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Im Herbst ist es anders

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VON HANS FURER, WAHLERN

Mit 7 Bildern ( 31-37 ) Vorspiel Mit leicht gehobener Nase witternd, prüft Frithjof die lange Flanke von den Lauteraarrot-hörnern bis zum Schreckhorn und stellt schliesslich zustimmend fest: « Tatsächlich, du hast richtig gemeldet: absolut frühlingshafte Verhältnisse in den Ost- und Nordflanken, wie nach Neuschneefall, und am Ostsporn des Lauteraarhorns, „ unserer " Rippe, sieht 's geradezu winterlich aus! » Und doch ist heute der 10. September 1966. Wir stehen an der Mauer des Parkplatzes beim Grimselhospiz und schauen seeaufwärts. Soeben sind wir angefahren und haben seit unserm Treffpunkt in Meiringen auf der ganzen Bergfahrt - die der grossen Herbstmanöver wegen aussergewöhnlich lange gedauert hat - unsere diversen Pläne, die wir einander telephonisch vorgelegt hatten, weitererwogen. Dabei sind uns die kritischen Blicke und die von einem Lächeln begleiteten Gesten, die unsern Ski galten, nicht entgangen. Das Spiessrutenfahren wäre noch unterhaltsamer geworden, wenn die spöttischen Augen erst unsere verborgene Fracht gesehen hätten. Beim Umladen in Meiringen sind wir fast nicht fertig geworden: Skischuhe, Bergschuhe, Eispickel und Eisaxt; zwischen dem leichten Skitourenseil und dem wunderbaren 80-m-Abseilstrick aus Charly Kissligs sorgfältiger Handwerkerhand das handfeste Kernmantelseil derselben Provenienz; Steigeisen für beide Schuhpaare, Hammer und Eisschrauben, Felshaken und Skistöcke. Auch die halbe Bibliothek unserer Hochgebirgsführer und Landeskarten vom neuen Urnerführer West bis zum Guide Vallot; alles haben wir vorsorglich im Kofferraum verstaut: ein Abbild unserer verschiedenartigsten Pläne. Aber den ganzen Sommer über hat man eigentlich gut daran getan, so auszurücken: Für alle Varianten ausgerüstet starten, einen möglichst gründlichen Augenschein gewinnen; dann erst entscheiden.

Jetzt aber, um 12.30 Uhr beim Grimselhospiz, ist die Entscheidung fällig. Länger dürfen wir sie nicht mehr hinausschieben, damit wir beruhigt und entspannt dem Wahlziel entgegenfahren können. Nochmals durchgehen wir rasch unsere nächsten Wunschziele. Daraus hervorragend das in jeder Beziehung höchste - die Sentinelle Rouge am Mont Blanc. Übereinstimmend im Urteil, dass sie jetzt prächtige Verhältnisse aufweisen müsste, geben wir dieses Ziel zeithalber auf. Im Lauteraargebiet beschäftigt uns seit einigen Jahren der Südgrat am Berglistock. Nicht zu hoch und ausgesprochen südexponiert, käme er auch als ausgesprochener Klettergrat jetzt in Frageaber unsere Ski? Nun ist der entscheidende Augenblick da. Meine ganze Überredungskraft zusammenraffend, lege ich Frithjof nochmals meinen speziellen Vorschlag für dieses Wochenende in die Waagschale unserer Erwägungen: « Also doch die Skifahrt auf den Dom. Jetzt oder nicht mehr dieses Jahr. » - « Spinnbruder du », erwidert mein Freund skeptisch und unternehmungslustig zugleich. « Vor drei Wochen schon haben wir uns ja telephonisch beim Hüttenwart erkundigt. Die Auskunft: es sei davon abzuraten; die Ski müssten noch oberhalb der Hütte bis über die Moräne 5 Die Alpen - 1967 - La Alpes65 hinaus getragen werden; auf dem Festigletscher träten Séracs und Schrunde von Tag zu Tag abweisender hervor. Und seit diesem Bericht nun noch die sommerlich warmen Septembertage! » Doch ein mir wohlvertrauter Unterton lässt mich erkennen, dass auch mein Kamerad mit heimlichem Wohlgefallen an diesem Faden spinnt; darum propagiere ich keck weiter: « Bedenke, dass der Dom, dieser herrliche Gipfel, als Skiberg eine Sonderstellung einnimmt Bevor der Domhüttenweg nicht bis ans Ziel aper ist, kann man auch im Vorsommer an eine Skitour nicht denken. Sagt doch der Skipionier Arnold Lunn: „ Unterhalb der Hütte ist jedes Abfahren ausgeschlossen ", also wäre auch nichts damit zu gewinnen, dass man diese Tour versuchte, bevor der Weg zur Hütte schneefrei ist. Und was macht denn zu fünfstündigem Anstieg mit den Ski auf dem Buckel am frühen Morgen ein Stundenzuschlag schon aus - an diesem überragenden Berg! Und im schlimmsten Fall könnten wir die Ski bei der Hütte...! » - « Wir Spinnbrüder! » vollendet und quittiert Frithjof mein Plädoyer. Damit ist die Entscheidung wieder einmal einstimmig gefallen. Ohne weitere Kommentare wenden wir uns forsch wiederum der Grimselstrasse zu, Richtung Passhöhe-Goms-Randa.

