Gressoney und Monte Rosa | Club Alpino Svizzero CAS
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Gressoney und Monte Rosa

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Die erste Anregung zur Wahl des Reisezieles ging von einem heutzutage seltenen Gegenstand aus, von einer aus Steinbockhorn verfertigten Schnupf-tabakdose, welche die Inschrift trägt: « Souvenir J. N. Vincent. » Sie war mit einer vom ursprünglichen Besitzer gezeichneten Handschrift der Sektion Basel des S.A.C. geschenkt worden von der Mutter unseres am Bieshorn erfallenen Paul Spiess. Ich interessierte mich für diesen Vincent um so mehr, als mir bekannt war, dass er vor mehr als hundert Jahren einen Gipfel des Monte Rosa als Erster bestiegen hat, die nachmals nach ihm benannte Vincentpyramide. Um Näheres über diesen Alpenpionier zu erfahren, wandte ich mich an Marino Vincent, seinen Enkel. Dieser lud mich als alten Studiengenossen ein, einige Tage mit meinem Freund Paul Läuger zu ihm nach Gressoney zu kommen, um mich an Ort und Stelle genau zu unterrichten.

Während eines Gewitters näherten wir uns am Nachmittag des 20. August 1925 Ivrea, der Pforte des Aostatales. Wasser- und Hagelmassen wälzten sich zwischen den Schienen des Bahnhofs, Donner rollten um die grauen Felswände: ein eindrucksvoller Auftakt zu dem Unbekannten, das unser wartete.

In Pont-St-Martin, der Ausgangsstation zu dem nördlichen, etwa 40 km langen Seitental von Gressoney, vertauschten wir den Bahnzug mit einem kräftigen Autobus und liessen uns das malerische, von der Lys durchrauschte Tal hinaufführen. Seinen besonderen Ruf verdankt dieses Tal seiner Viel-sprachigkeit. In Pont-St-Martin wird italienisch, das heisst ein piemontesischer Dialekt, gesprochen, dann ein französisches Patois bis und mit Fon-tainemore. In der Gemeinde Issime wird deutsch, in Gaby wieder französisch geredet; im oberen Talabschnitt herrscht das Deutsche vor. Die Besiedelung hat sich eben von drei Seiten her vollzogen, vom Oberwallis, von Savoyen und von der piemontesischen Poebene aus, und die alten Sprachen sind, trotzdem die Schulen heute italienisch betrieben werden, zum guten Teil erhalten geblieben.

In Gressoney-St-Jean, dem 1370 m hoch gelegenen Hauptort des Tales, gesellte sich unser Gastgeber zu uns und geleitete uns nach einer weitern Fahrt von etwa vier Kilometer zum « Castell », dem Vincentschen Familiensitz. Mit der grössten Liebenswürdigkeit wurden wir von der zahlreichen Haus-gemeinde aufgenommen, die sich in der Ferienzeit hier zusammenfindet. Da die Mehrzahl das Jahr über in Turin lebt und nicht mehr Deutsch spricht, mussten wir uns, vorab gegenüber der lebhaften jungen Generation, unsrer kümmerlichen italienischen Sprachkenntnisse bedienen. Die eingesessene Landbevölkerung jedoch besitzt in ihrer ganzen Art, in Sprache, Tracht und Bauweise, so viel Gemeinsames mit den Schweizernachbarn, dass wir beinahe im Oberwallis zu sein glauben. Wir stossen etwa auf ein typisches, auf Pfählen und Steinplatten ruhendes « Stadel ». Die Frauen und Mädchen tragen allgemein, nicht nur Sonntags, ihre kleidsame Tracht mit dem scharlachroten Rock — die Trauerfarbe ist blaurot —, mit schwarzem, golddurch-wirktem Mieder und bunter « Schäube ». Der schwere, goldene Kopfputz wird nur bei festlichen Anlässen hervorgeholt. Die Königin Margherita, die Jahr für Jahr ihr Sommerschloss bei St-Jean bewohnte, hat bis zum Tode ihres Gatten die Gressoneyer Tracht getragen und so zur Wiederbelebung der wie überall im Schwinden begriffenen Sitte den Anstoss gegeben.

Die hablicheren Talbewohner, die meist im deutschsprechenden Ausland, vornehmlich in der Schweiz, in Bayern und Österreich ihr Vermögen gemacht haben, besitzen ausgedehnte Grundstücke im Tal und auf den umliegenden Alpen. Diese Privatalpen werden an Sennen verpachtet. Es bestehen somit andere Besitzverhältnisse als etwa im Berneroberland mit seinen den Gemeinden gehörigen Alpen oder als im Val d' Anniviers, wo die grosse Mehrzahl besonderen Alpgenossenschaften zu eigen ist. In mancher Beziehung lebt man in Gressoney noch gleich wie in frühern Jahrhunderten. Da bäckt man im gemeinsamen Ofen zu gegebener Zeit sein schmackhaftes Roggenbrot, das noch nach Monaten geniessbar ist. Da empfängt man am Sonntag den Schafhirten im Castell, der eben von der Alpe Freider im Westen in die nördlich gelegene, ebenfalls den Vincents gehörende Indrenalp übersiedelt. Schon mehr als zweihundert Jahre soll das Pachtverhältnis zwischen diesen beiden Herren- und Hirtenfamilien bestehen!

Ein anderer Pächter möchte seine Viehhütte ordentlich ausbessern, doch fehlen ihm die dazu nötigen Holzlatten, ein kostspieliges Material. Deshalb macht er Dr. Vincent folgenden Vorschlag: « Du gescht mier d'Ladma, und ech well d's Wärch macho. » Ein anderer hat den Auftrag, eine Brunnfassung zu reinigen, und erhält die Weisung: « Du muesch mer d's Oug nid verliere! », den Punkt, an dem das Quellauge zutage tritt. Und wenn einem bei der Abendwanderung der heimelige Gruss « Gueten Uobe » ans Ohr klingt, so tönt das fast so vertraut wie eine Begrüssung auf dem Münsterplatz zu Basel!

