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Gipfelfreuden

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

VON PETER KILIAN, ZÜRICH

Vom Moränenhügel über unserem Dorf, dem sogenannten « Galgenbuck », auf dessen höchster Kuppe einst arme Sünder im Winde baumelten, konnten wir als Buben an klaren Tagen die ferne Alpenkette sehen und bestaunen. Vor allem an Föhntagen und im Herbst enthüllten sich die gleissenden Firne über dem Dunst der Niederungen, und besonders deutlich und klar erkannten wir das Alpsteinmassiv mit seinen vorgelagerten Hochweiden und dem majestätischen Säntis, dem Berg meiner Knabensehnsucht. Und zeitiger, als ich es mir damals hätte träumen lassen, ging mein heisser Wunsch in Erfüllung, denn bereits in meinem sechzehnten Lebensjahr war es mir vergönnt, den Berg, der in unseren Augen noch ein Riese war, zu bezwingen. Wir wählten nicht die kürzeste und bequemste Route, sondern wanderten vom Flecken Appenzell über Wasserauen zum Wildkirchli und von dort zum Gipfel. Nach einer unruhigen Nacht ging es über den Lysengrat auf den Altmann hinüber, dann zur Kraialp und von dort nach Wildhaus hinunter. Es war unsere erste grosse Bergwanderung, und wenn ich es recht bedenke, ist sie mir eindrücklicher und lebendiger in der Erinnerung geblieben als manche nachfolgende Eroberung in den Eis- und Schneeregionen des Wallis.

Dabei hatten wir auf unserer ersten grossen Gebirgswanderung mit dem Wetter wenig Glück. Wattige Nebelschwaden wogten unheimlich an den Flühen empor, es schneite und regnete abwechselnd, und es war zeitweise sogar höchst ungemütlich. Und doch erinnere ich mich an diese erste Wanderung, als wäre sie erst gewesen, als an ein erregendes und unvergessliches Abenteuer. Ich hatte mich als kleiner Bub nicht umsonst gesehnt.

Ziemlich genau fünfundzwanzig Jahre später war ich nun also noch einmal auf dem Gipfel meiner Knabenträume, und ziemlich wahrscheinlich zum letzten Mal. Inzwischen hatte sich nämlich dort oben mancherlei geändert. Das Alpsteinmassiv sieht zwar aus der Ferne noch genau so erhaben aus wie einst, der Säntisgipfel ist ebenfalls noch vorhanden, aber sonst... Doch ich will nicht vorgreifen.

Ich kam diesmal von der Hochalp her, wanderte während Stunden über stille Weiden, durch wahre Blumenauen und einsame Fichtenwälder - und damit hätte es eigentlich sein Bewenden haben können. Auf der Schwägalp nämlich wimmelte es von Autos und ihren höhendurstigen Insassen, und vom vielbesungenen Alpfrieden konnte nicht gut die Rede sein. Die berühmte und vielgepriesene Schwebebahn konnte mir ebenfalls nicht gut entgehen, und die Kabinen schwebten denn auch emsig und mit technischer Präzision hinauf und hinab. Ich liess mich aus Neugier, Bequemlichkeit und Zeitnot ebenfalls hinaufschweben, da ich auch diesmal vom Säntis zum Altmann hinüberkraxeln wollte.

Und ich will es keineswegs leugnen: das Schweben war sehr bequem; lautlos fast glitten die mausgrauen und zerklüfteten Felswände mit ihren samtgrünen Wildheubändern vorbei und sanken gleichsam in die Tiefe. Wie von Geisterhand wird man über die schwindelnden Abgründe emporgehoben, und die Schwägalp mit ihrem geschäftigen Autobetrieb versinkt immer spielzeughafter, wird bald unerheblich. Dieses leichte Schweben also war fraglos schön und irgendwie auch prickelnd, aber es nahm auch bald ein Ende, und zwar in einer Art Gipfelbahnhof halle, fern aller Gipfeleinsamkeit. Mein Gott, dachte ich mit einiger Bestürzung, du bist doch noch nicht so alt, und trotzdem geht dir dieser ganze Betrieb auf die Nerven. Es herrschte nämlich da oben eine Geschäftigkeit und ein Gedränge, als ob ein Fest stattgefunden hätte, mehr alptraum- als traumhaft war mir zumute. Mit meinen schweren Bergschuhen und dem vollen Rucksack auf dem Rücken kam ich mir groteskerweise geradezu deplaciert vor, wie einer, der sich in der Adresse geirrt hat. In meiner Einfalt hatte ich ganz vergessen, dass man den erhabenen Gipfel meiner Knabenjahre auch in Lackschuhen, Brautkleid oder Strandhöschen bezwingen kann. Nein, es war nicht mehr der hehre Gipfel meiner Sehnsucht, sondern ein Ausflugsziel wie beispielsweise der Uetliberg. Als kämen sie soeben vom Paradeplatz oder Bellevue, so stöckelten elegante Damen und Dämchen auf ihren daumendicken und zeigenngerlangen Absätzen über das Gestein und sogen auf angenehm windiger Höhe an ihren parfümierten Filterzigaretten. Vielerlei Idiome drangen in meine Ohren, ein kleines Babel hatte sich bunt und lärmend versammelt. Man bewunderte pflichtschuldigst die schöne Aussicht, und sie ist ja auch nicht übel, wenn man bedenkt, dass der Säntisgipfel nur lumpige 2500 Meter hoch ist.