Das freundliche Goms ist voll herbstlicher Sonne und Farbe. Und da von Gletsch talauswärts der Verkehr sich sehr spürbar gelockert hat, wandern unsere Gedanken aller bindenden Planung ledig nochmals zurück ins Lauteraargebiet. In gegenseitig sich ergänzender Schilderung erinnern wir uns der guten Bergfahrt Lau t eraarhorn-Schreckh orn Im September 1962 « Über die nördliche Ostwandrippe... Sehr schöne, grosszügige Eis- und Schneetour. 10-12 Stunden von der Hütte » heisst es im Band V der « Berner Alpen » über diesen Aufstieg. Schon lange hatte Frithjof diese Lauteraarhornfahrt vorgeschlagen. Wir hatten auch schon unverrichteter Dinge abziehen müssen, nach langandauerndem nächtlichem Gewitter, eingedenk des Hinweises: « Bei nassem, verschneitem und vereistem Fels sehr heikel. » Anfangs September 1962 waren dann alle wichtigen Faktoren - Zeit, Wetter, Verhältnisse, Kondition und innere Bereitschaft - über den einen Nenner « Lauteraarhorn-Ost » zu bringen. Auf unsere telephonische Voranfrage hin war denn auch der Werkwart am Samstagmorgen um 8 Uhr sofort bereit zur Weidlingsfahrt über den Grimselsee. Die zwei Aussenbordmotoren trieben den Kahn in flotter Fahrt durch die milchige Flut. Sehr weit hinten über dem von Geröll schwarzen Gletscher schnitt die gegen die Spitze hin fein weisse Schneide der Ostwandrippe in den wolkenlosen Morgenhimmel hinein. Wenig vor dem eisumrandeten See-Ende lenkte unser Fährmann sein Schiff zwischen Granitblöcken hindurch zu einer gefahrlosen Landungsstelle. Wir entliessen ihn aber nicht bedingungslos, hatten wir doch ganz optimistisch ein Retourbillet « Grimsel-Unteraar-gletscher » gelöst: « Also, morgen Sonntagabend zwischen 19 und 19.30 Uhr hier; auf Wiedersehn! » - « Aber nicht später, denn vor völliger Dunkelheit muss ich beim Grimselhospiz zurück sein », mahnte er, wendete, und sein Kahn glitt über den im morgendlichen Gegenlicht glänzenden Wasserspiegel ostwärts. Wir aber luden unsere Säcke und marschierten westwärts, hinein in sechsunddreissig erlebnisträchtige Stunden.

Eintönig ist der Weg über den steinigen, fast ebenen Unteraargletscher stets, abwechslungsreich in Farben und Gestalt sind dafür die Bergflanken links und rechts. Max und ich hatten Frithjofs Plan zugestimmt: Biwak am sonnenwarmen Südfuss des Ewigschneehorns. Drei bis vier Stunden Anmarschzeit werden dadurch für den Sonntagmorgen gewonnen sein. Hüttenweg und Hütte liessen wir rechts liegen. Kurz vor 13 Uhr standen wir also am nördlichen Ufer des Lauteraargletschers unter der Koordinate Ewigschneehom-Lauteraarhorn, unserm geplanten Aufstieg direkt gegenüber. Einladend lockte das sonnenbeschienene Gletscherufer, wo das Nachtlager vorgesehen war. Wortlos waren wir während der letzten Marschstunde über den bis hierher beinahe schneefreien Gletscher gebummelt, jeder mit seinen Überlegungen beschäftigt, Planvarianten schmiedend und umschmiedend, jeder immer wieder die näherrückende Ostrippe musternd. Keiner hatte seine Ge-dankenvarianten verraten.

Auf dem Rand der grossen, schräg gekippten Tischplatte eines grossen Gletschertisches setzten wir uns zur Mittagsrast. Bei aller redlichen Bemühung, unsern berechtigten Hunger zu stillen, waren doch die tiefsten Regungen unserer Sinne nicht ganz bei dieser Sache. Es flimmerte irgendeine wichtige Planänderung in der herbstlich milden Mittagsluft. Es plagte uns ja keine brütende Gluthitze; geradezu anregend zum beschwingten Weiterplanen war die Temperatur. Kein schuhtiefer Schneebrei hemmte die Marschbereitschaft. An der nun bereits der Sonne abgewendeten Ostflanke versprach guterhaltener Firn ideale Aufstiegsverhältnisse. Zielstrebig lag vor unsern Augen die lineal-gerade dreistufige Ostwandrippe, die weit über uns bei Punkt 4014 des Lauteraargrates endet: Firn -das spitzwinklig gleichschenklige Felsdreieck - die eisdurchsetzte Schlusskante. Und jeder von uns hatte angesichts der Möglichkeiten abgewogen und kombiniert. Wer von uns die nun bedrängende Mittagsstille gebrochen hat, wissen wir nicht mehr. Jedenfalls stand um 14 Uhr der Entschluss fest: sofort einsteigen, Biwak in der Rippe, Vollendung der Tour am Sonntag je nach Zeit, Wetter und Verfassung. Praktisch wurde der optimale Plan einer anschliessenden Schreckhomtraversierung dadurch fixiert, dass wir unter der Tischplatte ein kleines Materialdepot anlegten. Die Geradlinigkeit unserer Spur über den hier nun leicht schneebedeckten Gletscher an den Fuss der Rippe hinüber war der Ausdruck für die Festigkeit und Unwiderruflichkeit unseres Entschlusses.