In der ersten Woche war uns das Wetter nicht hold. Der Sonntag brach zwar wolkenlos an, und wir benützten den schönen Abend zum Aufstieg auf die etwa 2350 m hoch gelegene Alp Montel, mit dem Plane, am folgenden Tag das Grauhaupt, 3315 m, zu besteigen, das einen grossartigen Einblick in die Südflanken der Monte Rosa-Kette zu geben versprach. Die Mutter unserer Gastgeber hat auf Ober-Montel, welche Alp der Familie zu eigen ist, eine Stube für ihre Nachkommen einrichten und vertäfeln lassen. In dem wohnlichen Raum verbrachten wir mit unserm Kollegen und drei weiteren Familien-gliedern, worunter der elfjährige « Carluccio », einen vergnügten Abend.

Am frühen Morgen, während unsere Gesellschaft zum Pinterjoch aufstieg, verschlechterte sich von Stunde zu Stunde das Wetter, und auf dem Gipfel unseres Berges, der über den meist bequemen und nur an einem Punkte von einer Kletterstelle unterbrochenen Südgrat erreicht wird, staken wir im dichtesten Nebel. Vergeblich warteten wir bei empfindlicher Kälte, ob das Grauhaupt seine Schleier lüften und uns den ersehnten Ausblick gewähren möchte, doch schien es gewillt, für heute seinen Namen nicht zu verleugnen. Bei Schneegestöber traten wir den Abstieg an, entschädigten uns an den tiefer gelegenen Hängen mit Edelweisssuchen und erreichten tropfennass zur Mittagsstunde Montel. Als wir nach mehrstündigem vergeblichem Warten auf ein Nachlassen des Regens wieder marschbereit das Häuschen verlassen wollten, da stand unversehens das italienische Stubenmädchen vom Castell vor der Tür, schwarze Haarsträhne über dem ebenmässigen Madonnengesicht, ein halbes Dutzend Regenschirme in den Armen: ein rührendes Bild lebendiger Fürsorge!

Nach dieser Übungsfahrt wurde unser Tatendurst noch während mehrerer Tage auf die Probe gestellt, denn es regnete anhaltend im Tal und schneite auf den Bergen. Endlich, Mittwochs, heiterte es auf, höchste Zeit, gingen doch unsere Ferien mit dem kommenden Sonntag unwiderruflich zu Ende. Gerne wären wir an diesem Tage zur Capanna Gnifetti am Lysgletscher aufgestiegen. Doch diese liegt hoch, über Tödihöhe; keinerlei Vorbereitungen waren noch getroffen, der anzuwerbende Führer Anton Curta in dem eine Stunde talabliegenden St-Jean noch nicht angefragt, und die Mittagszeit schon da! Curta erschien um 2 Uhr und schlug vor, erst am nächsten Morgen aufzubrechen; das sei durchaus kein Hindernis, noch am selben Tag die Vincentpyramide, 4215 m, zu besteigen und zur Gnifettihütte zurückzukehren. Freund Läuger sah mich kopfschüttelnd an, während ich mir überlegte, dass ich vor Jahren ähnliche Steigungen von dreitausend Meter an einem Tage überwunden hatte, so etwa von Châtillon im Aostatal zum Theodulpass, von Saas-Fee nach dem Fletschhorn oder direkt von Zermatt aus aufs Zinalrothorn. Ob ein solches Unternehmen bei Neuschnee nach Überschreitung des Schwabenalters und mit anderweitiger Mehrbelastung noch durchzuführen wäre? Jedenfalls sollte die Jugend auch mitkommen, brannte doch die zwanzigjährige, schlanke Martha Vincent darauf, den Berg ihres Urgrossvaters zu bezwingen. Die Last der Rucksäcke verteilten wir weise auch auf die Schultern unseres Führers und eines Trägers, der dann mit den Gressoneyern zurückkehren sollte, während wir Basler mit Curta uns weiteren Gipfeln des Monte Rosa und dann Zermatt zuwenden wollten.

Indessen benützten wir den herrlichen Nachmittag zu einem Ausflug nach Alpenzu, einem Bergnest, dessen weisse Kapelle hoch über dem Talgrund zum Besuche lockt und dessen Aussicht gegen den Lyskamm und die Vincentpyramide, die beiden Wahrzeichen des Tales, einzigartig schön ist.

Donnerstag morgens nach halbvier Uhr traten wir vor dem Castell in die klare Sternennacht hinaus und folgten dem Strässchen talauf nach dem eine Stunde entfernten Trinité. Dem Wanderer fällt hier an der Kirche eine Gedenktafel auf für Johann Nicolaus Vincent ( 1785—1865 ), den Erstersteiger von Vincentpyramide und Zumsteinspitze in den Jahren 1819 und 1820. Bei der Enthüllung dieser Tafel im Jahre 1898 betonte der damalige Zentralpräsident des italienischen Alpenklubs, Grober aus Alagna, man müsse in Johann Nicolaus Vincent den ersten Bezwinger von zweien der hervor- ragendsten Gipfel des Monte Rosa bewundern und man wolle ihn deswegen als « den wahren Bahnbrecher des italienischen Alpinismus » proklamieren.

Ein guter Fussweg leitete uns in der Morgendämmerung zwischen weit verstreuten Häusergruppen hindurch talaufwärts und dann an den östlichen Hängen empor zur Moosalp. Langsam gewinnt man den Überblick über die westliche Bergkette, die sich vom Grauhaupt zum Rothorn, 1789 von de Saussure erstmals besucht, dann zur Einsenkung der Bettafurke und wieder ansteigend gegen den Kastor hinzieht. Während Führer Curta « seine » nahegelegene Alphütte aufsuchte, leisteten wir uns den Umweg über die Vincent-sche Indrenalp, wo die Reste der alten Erzmühle noch sichtbar sind. Dr. Vincent begrüsste hier seinen Schafpächter, wir hingegen interessierten uns mehr für dessen friedlich grasenden Esel. Diesem Tier werden wir dankbar bleiben, trug es doch während der folgenden zwei Stunden unsere sämtlichen Rucksäcke zur Höhe.