Dass mir die baulichen Veränderungen auf dem Gipfel, den ich ein Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen hatte, auch nicht entgingen, kann man sich denken. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, überlegte ich mir, wird vom ursprünglichen Gipfel bald nichts mehr zu sehen sein. Der noch vorhandene, nicht mehr jungfräuliche Fels, ist von ungezählten Schuhen glatt gewetzt worden. Der Souvenirhandel blühte üppig, und Ansichtskarten wurden in rauhen Mengen mit den obligaten Grüssen beschriftet.

Als ich etwas verwirrt und benommen an einer Geländerbrüstung stand, die es in meiner Jugend-Blütezeit auch noch nicht gegeben hat, und ahnungslos in die Tiefe blickte, da prallte ich plötzlich noch benommener zurück, denn der Aufwind trug mir einen schauerlichen Geruch in die Nase. Zuerst war ich völlig ratlos, dann aber wandte ich mich fluchtartig ab. Keine Sorge, lieber und geneigter Leser, ich kam nicht etwa einem grausigen Verbrechen auf die Spur, ich machte nur die penible Entdeckung, dass der Berg meiner Knabensehnsucht - kaum wage ich es auszusprechen - gewissermassen ein menschliches Organ erhalten hatte. Zugegeben, wo viel Menschen auf engem Raum zusammenkommen, gibt es notgedrungen auch Unrat.

In Schwärmen umkreisten die Dohlen bettelnd wie die Tauben auf dem Markusplatz in Venedig die zahlreichen Gipfelstürmer, und in kurzen Abständen spie die Schwebekabine neue Gipfelstürmer aus. Um aber nicht vom schmalen Pfad der Wahrheit abzukommen, soll doch auch noch vermerkt werden, dass ich nicht der einzige altmodische Berggänger war, einige Unentwegte näherten sich schweisstriefend dem Gipfel zu Fuss. Und ungerecht, wenn nicht gar infam wäre es, wenn ich nur die verwirrend problematischen Seiten meines zweiten Aufenthaltes auf dem Säntisgipfel schildern würde. Schliesslich ermöglicht es die Schwebebahn auch Mitgliedern von Hundertkilovereinen, erstens einmal einen Bergriesen mühelos zu bezwingen und zweitens Gipfelluft zu atmen. Auch Damen und Herren, die sonst nicht höher als auf Barstühle klimmen, können dank Auto und Schwebebahn die nicht mehr vorhandene Gipfelstille geniessen. Am wohltätigsten aber wirkt sich dieses technische Wunderwerk für Mütterchen aus, die den 90. oder 100. Geburtstag da oben feiern, wenn sie es mit zwanzig oder dreissig Jahren unterlassen haben, den Gipfel mit eigener Muskelkraft zu bezwingen. Schulklassen aller Jahrgänge endlich profitieren von dieser Errungenschaft. Hier können die Kinder, ohne vom langen Aufstieg erschöpft zu sein, ihre harten Eier schälen und verdrücken und die von den Müttern liebevoll hergerichteten Butterbrote an die Bergdohlen verfuttern. Dass sich also eine Schwebebahn nicht nur für die Aktionäre segensreich auswirkt, dürfte nach diesen Ausführungen eindeutig feststehen.

Ich verliess den volkreichen Gipfel bald, den stillen, hehren und sturmumtosten Berg meiner Jünglingsjahre, und zwar wählte ich wieder den Weg über den Lysengrat Richtung Altmann, wo dann endlich meine alten und schönen Erinnerungen wieder erwachten, denn auf dem Gipfel des Säntis habe ich sie nicht mehr finden können. Notabene: das Matterhorn könnte wirklich zu einer Goldgrube werden, wenn... Aber malen wir lieber nicht den Teufel an die Wand!

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