- Ohrenbetäubender Lärm einiger Jagdgeschwader der « Kaisermanöver » über den Gomser Flugplätzen reisst uns für einen Augenblick aus der vergletscherten Erinnerungswelt im Lauteraar zurück in die vom letzten noch einzubringenden Emd herb duftende Walliser Luft. Doch bald schon setzen wir unsern Aufstieg in die Welt der Erinnerung ungestört wieder fort. Schön war es, diese wenig begangene Route anzutreten, und soweit wir uns erinnern mögen, fanden wir denn auch auf der ganzen Rippe kein Anzeichen einer kürzlichen Begehung. Leicht nach links ausholend, umgingen wir auf vorzüglichem Firn die Felsen des Bollwerks, das mit 2995 Metern kotiert ist. Als wir über den ideal geneigten Schneerücken die Felsen des Dreiecks erreichten, mussten wir unsere Köpfe schon tief in den Nacken beugen, um den Gratfirst und die unmittelbar darüber noch hinüberscheinende Sonne zu sehen. Die Steigeisenrast gab Gelegenheit, uns gegenseitig aufmerksam zu machen auf die besondern Schönheiten von Formen und Farbwirkungen herbstlicher Bergwelt: die Spannweite der Kontraste von den Sonn- zu den Schattenseiten, das dunkle Gestein vor uns und die rötlich leuchtenden Südgrate von Ankenbälli und Berglistock im Norden, das auch am Nachmittag wolkenfreie Blau des Himmels über den plastischen Konturen aller Grate und Gipfel.

Ohne technische Schwierigkeiten kamen wir vorerst auf der geometrischen Höhenlinie, dann vorwiegend auf dem rechten Schenkel des Felsendreiecks gut hoch. Dabei galt unsere besondere Aufmerksamkeit dem nicht sehr soliden Gestein. Auf der Dreieckspitze angelangt, mussten wir wieder rasten. Nicht nur, weil die Zvierizeit reichlich überschritten war, sondern vor allem der sich steigernden Schönheiten wegen. Bereits prangte der Gipfelgrat des nahegerückten Schreckhorns in inten- sivstem Rot. Unsere gegenseitigen Zurufe und Hinweise - aus dem einzigartigen Erleben der besondern herbstlichen Schönheiten hoch oben an einem Viertausender quellend - hatten denn auch einen leicht ekstatischen Oberton. Rasch aber wechselten wir zu den wesentlich nüchterneren Überlegungen über das bevorstehende Biwak. « Sobald sich ein geeignetes Felsgesims zeigt, werden wir uns einrichten », darüber waren wir uns einig. Weniger Übereinstimmung war aber in der Folge zu finden über den geforderten Grad der Eignung. Entweder stellte Frithjof fest, dass er fünfundsiebzig Meter halblinksoben ein noch viel tolleres Gesims erspäht habe, oder dann fand Max, die Terrasse sei doch etwas zu luftig; dann wurde gemeinsam festgestellt: Je höher, desto besser, vor allem der möglichen Steinschlaggefahr unter der morgendlichen Sonnenbestrahlung wegen. Nicht nur das Werweissen, sondern auch die immer häufiger auftretende Vereisung bremsten unser Tempo. Stellenweise aber war die Eisauflage sehr dünn, und es sprühten Funken in der anbrechenden Dämmerung. Nur langsam rückten die nun tiefschwarz in den noch hellen Hintergrund hinaufragenden Gendarme des Gipfelgrates näher. Und plötzlich liess jeder durch den neu erwachten Auftrieb erkennen: Wenn schon so hoch, dann ganz hinauf! Prickelnd luftig erlebten wir im letzten Tageslicht die oberste Rippenpartie. Frithjof, der gerade als Schlussmann anstieg, musste auf den letzten Seillängen die Eisstufen bereits mit klammen Fingern ertasten. Noch ein kurzer, steiler Firnschild ( Wasserreservoir !), einige Meter Kletterei im wohltuend lauen Fels, und wir griffen über die Gratkante, genau bei Punkt 4014. Einige Meter nach links querend, fanden wir nun das gesuchte Gesimse. Die besondere Lage des mit allem Fleiss von uns zubereiteten Nachtlagers schenkte uns noch ganz besonders eindrückliche Kontraste: die unmittelbar zu unsern Füssen in kaltes Dunkel tauchende Nordostflanke, im Gegensatz zu der im letzten Tagesschimmer noch lebenswarm anmutenden Südwestflanke; am östlichen Himmel schon tiefe Nacht, im Westen aber noch ein letzter Überrest der Lichtfülle des scheidenden Tages. Nicht nur auf einer Wasserscheide, sondern auf einer Scheide zwischen Licht und Finsternis sassen wir. Dann begann die eine halbe Erdumdrehung währende Septembernacht.

- Und während wir nun die zahlreichen sonnenverbrannten « -innen » mit ihren von Sonnenenergie geradezu übersättigten dunkelbraunen Holzfassaden von Reckingen bis Blitzingen durchfahren, rufen wir einander Einzelheiten dieses herbstlichen Wunderbiwaks -wie es Frithjof, an seinen Schlafsack denkend, prophetisch genannt hatte - in Erinnerung. Wirklich wunderbar waren: die einzigartige Lage, das stundenlange Wetterleuchten über dem Tessin, der heisse Kaffee. Weniger schon der vielgepriesene Biwaksack; denn bald hatte er, als Folge des dreiseitigen Zerrens, ein fatales Leck. Ganz aller Wunder bar das auf den Tagesanbruch hin sich merklich intensivierende Schlottern. Alles wurde aber an Intensität des Erlebens weit übertroffen von der ungetrübten Schönheit des Sonnenaufgangs. Bald faltete Frithjof seinen altersschwachen Sack zum letztenmal ganz exakt, legte ihn aufs Nachtlager, strich nochmals liebevoll darüber, beschwerte ihn mit einer Steinplatte und murmelte fürsorglich: « Für die nächsten! » Kurz vor 7 Uhr setzten wir unsere Tour fort, vorerst noch ostwärts über den Lauteraargrat bis auf die nächste markante Graterhebung. Hier machten wir, durch unsern Zeitplan gemahnt, kehrt. Die Verhältnisse im Fels waren auf der Südseite des Gratkammes vorzüglich und lustbetont die Kletterbewegungen in der Morgensonne.