Erleichtert folgten wir den Erklärungen unseres Freundes, der uns die Lage der Erzgänge wies, die sich 500 Meter höher, zwischen dem Indren-gletscher und dem Corno del Camoscio, befanden. Durch Maultiere wurde das Erz zur Mühle herabgeführt. Schon der Urgrossvater, Niclaus Vincent ( 1754—1815 ), hatte hier Golderz gewaschen, und schon in ihm war der Ert-deckungsdrang nach der Höhe mächtig gewesen. Vor bald 150 Jahren, am 15. August 1778, erreichte er mit sechs andern jungen Gressoneyern, über den Indren- und Lysgletscher ansteigend, einen Punkt des Grenzkammes westlich des Lysjoches, etwa 3470 m hoch. Sie benannten diesen Ort « Entdeckungsfels » und wiederholten den kühnen Autstieg in den beiden folgenden Jahren, bis sie sich endlich davon überzeugt hatten, dass das von ihnen gesuchte, sagenumwobene « verlorene Tal » das Zermattertal sein müsse.

Mögen die Beweggründe dieser Pioniere zum Aufstieg von denen späterer Bergsteiger noch so verschieden gewesen sein, so steht doch fest: Die Erklimmung einer Höhe von über viertausend Meter war, soviel uns heute bekannt, vormals im gesamten Alpengebiet noch niemals vorgekommen. Und Dreitausender? Gewiss, ein halbes Dutzend etwa! Schon Anno 1358 die Roccia Melone in den Grajischen Alpen, dann anfangs des 18. Jahrhunderts Piz Linard und Piz Beverin in Graubünden, 1739 der Titlis, 1762 der Ankogel in den Ostalpen und 1770 der Mont Buet in Savoyen. Dagegen führten die von de Saussure im Jahre 1760 angeregten Versuche zur Bezwingung des Mont Blanc erst 1784, also 6 Jahre nach Erreichung des Entdeckungsfelsens, auf die Höhe des Dôme du Gouter ( 4300 m ) und 1786 auf den Gipfel des Mont Blanc.

Ums Jahr 1819 betrieb der Sohn Johann Nicolaus Vincent die väterliche Erzhütte auf Indren, nicht als sein Hauptgeschäft, denn während zehn Monaten des Jahres war er in Konstanz im Seidenhandel tätig. Seine vielseitigen Interessen galten auch der Kunst. So hat er im Lauf der Jahrzehnte in Konstanz eine Sammlung von 600 Glasgemälden zusammengebracht, die bis in die Neunzigerjahre unverändert erhalten geblieben ist und dann zum Grundstock der Glasbilder des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich beigetragen hat, Über seine Besteigungen im Monte Rosa-Gebiet hat Vincent leider nichts veröffentlicht. Die wertvollen Berichte darüber verdanken wir seinem Landsmann Joseph Zumstein, der sich ihm für die zweite Besteigung der Vincentpyramide und für die spätere erste Ersteigung der Zumsteinspitze angeschlossen hatte. Zumstein hat jedes Jahr der königlichen Akademie der Wissenschaften in Turin einen sorgfältigen Bericht eingereicht und ist von Turin aus zu neuen Unternehmungen ermuntert und mit Instrumenten unterstützt worden. 1824 hat dann Ludwig von Weiden, ein österreichischer Generalstabsoberst, diese Berichte seinem grundlegenden Buch über die Topographie des Monte Rosa beigegeben. Ihm entnehme ich das für unsern Vincent Wesentliche:

« Vom 26. Juli bis zum 3. August ( 1819 ) beschäftigten wir uns mit dem Zusammentragen der nötigen Bedürfnisse und liessen uns zu diesem Ende wohlgestählte Fusseisen, Alpstöcke mit langen Stiften an einem und krumm zugespitzten Haken am andern Ende, Leitern, Eisbohrer und dergleichen verfertigen, die am folgenden Tage Herr Vincent auf zwei Maultieren bis zu seiner mittleren Erzhütte beförderte.Von da liess er die sämtlichen Gerätschaften durch seine Erzknappen bis zur obersten Hütte, eine Stunde oberhalb der gewöhnlichen Gletscherregion, hinauftragen und bezog dort bei seinen Arbeitern das Nachtlager.

Er brach am 5. August bei der ersten Morgendämmerung auf, nahm zwei von seinen Erzknappen und einen erfahrnen Gemsjäger mit, versah sich mit etwas Lebensmitteln und den nötigsten Gerätschaften samt einem zerlegten hölzernen Kreuz, und so wanderte er bei trübem Wetter und lauer Luft über ungeheure Schneefelder unter mannigfachen Beschwerden bis an den jähen Abhang des steil aufsteigenden Gipfels vor, den er vormittags 11 Uhr über jenen gefährlichen Eissaum, den ich in der Folge näher beschreiben werde, glücklich erstieg. Er fand alles weit umher mit Nebel umgeben, und die schöne Aussicht war verloren. Das mitgetragene hölzerne Kreuz wurde zusammengesetzt und einige Schuh tief in den Schnee gestossen. Nach einem halbstündigen Aufenthalt kam er abends 6 Uhr unter vielen Schwierigkeiten glücklich zur Erzhütte zurück. » Fünf Tage später folgte der Pfarramtsverweser von Trinité, Bernfaller, mit einem Träger Vincents Spuren bei glänzenden Wetter- und Schneeverhältnissen.

Wenige Tage darauf, am 12. August 1819, geschah bereits die dritte Besteigung der später von Weiden getauften Vincentpyramide, und zwar wieder durch denselben J. N. Vincent von seiner obersten Erzhütte aus, wo er seinem diesmaligen Begleiter, Joseph Zumstein, ein Nachtlager gewährt hatte. Die Hütte lag etwa 3275 m hoch und war damals jedenfalls die höchstgelegene in Europa.

