinken. Dafür können wir aber auch gewisse Erfahrungen, die dort gemacht werden, aus der Ferne betrachten und für die bessere Beurteilung unserer Situation ausnützen.

In vielen Bereichen scheint die weitere Entwicklung absehbar. Ob sie auch restlos zu begeistern vermag, ist eine andere Frage. Es werden sich gewisse Zweige verstärkt herauskristallisieren und unter Umständen sogar eine dominierende Stellung einnehmen. Selbst die ältere Freiklettergeneration wird sich schon bald in Toleranz und Verständnis üben müssen, wenn die jüngsten Vertreter neue Massnahmen ergreifen und ungewohnte Wege einschlagen. Mit unseren Idealvorstellungen werden sie vielleicht nur noch wenig gemeinsam haben, als Voraussetzungen für die optimale und uneingeschränkte Ausübung ihres Sportes werden sie aber unumgänglich sein.

Jede kommende Klettergeneration versucht, sich eine neue Motivationsgrundlage zu schaffen, um in ihrer Betätigung Erfüllung zu finden und neue Massstäbe zu setzen. Unser Werdegang dient ihr als Basis und im besten Fall noch als Wegweiser, aber immer weniger als nachahmenswertes Beispiel. Wir haben kein Recht, darüber traurig zu sein, denn auch wir haben damals wenig nach der Meinung der anderen gefragt.

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