Im Schrecksattel genossen wir eine ganz ausgiebige Znünipause, und als wir über dem Elliotwengli Hand an die warmen Felsen legten, trafen wir die ersten und für diesen Tag einzigen Bergkameraden, zu unserer Freude unter ihnen zwei Bekannte aus der Sektion Blümlisalp, bereits im Abstieg. Sie kamen vom Anderson her; das bedeutete für uns gutes Vorspuren. Unser unbeschwertes Vorrücken wurde nur unterbrochen durch Frithjofs Knipsen von « Wunderphotos », und das besorgte er auch hier mit der ihn auszeichnenden Vor-, Um- und Nachsicht. Nach ungestörter Gipfelrast gelang uns auch der rassige Abstieg reibungslos. Der Schnee in den obern Gratfelsen war auch zu dieser Tageszeit noch ausgezeichnet - Septemberverhältnisse! Der Übergang aufs Nässihorn bot noch diese herbstlichen Ausnahmeverhältnisse, und da durften wir wohl wieder eine gute Rastpause machen, hatten wir doch auf unseren « Fahrplan » einen ordentlichen Vorsprung; es war erst 13 Uhr und die Bootsfahrt damit gesichert. Doch soll man ja auch in den Bergen den Tag nicht vor dem Abend loben, besonders dann nicht, wenn der Grund zu solchem Lob vom untrüglichen Gletscherspürsinn und einem Quentchen Glück abhängig ist. Ein gutes Stück weit ging alles rückig, doch dann gerieten wir im obersten Teil des Lauteraarfirns in die Zone der sehr langen Querspalten und damit in das Stadium des zeitraubenden Werweissens und Lavierens: direkter Firnabstieg oder Lauteraarsattelroute? Nach erregendem Hin und Her in unsern Meinungen und auf dem Gletscher, fanden wir eistechnisch ganz interessante Durchschlupfe; aber unser beruhigendes Zeitplus hatte sich in ein bedenkliches Minus umgesetzt, als wir unter dem Lauteraarsattel auf Höhenkurve 2800 wieder einmal die Uhr konsultierten: es war bereits 17 Uhr. Vor uns aber lag der zwölf Kilometer lange Gletschermarsch zum Grimselsee -, wo in gut zwei Stunden das Boot abfahren würde. Da gab 's keine Schonung für Max. Als Jüngster wurde er mit erleichtertem Rucksack zum Gletscher-dauerlauf gestartet, damit er vor einbrechender Dunkelheit das Gletscherende erreiche. Auch Frithjof und ich gaben unsere Reserven her. Nur beim Gletschertisch, als wir unser Depot aufhoben und die Rundfahrt vollendet war, gönnten wir uns Zeit zu einem umfassenden Rückblick, der vor allem auch der Ostrippe galt: « Sehr schöne, grosszügige Eis- und Felsfahrt », nickten wir uns glücklich zu. Dann nahmen wir die Verfolgungsjagd hinter Max wieder auf, den wir weit vorn, klein und hüpfend wie ein Gletscherfloh, eben noch sehen konnten. Und der Brave hat 's auch geschafft: um 19.20 Uhr langte er vorn auf dem Gletscher in Seh- und Rufweite des Fährmanns an. 25 Minuten später stiegen auch wir ins Boot, leicht erschauernd in der einbrechenden Herbstnacht und im Glück des vollen Gelingens. Weit hinten im Westen schwang sich ins letzte Licht des wundersamen Tages hinauf die Ostwandrippe: « Wisst ihr noch, gestern um diese Zeit... » - Stopp! Rotes Licht leuchtet für einen Augenblick auf und schreckt uns aus der Erinnerung des verglimmenden Tages in die sehr kritische Gegenwart: Eine Walliser Automobilistin hat einen Bremsdefekt und dadurch dicht vor uns zwei Rinder und den vorausschreitenden Hirten nach links und rechts weggeschleudert, zum Glück ohne böse Folgen, wie wir feststellen können. In Brig Blitz-orientierung über die Fahrgelegenheit St. Niklaus—Randa: 15.17! Schlags 15 Uhr fahren wir dort an. Sofort beginnt die Auslese des Unentbehrlichen aus unserm fahrenden Materialmagazin für die HERBSTLICHE SKIFAHRT AUF DEN DOM Bereits hat Frithjof energisch mit der Auslegeordnung aufs Trottoir begonnen. Ich überlege kurz und werfe ihm die Frage zu: « Versuchen wir 's per Auto bis nach Randa? Dort können wir ruhiger umladen! » Von einem Dorfbewohner erhalte ich Auskunft: « Es geht schon; die Polizei ist nicht aufs Büssen aus, aber wen sie antrifft, muss sie halt büssen. » Also los! Beim hintern Dorfausgang stehen am neuerbauten Strassenstück die Signale « Zubringerdienst gestattet » und « Sackgasse ». Das passt uns: Zubringerdienst zur Domhütte für ziemlich schwer ausgelastete Wallfahrer zum Dom - diesen entschuldigenden Hinweis werden wir nötigenfalls anbringen. Doch anstatt auf das alte Strässchen links der Visp ( orographisch ) hinüberzuwechseln, folgen wir leichtfertig der neu erstellten Strasse. Ihre Fortsetzung liegt bald nur noch im Urzustand vor unsern Rädern: Trax-Trassee. Noch kämpfen wir zuversichtlich - da steht nach einem scharfen Rank ein VW mitten auf der ohnehin so unwegsamen Fahrbahn. Weit und breit kein Mensch, aber: Wagentür offen - Zündungsschlüssel weg - Lenkrad arretiert. « Wir Spinner! » meint Frithjof wieder einmal trocken, doch er ist der rechte Mann zur Behandlung dieses VW-Falles. Mit vereinten Kräften heben wir das Fahrzeug in die gewünschte Richtung, schieben es in einen Winkel, wo die Baustelle am breitesten ist, und können ganz knapp passieren. In Randa manöverieren wir unsern Wagen hinter den alten, offensichtlich total abgeschriebenen und verlassenen Hotelkasten oberhalb der Station, um ihn den direkten Blicken der Strassenpassanten und Bahnbenützer zu entziehen. Zum Umstellen und Umladen auf Skitour brauchen wir tatsächlich etwas mehr als siebzehn Minuten, und wie wir die kleine Wirtschaft neben der grossen Kirche verlassen, fallen fünf schwere Schläge vom Turm. Der Wegweiser zeigt vier Stunden an für die Domhütte. Mit fast scheuen Blicken schauen uns die Frauen, die in ihren Gärten eben das Sonntagsgemüse rüsten, nach, und aus den Augen der Männer blinzelt un-verhohlen etwas Spott. Mir selber scheint, unsere grossen Skischuhe müssten auf dem steilen, säubern Bogenpflaster der Dorfgasse unter der etwas abnormalen Last Eindrücke zurücklassen. Nicht ohne eine gewisse Selbstironie meint Frithjof lächelnd wieder einmal: « Wir Spinnbrüder - wir! » und erspurtet in kräftigem Antreten den Vortritt, um möglichst bald allen Blicken zu entfliehen.