Nun folgen wir wieder dem Originalbericht Zumsteins:

« Am Fusse des Abhanges, auf der östlichen Seite, liegen die Erzstollen, wohin ein in Felsen gehauener Weg im Zickzack hinabführt. Die Nacht war frei von allem Gewölke und von hellem Mondschein beleuchtet. Mit der ersten Tageshelle standen wir auf, bepackten unsere Träger, einen Gemsjäger und einen Erzknappen, und jeder von uns band scharf zugespitzte Fusseisen an. Als wir den ersten Abhang des Indrengletschers erstiegen, erblickten wir die höchsten Gipfel des Mont Blanc, des Velan und des Mont Cervin und den zu unserem Ziel bestimmten Monte Rosa von den ersten Sonnenstrahlen vergoldet: ein Anblick, den keine Feder zu beschreiben vermag. » Den letzten Aufstieg über den Eisgrat schildert Zumstein in allen Einzelheiten:

« Der Beherzteste von uns, der Erzknappe, musste mit der Axt voraus, um Fusstritte in das Eis zu hauen. Ihm folgte der Jäger mit der Schaufel, um die Tritte zu säubern, nach diesem Herr Vincent und ich zuletzt. Ungefähr 50 Schritte rückten wir, den rechten Arm bis unter die Schulter über den Eiskamm schlingend, weiter. Unsere Füsse vermochten kaum, mit dem Vorderteile auf den ins Eis gehauenen Tritten zu ruhen. Neue Eisstufen waren jetzt auf der Schneide des Überhanges gemacht, wo unser Körper nur mühsam das Gleichgewicht halten konnte; noch erblickten wir links und rechts die schaudervollsten Abgründe tief unter uns. Wir blieben ruhig einige Minuten in unserer Stellung stehen, mittlerweile der erste immer neue Tritte aushieb, als plötzlich der zweite, nämlich der Jäger, erblasste und langsam und kraftlos an die Schneewand hinsank. Herr Vincent allein konnte ihm Hilfe leisten, weil er sein nächster Nachfolger war. Sein Vormann konnte nicht zurücktreten und ich, aus Furcht auszugleiten, meine Tritte nicht verlassen. Während seine blasse Stirn der kalte Schweiss überlief, ergriff Herr Vincent mit reifer Geistesgegenwart eine Handvoll Schnee und rieb dem Erschöpften zu wiederholten Malen die Stirne und Schläte. Die Kräfte kehrten allmählich wieder, und die plötzliche Ermattung war vorüber. Die aus Vorsicht bei dergleichen Anfällen mitgenommenen Lebensgeister blieben unbenutzt auf dem Rücken des Ohnmächtigen.

Die Träger schlugen vor, uns alle an die Seile zu binden; allein ich willigte nicht ein. Wie leicht hätte nicht einer oder der andere ausgleiten und alle viere in den Abgrund hinabziehen können. Immer steiler kletterten wir aufwärts, bis endlich die Schneekuppe sich zuzurunden anfing. Es war 1 Uhr vorüber, und ein Weg von 600 ausgehauenen Tritten kostete uns drei mühevolle Stunden. » Nach 4 Uhr wurde die Rückreise auf dem gleichen Wege nach der Erzhütte angetreten und vor einbrechender Nacht zu Ende geführt.

Reizvoll war die Rückschau nach Vincents Taten an historischer Stätte in Gegenwart seiner Nachkommen gewesen.

Nun bewegten wir uns selbst am Berge aufwärts, auf einem Weglein über Guferhalden, begleitet von unserm Langohr und von einem Schäferhunde. Unsere Absicht war die, den Berg links zu umgehen und schliesslich über die Nordwesthänge die Pyramide zu gewinnen, während die erste Besteigung über den Südostgrat zur Spitze geführt hatte.

Zur Linken trennte uns eine Felsbastion, das Hohe Licht, vom Lysgletscher. Auf diesem Vorsprung steht in unvergleichlicher Lage das Gerippe einer grossen Hütte, die indessen nie fertig geworden ist: das Baumaterial soll während des Weltkrieges an die österreichische Front gewandert sein.

Auch von der alten, 1875 erbauten Linty-Hütte — Sebastian Linty ist einer der Männer des Entdeckungsfelsens —, an der uns der Weg höher oben auf 3140 m vorbeiführte, sind nur noch einige Bretter vorhanden.

Unterwegs lud eine sprudelnde Quelle zur Rast. Von diesem Punkt überblickt man die Berge des Aostatales; hier grüssen bereits Gran Paradiso, Mont Emilius und Grivola herüber, und weit im Süden schwebt der duftige Monte Viso. Zwei von der Gnifettihütte absteigende, sonnverbrannte Italiener öffneten zugleich mit uns ihre Rucksäcke. Der Schäferhund, ein abgefeimtes Luder — Freund Läuger behauptet noch heute, das gestreifte Fell beweise seine Abstammung vom Schakal —, zog lautlos einen grossen Brotlaib aus den Tiefen eines der Rucksäcke und hatte ihn schon halb erledigt, als der Besitzer den Verlust gewahrte.

Beim Weitermarsch über zerstreute, dann immer zusammenhängendere Schneeflecke versank plötzlich unser guter Esel bis zum Bauche. Dankbar entliessen wir das Tier und seinen Begleiter und trugen nun selbst unsere Lasten in der Mittagshitze über steile Schneehänge und einen kleinen Firn zur Capanna Gnifetti. Es war 2 Uhr, als wir dort auf 3647 m Höhe anlangten. Ein Mittagsschläfchen auf kühlem Lager — es gibt Zimmer wie in den Ostalpenhütten — war uns allen willkommen.

Um 4 Uhr zogen wir erfrischt den Lysgletscher hinauf, der SW-Flanke der Vincentpyramide entlang. Der Gletscher zeigt hier nur wenige Spalten. Im weichen Schnee umgingen wir die Steilhänge unseres Berges nach links und stiegen über den NW-Hang zum Gipfelgrat empor. Hier empfing uns ein sturmartiger Wind, der unsre leichte Begleiterin hinunterzublasen drohte. Wir nahmen das Seil kurz und stiegen in einer Viertelstunde über den schmalen, doch nur wenig ansteigenden Westgrat zur verwächteten Spitze. Es war halb 7 Uhr abends. Wundervoll ist der Tiefblick nach dem Val Sesia, auf die Ostabstürze der verschiedenen Monte Rosa-Gipfel, wo sich der Schatten unseres Berges als riesiger Kegel vorschiebt, und auf den Lyskamm. Welche Gegensätze: diese in Eis erstarrte Welt hier oben, von roten Abendwolken umbrandet, die dunkle Tiefe nach Osten und draussen das blaugrüne Tal von Gressoney mit den wie Kulissen hintereinandergeschobenen Bergketten gegen Süden! Nur kurze Minuten konnten wir auf dem schmalen First den seltenen Augenblick gemessen; der Sturmwind trieb uns zurück. Doch auf dem Plateau zwischen Pyramide und Balmenhorn mussten wir immer wieder den herrlichen Lyskamm bewundern, der, wie sich Freund Vincent ausdrückte, « rauchte wie ein im Sturm entbrannter Vulkan, erleuchtet von den letzten Sonnenstrahlen; che magnificenza, che visioni indimenticabili! » In einer Stunde erreichten wir um 8 Uhr die gastliche Gnifettihütte und feierten das Zusammensein mit unserm Freunde, der eben so glücklich war, dass er uns seine Vincentpyramide hatte zeigen dürfen, wie seine Nichte Martha, deren Wunsch so schön in Erfüllung gegangen war, den Berg ihres Urgrossvaters nun als Erste ihrer Generation erreicht zu haben. Es hätte einen eigenen Reiz, mit Nachkommen eines Tyndall das Weisshorn und mit denen eines Whymper das Matterhorn zu besteigen!

Am nächsten Morgen mussten wir von unserm Gastgeber, dem wir so viel verdankten und der uns sein Tal und seine Berge lieben gelehrt hatte, Abschied nehmen, denn er und seine Nichte konnten uns nicht weiter begleiten.

Um 8 Uhr brachen Paul Läuger und ich mit Führer Curta auf. In unsern Spuren von gestern stiegen wir hinauf gegen das Lysjoch. Kurz vor der Höhe entragt dem Lysgletscher ein Felszahn, das Balmenhorn, 4156 m hoch. Ein Anstieg durch Schnee und Fels von Westen bringt uns in einer Viertelstunde auf den kleinen Gipfel, auf dessen Südseite versteckt eine Baracke während des Krieges errichtet worden ist als italienischer Beobachtungsposten zur Kontrolle des Lysjoches. Vincentpyramide, Balmenhorn und das weiter östlich befindliche elegante Schwarzhorn liegen noch völlig in italienischem Gebiet.

Auf dem Lysjoch hielten wir Rast und Kriegsrat. Unser Plan war gewesen, in der Capanna Margherita zu nächtigen. Doch das Wetter sah nicht zum besten aus. Ein heftiger Wind trieb schwere Wolkenmassen um die Bergflanken. Anton Curta, ein ebenso ruhiger wie erfahrener Mann, der schon gezwungen gewesen, mehrere Tage im Schneesturm auf jener Gipfelhütte auszuharren ohne Möglichkeit eines Abstieges, riet des bestimmtesten, die Säcke auf dem Joch zu lassen, so rasch wie möglich zur Signalkuppe aufzusteigen und die Nacht nochmals unten in der Gnifettihütte zuzubringen. Wir fügten uns, denn zum Abwarten auf der Margheritahütte und zur Heimreise reichten unsre zwei Ferientage entschieden nicht. Wir gruben unsre beiden Säcke etwas in den Schnee ein und stiegen, erst leicht abwärts an der Parrotspitze vorbei, zur Margheritahütte an. Noch immer jagten die Wolken von Westen her um die Berge und über die Joche, doch als wir am Nachmittag die Punta Gnifetti und damit die Hütte, zuletzt über einen steilen Eishang, erreicht hatten, schien das Wetter wieder Gutes versprechen zu wollen. Wir entschlossen uns daher, die Säcke ihrem Schicksal zu überlassen und die Nacht auf dieser hohen Warte, auf 4561 m, zu verbringen. Wir sollten es nicht bereuen, denn was wir hier oben schauten und erlebten, gehört zum Schönsten, was Bergsteigern beschieden sein kann, zählt zu den seltenen Feierstunden des Daseins überhaupt.

Ein Gefühl des Losgelöstseins von der Erde überkommt den Wanderer auf dieser Zinne, die gegen Osten Hunderte von Meter senkrecht, ja überhängend zum Sesia- und Monte Rosa-Gletscher abbricht, um dann in steiler Flucht zutal zu stürzen. Man steht auf einem von Wächten und Felstürmen besetzten, auch nach der Schweizerseite erst steil abfallenden Grat und doch im Bewusstsein völligen Geborgenseins unter gastlichem Dach und unter der Obhut eines vorzüglichen Hüttenwarts aus dem Val Sesia. Ist der Gegensatz in der nächsten Umgebung, der Abbruch gegen Osten und die Firnreviere auf der andern Seite, der denkbar grösste, so ist der Fernblick nicht minder abwechslungsreich. Hier grüssen die Silberbänder der oberitalienischen Flüsse herauf und die matten Spiegel der Seen, dort reihen sich die stolzesten Häupter der Walliseralpen aneinander, vom Lyskamm bis zum Combin, zur Dent du Midi und hinaus zum Mont Blanc. Über die Senke des Rhonetals winken die Waadtländer- und Berneralpen und im Süden als Gegenstück die Grajischen Alpen mit dem Gran Paradiso, links dahinter in duftiger Ferne wie ein Vulkan der ebenmässige Monte Viso. Gegen Osten aber steht ein ungezähltes Heer von Bergen: Schweizer, Italiener und Österreicher! Mit einer solchen Aussicht mag es einem ergehen wie beim Anblick des gestirnten Firmamentes. Mit Bewusstsein freut man sich an dem Glanze der bekannten Sterne erster Grösse, sucht dann die Zusammenhänge der Sternbilder, bis der Blick sich in der Unendlichkeit der Milchstrasse verliert.