Fragte mich jemand nach dem Hüttenweg, so würde ich etwa sagen: « Freund, beachte die drei Punkte: dieser Anstieg ist ausgesprochen süd-südwest-exponiert; bedenke, was das in den Nachmittagsstunden bedeutet! Zweitens: die obere Weghälfte führt durch die Festiflühe und ist mit Steintreppen, eingemauerten Handgriffen und Drahtseilen fürs Hüttenvolk begehbar gemacht. Daraus ergibt sich drittens als Schlussfolgerung: Verlässt du Randa so zeitig, dass du bis zur Hütte bei Tageslicht gelangst, so wirst du die ganze Sonnenkraft in ihrer Auf- und Eindringlichkeit an steiler Berghalde erfahren. Ziehst du aber von unten an - wie wir es tun - die frühherbstlich abendlichen Schatten vor, gerätst du in die Nacht in dem Wegteil, auf dem dir die gebuckelten Ski zusätzliche Marschbeschwerden bereiten. » Und gerade das scheint der fragende Blick des jungen Wallisers auszudrücken, dem wir oberhalb des « Lärchberges » begegnenwir lernen ihn am Sonntagabend als den seinen Vater vertretenden Hüttenwartssohn kennen. Freundlich lächelnd grüsst er. Sein Lächeln kann beides bedeuten: Verständnis für unsere Schweissbächlein oder Verständnislosigkeit für unsere Ski. Und schaut man nicht Spinnbrüder mit solch mitleidig-verständnisvollem Lächeln an? Doch wir widerstehen auch hier der Versuchung, die Ski an einen der obersten Lärchenstämme zu stellen, obschon unsere Blicke auf der ganzen Aufstiegsflanke als einziges weisses Flecklein die abbröckelnde Zunge des Festigletschers zu erspähen vermögen. Wir erinnern uns aber der Feststellung von Marcel Kurz im Walliser Skiführer: « Comme an le voit, le Dom est une course à faire en mai, juin ou juillet, selon les années » - warum nicht auch einmal im September - selon l' année 1966? Jedenfalls ist auch Frithjofs Skifahrerwille in keiner Weise gedämpft oder gar gelähmt, denn wie wir nach den nächtlichen Aufstiegsstunden um 22 Uhr die steilen Festifelsen verlassen, nach dem Höhenmesser die Hüttennähe vermuten und den Weiterweg durch eine Steinhalde suchen, stellt er sachlich fest: « Siehst du, man könnte doch auch unterhalb der Hütte noch mindestens hundert Meter abfahren! » Bald darauf trifft der Schein seiner Stirnlampe eine Anschrift an der Hüttentür: « Alte Hütte geschlossen. » Doch ist dies ja nicht die erste Überraschung dieses Tages. Einer guten Weganlage vertrauend, finden wir das neue Haus bald. Der Tiefblick auf die Lichter von Zermatt lässt auf einen hervorragenden Standort schliessen. Für heute aber sind wir froh, nach einer kräftigenden Bouillon unsere entlasteten Glieder unbeschwert auf den feinen Matratzen ausstrecken zu können.