Über die Südnase des Lyskamm sehen wir eine Seilpartie heraufkommen: ein Franzose mit Frau und Töchtern, begleitet von zwei Führern Carrel aus Val Tournanche, Vater und Sohn. Vater Joseph Carrel hat mit einem zweiten Führer 1911 Dr. Piacenza über den Furggrat und über die italienische Seite des Gipfelkopfes aufs Matterhorn geführt, eine ungewöhnlich schwierige und steingefährliche Sache. Im grossen Schlapphut, mit buschigen Augenbrauen und kühnem Schnurrbart erschien er mir als Verkörperung des prächtigen italienischen Führerschlages der Carrel und Maquignaz, die sich in der Ersteigungsgeschichte des Matterhorns unvergängliche Namen gemacht haben. Der frische, unternehmungslustige Sohn glich eher dem Bilde Emile Reys; mir erschien er als lebendig gewordene Kraft und Gewandtheit, ein Kind der Bergnatur. Sie beide weilten lange mit uns auf dem schmalen Altan, der um die Hütte halb herumführt, und schauten mit Hingebung nach ihren heimatlichen Bergen, während die Franzosen vom Neuschnee und von der Höhe offenbar so hart mitgenommen waren, dass sie den Hüttentisch nicht verlassen mochten. Oder hatte wohl Führer Curta recht, der sich im Tale geäussert: « Mit Schweizer Herren gehe ich am liebsten. Die schauen sich die Berge noch an und rennen nicht hinauf und hinab, nur um droben gewesen zu sein, wie die Italiener und Franzosen. »? Möge der Ruf, den wir Schweizer jenseits der Grenze heute noch gemessen, auch in Zukunft das Kennzeichen des Schweizer Alpenclubisten bleiben!

Diesem Abend auf der Punta Gnifetti gab nicht allein das spürbare Zusammenklingen der Herzen im Anblick der uns umgebenden Gipfel eine besondere Note; die Bergnatur schien gerade jetzt alle ihre Zauberkräfte aufgeboten zu haben: Die sinkende Sinne entflammte die um den Lyskamm und die Krone des Monte Rosa wallenden Nebel zu leuchtendem Feuer; im Süden stand am Himmel eine hochgetürmte, wogende Wolkenmasse; an der kalten Ostwand unter uns klebte eine Nebelschicht, und auf ihr zeichneten sich scharf unsre Silhouetten ab, von farbigen Kreisen eingeschlossen, das Phänomen des « Brockengespenstes ». Alpendohlen umschwebten leicht und elegant unsere Zinne. Und nachdem die Sonne hinter den fast wolkenlosen, zackigen Horizont gesunken und die Gestirne am schwarzblauen Himmel in seltenem Glanze erstrahlten, da fuhr in der lautlosen Stille, scheinbar in nächster Nähe, eine Sternschnuppe zur Tiefe. Raum und Zeit schienen sich zu weiten, der Gedanke an Freunde, die einst mit mir hier oben geweilt und nun nicht mehr dabei sein konnten, an liebe Kinder, die nun entrückt waren, das Heimweh nach Lebenden und Toten wurde lebendig und verschmolz in der Grösse und dem Frieden dieser Stunde: Die Schranken, die uns Menschen gezogen sind, schienen sich aufzutun. Ich vermag nicht, das Geschenk solcher Stunde in eigene Worte zu kleiden und wähle darum einen Abschnitt aus « Augustins Bekenntnissen », ohne mich irgendwie vermessen zu wollen, beides auf eine Stufe zu stellen und die Tiefe seines Erlebens auch nur ganz zu erfassen.

Kurz vor dem Tode seiner Mutter war es geschehen, dass Augustin mit ihr « einmal allein im Fenster lehnte und auf den Garten vor dem Haus hinausblickte, während sie dort im stillen Ostia von den Mühsalen der langen Reise ruhten. Wir vergassen, was dahinten war, und streckten uns nach dem, was vor uns ist. Wir öffneten sehnsuchtsvoll die Lippen dem Quell, der zu uns niederströmt, dem Quell des Lebens, der sprudelt bei Dir. Er über-sprühte unser Denken, soweit es das zu tragen vermochte, so dass wir ernst und tief in die grosse Frage eindrangen. Unsere Gedanken trugen uns über das Irdische hinaus. Wir sahen, wie jedes Entzücken der leiblichen Sinne ob es auch überstrahlt ist vom hellsten Licht der Erde, erbleichen muss und hinschwinden vor der Herrlichkeit jenes Lebens. Wir drangen dahin, wo die lebendige Weisheit ist, durch die dies alles geschaffen, was gewesen ist und sein wird. In ihr ist kein Vergehen und Werden, in ihr, der ewigen, ist nur Sein. Vergehen und Werden ist nicht ewig. Während wir so sprachen und mit aller Inbrunst der Sehnsucht zu ihr drängten, geschah es in einem Augenblick, dass wir ihre Berührung an unsern tief schlagenden Herzen empfanden. Dann seufzten wir auf und sanken zurück zu den Worten unseres Mundes. » Nicht in der Einsamkeit der Natur allein mag uns ein solcher Moment beschieden sein, ein Kunstwerk, die Musik, etwa ein Bach oder Brahms, mögen ihn uns vermitteln. Doch wenn ihn uns die Berge einmal schenken, so wollen wir ihnen dankbar sein...

Siegreich stieg am Morgen die Sonne hinter der Adamello- oder Presanellagruppe herauf, trieb die Schatten in die Tiefe der Täler und verscheuchte die Geheimnisse, die vom Abend her noch in uns zurückgeblieben.

Unser nächstes Ziel war die Zumsleinspitze, die dritthöchste Erhebung des Monte Rosa, 4573 m hoch. Auch sie ist mit dem Namen Vincent eng verbunden, hatten doch Johann Nicolaus und der jüngere Bruder Joseph Anton am 1. August 1820, ein Jahr nach der Bezwingung der Vincentpyramide, ihren Fuss als Erste auf die Spitze gesetzt, die sie für die höchste des Monte Rosa gehalten hatten. Die Familiengeschichte erzählt, dass sie das schwere, eiserne Kreuz, das an diesem Tage während des fünfstündigen Gipfelhaltes errichtet wurde, unter ihren Röcken selbst hinaufgetragen hätten. Unserm Freunde in Gressoney sollten wir über den Zustand des Hundertundfünf-jährigen Nachricht geben; der zu Boden gefallene Querstab war vor wenig Jahren von ihm wieder befestigt worden.