Bei anbrechender Dämmerung gelten unsere ersten Blicke dem - unsichtbaren Schnee. Ein letztes Mal noch müssen wir uns zu unserer Skifahrt inspirieren lassen durch die in lichten Höhen gleissenden, jetzt aber unsern Augen noch verborgenen Firnfelder. Kurz nach 6 Uhr steigen wir also mit geschulterten Ski über die unmittelbar oberhalb der Hütte beginnende Moräne dem Schnee entgegen. Schon nach einer halben Stunde legt sich der steile Steinwall zurück, der uns bis jetzt jede Sicht gegen den Dom versperrt hat, und was sich unsern bis dahin trotz aller Hoffnung doch etwas unruhigen Augen zeigt, lässt den Aufstiegspulsschlag unserer Herzen sprungartig steigen: Fünf Meter hinter dem letzten Steinmannli betreten wir prima Firnschnee. Was wir nun in den folgenden zwölf Stunden in dieser Hinsicht beschert bekommen, ist viel mehr als der hinreichende Lohn für unser Lastentragen und eine Genugtuung für unsere Prognose; es bedeutet ganze Erfüllung. Denn kurz vor 19 Uhr werden wir fünf Meter vor dem ersten Steinmannli den letzten Skischwung auf den Firnschnee zeichnen.

Vorab halten wir einige Daten in skitouristischer Sicht fest: Um diese Jahreszeit leisten Steigeisen gute Dienste; wir benützen sie denn auch bald durch die kurze Séraczone hinauf bis an den Fuss des Felssporns mit Quote 3393. Dabei legen wir uns schon ein Abfahrtstrassee zurecht; die Ski werden hier auch im Abstieg gute hundert Meter getragen werden müssen. Nun montieren wir Felle undHarst-eisen und erleben den Anstieg über spaltenlosen Firn bis an den Fuss des Festijoches nach so ausgiebiger Skibuckelei ganz lustbetont. Die folgende Geröll- und Felsetappe wird zu jeder Jahreszeit dasselbe « Büsserstück » auf der Wallfahrt zum Dom bedeuten, doch ist es nicht ungebührlich lang bemessen. Zweieinhalb Stunden nach Aufbruch stehen wir auf dem Joch in wohltuender Sonntags-sonne, für mich immer wieder der Augenblick, ganz intensiv all derer zu gedenken, die unten im Tal -und in der Enge der Stuben und Gassen atmen. Die beiden jungen Ostschweizer, die sich als einzige mit uns auf den Weg gemacht haben, jauchzen, mit etwa einer Viertelstunde Vorsprung, am Fuss des Festigrates, der ausgezeichnete Verhältnisse aufzuweisen scheint - wie noch nie dieses Jahr, hat uns später der Hüttenwart bestätigt. Das Festijoch, ein einzigartig schöner Standort, mit faszinierenden Ausblicken und Lichteffekten zu solcher Stunde, so dass sogar mein Freund, sonst sehr diszipliniert, seine Photographenimpulse kaum meistern kann.

Fast horizontal, aber angesichts der Verhältnisse im Eis unverantwortlich hoch oben und nahe den drohenden Eismauern führt ein altes Fusstrassee hinüber zum flachen Mittelteil des Hohberggletschers; wir benützen es mit schlechtem Bergsteigergewissen. Anschliessend gewinnen wir in weiten Schleifen über tischglatten Firn, wenig unter dem Lenzjoch scharf rechts haltend, in sonntäglichem Tempo die Viertausenderhöhenquote und stehen nun unmittelbar am Fuss des prachtvollen, ganz nordwärts gerichteten Gipfelhanges, des Wahrzeichens dieses grossen Berges. Auf ein kurzes Bruchharststück folgt Pulverschnee, der weiter oben mit Windharst wechselt. Auch landschaftlich ein fabelhafter Aufstieg: links der tolle Aufschwung des Ostgrates, zeitweise fast in Griffnähe, rechts über dem Festigrat die Weisshornkette. In halber Flankenhöhe gehen wir durch die Spaltenzone am Seil. Über den obersten Spalten, auf etwa 4300 Metern, wird der Windharst vorherrschend und beschwerlich. Etwas unterhalb der « Gabel » errichten wir das Skidepot und erklimmen auf Steigeisen den Gipfel. Dabei denke ich mit wachsendem Staunen an die hochalpinen Skipioniere Arnold Lunn und Joseph Knubel, die den Dom vor fünfzig Jahren als erste und bis auf den Gipfel mit den Ski an den Füssen bestiegen haben. Es war ein wagemutiges Unternehmen, das Lunn so schildert: « Vom obersten Sattel weg wird der Hang plötzlich sehr steil; stellenweise erreicht er 45 Grad, das heisst die äusserste Steile, auf der der Schnee noch liegen bleibt. An jedem andern Gipfel hätten wir die Ski abgeschnallt und wären zu Fuss weitergegangen; aber wir hatten uns nun einmal in den Kopf gesetzt, eine Skispur bis zum höchsten Punkt des „ Daches der Schweiz "

zu legen, und wir überlegten uns hin und her, ob das wohl ohne allzu grosse Gefahr möglich wäre... um 12 Uhr hatten wir eine Skispur durch den höchsten Schneehang der Schweiz gelegt. » ( Aus « Berge meiner Jugend ». ) Uns ist auf dem Gipfel absolute Sonntagsruhe beschert und dazu eine Rundsicht, die einerseits durch den nahen Kranz der schönsten Viertausender, andrerseits durch die über all diese wuchtigen Trabanten hinausreichende Fernsicht gekennzeichnet ist. Dicht neben dem Gipfelkreuz bereiten wir uns auf höchster Ebene in unserer Bordeflasche ein heisses Getränk, und kein Luftzug gefährdet die Metaflamme. Eine gute halbe Stunde nach uns kommen vom Festigrat her die beiden Ostschweizer oben an, müde, aber begeistert; ihnen haben die Steigeisen gefehlt.