Zumstein beschreibt die Erstersteigung recht anschaulich. Die Nacht hatte die Partie im Zelt auf dem Grund einer Gletscherspalte nahe beim Lysjoch verbracht, war dann um halbacht Uhr aufgebrochen und nach anderthalbstündigem Anstieg « an den pyramidenförmig zugespitzten Gipfel » gelangt. « Herr Molinatti, erschöpft durch die feine Luft, ruhte von Zeit zu Zeit ein wenig aus. Die zwei Herren Vincent hingegen, von der heftigsten Begierde getrieben, zuerst den Gipfel zu betreten, eilten voraus. Ich folgte ungefähr 50 Schritte hinter ihnen keuchend nach. Der beherzte Jäger Castel stieg voran, um mit einer Axt Tritte in das Eis einzuhauen. Der jüngere Herr Vincent folgte ihm Schritt für Schritt, sein Bruder und ich holten sie bald ein. Je weiter wir über diesen zum Teil überragenden und senkrecht in das Ma-cugnagatal abhängenden scharfen Saum hinaufkletterten, verlor sich der harte Schnee, und das Glatteis zeigte sich. Im Falle des Ausglitschens würden wir ungefähr 8000 Fuss ( also 2600 m ) senkrecht hinabgestürzt sein.

Ungefähr zehn Schritte unter dem Gipfel betraten wir loses Gestein, dessen Lücken mit Eis angefüllt waren, an dem wir, mit mehr Leichtigkeit kletternd, endlich auf der Spitze ankamen. Der jüngere Vincent war der Erste, der den Gipfel betrat. Er jubelte laut auf: „ Es lebe unser König, es leben alle Beförderer der Wissenschaften. " Wir wiederholten diese unserem Innern entsprechenden Worte und steckten sogleich eine Fahne in das Eis. Unbeschreiblich war das Gefühl, das jeder von uns in dieser Höhe, welche noch kein Sterblicher vor uns betrat, empfand. » Nach fünfstündigem Aufenthalt verliessen die drei Männer den Gipfel als Letzte, geraume Zeit nach ihren Hilfskräften, und erreichten noch vor Einbruch der Nacht die mittlere Erzhütte. Auf dem Eisenkreuz sind die Initialen der beiden Vincent eingegraben; diejenigen Zumsteins sind später in anderer Manier beigefügt worden. Der Gipfel sollte nach dem Vorschlag der Erstersteiger den schönen Namen « Cime de la belle Alliance » tragen zur Erinnerung an die gemeinsame Unternehmung. Leider blieb jedoch die von Weiden eingeführte Benennung « Zumsteinspitze » zu Ehren des Mannes, der diesen Punkt auch in den beiden folgenden Jahren erneut betreten hat.

Die Schriften Weldens und Zumsteins mit ihrem wissenschaftlichen und topographischen Ergebnis brachten es mit sich, dass der Name Vincent anfangs in den Hintergrund trat, ähnlich wie die wirklichen Erstersteiger des Mont Blanc, Dr. Paccard und Balmat, bei den Gebildeten weniger bekannt geworden sind als de Saussure, der wissenschaftliche Erforscher und Schriftsteller des Mont Blanc. In seinem interessanten Buch « Die deutschen Colonien in Piemont » hat Albert Schott 1842 mit Recht auf diese Vernachlässigung hingewiesen und versucht, einem jeden von diesen Pionieren sein ihm zu-kommendes Verdienst beizumessen.

Bei unsrer eigenen Besteigung des Jahres 1925 betrat Paul Läuger den Gipfel der Zumsteinspitze als Erster, Führer Curta als Letzter, denn wir hatten diese Marschordnung, die wir naturgemäss beim Abstieg über den eisigen Hang der Signalkuppe eingenommen hatten, beibehalten. Mit Genugtuung liessen wir uns nach kurzer Kletterei auf unserm Felsenriff nieder und schauten ehrfürchtig über die gewaltige Ostwand gegen Macugnaga hinab. Im Anblick des ehrwürdigen Eisenkreuzes wurde in mir gleicherweise die Erinnerung an die heroische Zeit der Erstbesteigung wach wie die eigenen Erlebnisse aus dem Jahre 1910 mit dem wundervollen Gratübergang zum Grenzgipfel und zur Dufourspitze, die mir heute im Neuschneegewande so unnahbar scheint. Ein glanzvoller Tag ist uns heute beschieden. Mein Kamerad bestaunt die Grösse und den Formenreichtum dieser Zermatter Berge, die mir so vertraut und doch wieder in neuer, junger Schönheit ent-gegenstrahlen. Sie ist wohl gleichermassen schön, die Bergeswelt, die man in allen Einzelheiten kennt und liebt, wie die, die sich zum erstenmal dem trunkenen Auge offenbart; und doppelt schön ist es, wenn sich die vertraute Bergwelt zum erstenmal im Auge des jüngeren Freundes spiegelt.

Auf dem Lysjoch waren unsere Säcke als winzige Pünktchen sichtbar. Wohl lockte ihr Inhalt mit mannigfachen Leckerbissen aus dem Castell, doch vorerst wollten wir den Genuss des Bergsteigens gehörig auskosten und ohne Gepäck im harten Schnee einen weiteren Gipfel, die Parrotspitze, ersteigen. Diese erhebt sich als weisse, scharfe Schneide zwischen der Punta Gnifetti und dem Lysjoch. Vorsichtig stiegen wir ab und wanderten unter dem Colle Gnifetti und der Signalkuppe hinab über sanfte Schneehänge zum Sesiajoch. Dann erklommen wir den schmalen, grösstenteils von Gwächten gekrönten Nordostgrat unseres Berges. Der Gipfel der Parrotspitze wird von einer gewaltigen, gegen Italien überhängenden Wächte gebildet. Vorsichtig querten wir an der steilen, eisigen Nordwand, die unserm Führer längere Hackarbeit verursachte. Über unsre Steigeisen wären wir hier froh gewesen, mahnte die Stelle doch verzweifelt an den Lyskamm, aber die Eisen waren vom Führer wegen des Neuschnees für unnötig erklärt worden und reisten heute wohl schon durch den Simplon.

Die 4463 m hohe Parrotspitze ist erst im Jahre 1863 bezwungen worden von den Engländern Macdonald, Grove und Woodmass mit Melchior Anderegg und Peter Perren. Ihren Weg, den Westgrat, wählten wir zum Abstieg. Er führt nicht der Wasserscheide entlang, sondern mehr gegen den Grenzgletscher zu, erst über einen Schneerücken, dann über steile Felsen und ein Eiswändchen steil hinab auf das Plateau westlich des Piodejoches.