Den obersten Teil ihrer Abfahrt schildert Lunn so: « Wir machten uns mit gemischten Gefühlen an die Abfahrt. Die obersten 80 Meter mussten wir die Aufstiegsspur benützen und durften keinen Schwung wagen, um den Schnee nicht unnötig zu stören. Alles ging gut, aber es war aufregend. » -Wir steigen vom Gipfel lotrecht zum Skidepot hinunter. Zeitlich drängt die Abfahrt immer noch nicht, denn erst allmählich bestreichen die schon bald abendlichen Sonnenstrahlen diese herrlichste aller Skiflanken. Nun aber beginnt 's: durch Pulverschnee, eine kurze Bruchharstzone und dann wunderbaren Sulz rauschen wir in einem Zug bis nördlich unters Festijoch und haben dahin etwa 150 Meter aufzusteigen. Von da schauen wir in kindlicher Freude auf die Abfahrtspur zurück und lachen einander zu: « Das war jetzt ein ganz gelungenes Spinnen von uns Spinnbrüdern! » Liebevoll wischen wir den Schnee von unsern Ski, wir müssen sie jetzt auch wieder übers Festijoch zurückbuckeln. Herrliches haben sie uns beschert, ihren Dienst im Aufstieg wie in der Abfahrt gleich vorzüglich geleistet, in allen Schneearten haben sie sich eigentlich gleichwertig erwiesen -Frithjofs Normalski wie meine Kurzski. Nur jetzt, da wir wieder etwas klettern und Frithjof mit seinen Geräten besonders klappert und sogar bisweilen an einem Felserker hängen bleibt, meint er fast etwas ärgerlich: « Das machen gerade die entscheidenden dreissig Zentimeter aus, dass du so viel unbeschwerter durchkommst », und blickt in solchen Augenblicken beinahe neidisch auf meine schön grünen - welch eine wohltuende Farbe im ewigen SchneeSchwendener-Metallic. Diese hat mir anfangs August Papa Vaucher in liebenswürdiger Weise verschafft, wobei das Mitschwingen und die Mitfreude im Herzen dieses bewährten Sportsmannes deutlich zu spüren waren. Jetzt, im Abstieg über die von den abendlich milden Sonnenstrahlen erwärmten Felsen denke ich an ihn.In der Bewertung der Kurzski fallen die besagten dreissig Zentimeter sicher mehr ins Gewicht als die 500-600 Gramm « Untergewicht ».

Südlich des Joches fahren wir nun das herrliche Finale. Bei Punkt 3393 wird es durch eine kurze Pause und den kritischsten Augenblick des ganzen Tages unterbrochen. Diese Situation wird nicht durch die vor uns liegenden offenen Spalten herbeigeführt, sondern durch die innerliche Spannung nach so grossem Erleben. Das kam so: Lunn schliesst ja seinen Bericht mit den Worten « Schliesslich packten wir zusammen, schulterten die Ski und gingen hinab ins Tal, zurück in eine Welt, die wir, besessen von der Idee dieser grossen Fahrt, nur zu gerne vergessen hatten. » - Aus dieser Schluss-schilderung trifft für uns augenblicklich fast uneingeschränkt das « Besessen von dieser grossen Fahrt » zu. Sogar Frithjof sagt unter tiefem Atemholen: « Das bedeutet ein unüberbietbares Maximum! Besseres gibt 's nicht mehr. Unter diesem Eindruck wollen wir morgen früh zu Tale steigen! » Ja, wir stehen tatsächlich noch total im Banne dieses grossen Tages: gross an Raum, überbordend an Lichtfülle; dazu eine befriedigende Leistung unter menschenfreundlichsten Wetter- und Bergverhältnissen, gross an Spannweite von der absoluten Stille bis zum beseligenden Rauschen und Sausen unserer Latten durch den salzigen Sulz und stäubenden Pulver in fast sommerlicher Atmosphäre. Doch die Welt unter uns haben wir nicht vergessen, und wie ich nicht gleich in Frithjofs Vorschlag einwillige, mahnt er mich ganz nüchtern: « Morgen musst du ja zu dieser Tagesstunde bereits zu Hause an einer Sitzung sein. Für die Lenzspitze langt 's daher auf keinen Fall. Irgendeinen schwachen Ersatz mag ich nach einem solchen Tag nicht. » - « Sachlich und doch nicht ganz sachlich genug », denke ich. So versuche ich noch etwas sachlicher zu antworten: « Mein Lieber, einmal um diese Jahreszeit mit dem Ski auf den „ Festi " oben bedeutet doch jeder Schwung ein Erlebnis. Geniessen wir daher morgen die einzigartige Gelegenheit, tummeln wir uns noch ein paar Stunden ohne grosses Ziel, einfach aus Freude an den Schönheiten dieser herbstlichen Hochgebirgswelt! » Mein Kamerad refusiert noch, er wendet sich ab und versucht unsere Abfahrtsspuren vom Festijoch herunter mit der von den letzten Sonnenstrahlen beleuchteten Westflanke des Dom in den Apparat zu bekommen. Ich überblicke nochmals die einladende Firnmulde, die sich jenseits des Festigletschers zu einer Scharte im Dom-Westgrat hinaufzieht. Das wär 's für morgen! Doch vorsichtshalber behalte ich meine Gedanken für mich. Da unterdessen meinem Kameraden die Aufnahme befriedigend gelungen ist, mache ich einen vermittelnden Vorschlag: « Wir lassen jedenfalls die Skiausrüstung oben an der Moräne! » Dagegen hat er nichts einzuwenden; so kann ich den morgigen Tag für gewonnen buchen. Nach dieser verlängerten Pause mit der in ihr enthaltenen spannungsgeladenen Synkope fahren wir gelöst das pikante Schlussstück; auf sehr spärlichen Schneeflecken geht 's zwischen Stein und Randspalten hindurch, über noch grad hinreichende Brücklein über Spalten, richtig erregend,bis fünf Meter vor das bereits bekannte Steinmannli bei Punkt 3100 auf der Moräne. Ski, Seil und Steigeisen versorgen wir unter einem grossen Moränenblock. Kurz nach 19 Uhr treten wir in die Hütte, wo wir nun einiges Volk antreffen, auch den flotten Hüttenwartssohn. Wir erkennen einander sofort wieder von gestern abend her, und fragend blickt er uns an. Unser erster Kurzbericht freut auch ihn. Seine Freude paart sich sichtlich mit Erstaunen, wie er feststellt, dass wir auf dieser herbstlichen Bergfahrt nicht nur die Ski weit, weit getragen, sondern dass wir zusammen hundertzehn Jahre auf den Dom gebuckelt haben. Unter den Hüttengästen fällt mir während des Essens ein interessanter Kopf auf. Ist's das heimliche Gesetz einer Wahlverwandtschaft, das ihn mir sympathisch macht? Für heute erfahre ich, dass es Pius Mooser ist, ein Bergführer aus Täsch.