Der Schnee war schon etwas weich geworden. Doch da ragte südlich in nächster Nähe der schöne Schneegipfel der Ludwigshöhe zu der bescheidenen Quote von 4344 m auf — man gewöhnt sich in dieser Gegend die landläufigen Begriffe von hoch und niedrig einigermassen ab —, und ohne ein Wort zu verlieren, machte sich Curta an den Aufstieg. In 25 Minuten war die Kuppe erreicht. Zum letztenmal schauten wir über die Ostwände des Monte Rosa-Stockes hinab und hinaus in den sonnigen Süden. Der letzte Blick galt der Vincentpyramide. Rasch gelangten wir hinab zum Lysjoch.

Nachdem wir eine Stunde gerastet, beluden wir uns kurz nach 11 Uhr mit unsern unversehrt wiedergefundenen Rucksäcken. Da waren wir nun wieder im glücklichen Besitz vieler angenehmer Dinge, von Films für die Gipfelbilder, von Schlafpulvern für die Margheritahütte, von Unterkleidern für den Sonnenaufgang auf der Signalkuppe, während wir uns anschickten, hemdsärmelig den glastenden, neuschneebedeckten Grenzgletscher hinabzusteigen. Unsere Hoffnung, aus der Tiefe eine Karawane von der Bétempshütte herauftauchen zu sehen, deren Spur uns viel Mühe hätte ersparen können, sollte nicht erfüllt werden. So zogen wir langsam, weit über die Knöchel einsinkend, mit Führer Curta an der Spitze, in grossem Bogen nach rechts bis nahe zum Westgrat der Zumsteinspitze hinüber und dann immer unweit des rechten Ufers gegen den Abfall der Dufourspitze hinab, wo grosse Spalten den weitern Abstieg zu hemmen drohten. Rechts, hart an den Felsmauern der höchsten Spitze, konnte die Stelle umgangen werden. Bald hing bei Punkt 3722 vor unsern Füssen eine steilgewölbte Schneewand, deren Auslauf nicht zu sehen war, zur Linken ein Chaos von Seraks und wahren Gletscherschluchten, das jede Umgehung ausschloss. In der Mitte dieses Hanges hiess uns Curta gut sichern. Tief einsinkend, stieg er Schritt für Schritt hinab, und nun erst sahen wir, wie sich etwa 100 Meter zur Rechten eine klaffende Querspalte unter der Schneedecke verlor und durch den ganzen Steilhang fortsetzte. Hier seien ein Jahr zuvor zwei Führerlose verunglückt, belehrte uns Curta. Der weitere Hang bestand nun aus blankem Eis. Wir querten ihn rechts abwärts haltend in den vom Führer geschlagenen Stufen.

Im August 1924 sind hier die beiden jungen Genfer Bergsteiger Topali und Zachmann, auch von der Margheritahütte und Parrotspitze absteigend, ums Leben gekommen. Der auf dem Eise lagernde, halbmetertiefe Neuschnee scheint mit ihnen in Bewegung geraten zu sein und sie mitgerissen zu haben, bis sie von den Schneemassen begraben wurden.

Der Grenzgletscher war in der untern Hälfte ungewöhnlich zerrissen. Wellenförmig fliesst er hier zutal, scheinbar leicht begehbar. Doch wehe dem, der bei Neuschnee nicht ständig auf der Hut ist. Wie auf einem leicht verhüllten Siebboden kommen wir uns vor. Wohl während einer Stunde lavieren wir hinab, Curta sondierend voraus. Immer zeigt sich ein Ausweg, wenn wir etwa in eine Falle geraten zu sein glauben, oft über recht lockere Brücken. Endlich, nahe dem Ausstieg gegen das untere Plattje, wie Curta sich eben anschickt, einige Stufen unter Eiszapfen hindurch zu schlagen, verschwindet Paul Läuger bis zur Brust in einer solchen Schneebrücke, die uns noch getragen hatte. In solchem Gelände ist man gerne zu dreien. Man ist auch froh, einen so aufmerksamen und geduldigen Begleiter bei sich zu haben wie den trefflichen Curta, denn nur zu leicht leidet beim langdauernden Gang im knietiefen Neuschnee in sengender Sonne des Städters Stimmung!

Endlich konnten wir auf festem Boden das Seil ablegen. Über vier Stunden hatte uns der mühsame Abstieg über den Grenzgletscher gekostet. Zwanzig Minuten später, etwa um 4 Uhr, betraten wir die Betempshütte. Wenn du in Italien deinen Pass verlierst, so kehre über das Lysjoch in die Heimat zurück: schwarz kannst du hier die Grenze passieren!

Curta schloss sich für den folgenden Tag einer Zermatter Karawane zur Rückkehr über das Lysjoch an. Er hatte sich in jeder Beziehung bewährt und unser volles Zutrauen gewonnen. Seine Rechnung nach dem italienischen Tarif war vollends so bescheiden, dass er selbst meinte, uns Schweizern wäre am Ende ein Valutazuschuss möglich. Wir vermehrten die Summe mit 2 und durften nun in ein glücklich-zufriedenes Führergesicht schauen. Hätten wir einem Zermatter Führer für dieselbe Leistung nicht den doppelten, sondern den vierfachen Betrag eingehändigt, er hätte uns nicht unter die « guten Herren », wohl aber unter die « schäbigen » gezählt!

In den Bergen ist vieles relativ. Diese Fahrt hatte es uns besonders klar gemacht. Relativ sind: innere Einstellung, « Schweizer"deutsch, Höhe von Viertausendern, Schwierigkeiten auf Gletschern und Führertaxen. Doch als wir allein in den verklärten Abend hinauswanderten über den weiten Gornergletscher und als bei einbrechender Nacht auf dem Fussweg zum Riffelberg, unserm Tagesziel, die Silhouette des Matterhorns in ihrer ganzen Wucht uns gegenüberstand, da wurde uns dankbar bewusst: Wir finden in den Bergen nicht nur relative, sondern auch absolute, bleibende Werte: Gastlichkeit, Freundschaft, Schönheit, Erlebnis, Überblick.

Walter Bernoulli-Leupold.

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