Am Montagmorgen um 3.30 Uhr verlässt er mit seinem Klienten die Hütte zu einer Domfahrt über den Festigrat. Seine wohlklingende Stimme hat mich geweckt. In Gedanken bin ich ihm aber sofort weit voraus, stehe bereits oben bei Punkt 3393, die gestern entdeckte ideale Firnmulde vor Augen. Das ist 's also für heute! Frithjof lässt sich um 4 Uhr ohne Murren für den anbrechenden Tag wecken. Zwei Stunden später schultern wir oben beim Steinmannli die Ski. Oberhalb der Spaltenzone biegen wir rechtwinklig ab nach Süden. Begehen wir da wohl eine « begangene » Route? Noch wissen wir 's nicht, aber jedenfalls erscheint sie uns sehr begehenswert. Im obern Teil wird sie links eingefasst durch die Gletscherwülste, die aus der Dom-Westwand quillen, rechts durch die elegant geschwungene Linie des Westgrates; ideales Gelände für Skitourismus. Zuletzt bringt uns ein ziemlich steiler Steigeisenanstieg auf eine Scharte im Westgrat. Vis-à-vis des imponierenden Täschhorn-gipfels stehen wir nun da. Er überragt uns noch um 700 Meter. Nach etwa 100 Metern Abstieg über die südliche Flanke stünden wir oben am Ursprung des Kingletschers, am Fuss der rassigen Gipfelflanke. Für heute aber folgen wir dem Grat in westlicher Richtung und gelangen leicht auf die wunderschöne, mit 3766 kotierte Erhebung. Von ihr gewinnen wir noch bessern Einblick in die urtümlich wilde Welt des Kingletschers in seinem untern Teil und können auch den Täschhorn-anstieg von der als Berghaus eingegangenen Kinhütte her rekognoszieren. Und schon planen wir Neues: « Wie wär 's mit einer Skitour aufs Täschhorn, von der Domhütte aus, im Frühsommer -„selon l' année " 1967? » Nun folgt der skifährerische Abgesang, brillant - er wäre mit allen unglaubhaften Superlativen noch unzureichend geschildert. Landschaftliche Grösse, makelloser Firn unter erster Sonnenbestrahlung, optimale Steilheit - einfach ein grosses Rauschen! Zurückblickend folge ich Frithjof, der unterdessen noch die letzte Aufnahme gewonnen hat, mit Körper und allen Sinnen rhythmisch mitschwingend, auf seiner herrlichen Fahrt. Er scheint zu segeln, landet mit federleichtem Schwung dicht neben mir, blickt hinauf und dann mit flackernden Augen mich an, flüsternd: « Irrsinnig schön! » - « Traumhaft », lisple ich wie ein Erwachender -denn so habe ich bis jetzt nur im Traum das Skifahren erlebt - und nun heute, am 12. September!

Kurz vor Mittag stellen wir unsere sonnenheissen « Metall-Latten » wieder an die Hüttenwand. Interessiert schauen wir vorab in den « Büchlein », die wir im Hüttenkorb zurückgelassen haben, nach, was über unsere heutige Tour ausgesagt wird. Im « Guide du Skieur » finden wir: « Die Route ist 1929 von T. Kagami mit Alexander Graven zum ersten Male mit Ski begangen worden am 4. Juli » und: « Elle n'a jamais été répétée à notre connaissance » ( Ausgabe 1939 ). Im « Guide des Alpes Valaisannes » lesen wir darüber, dass unser heutiger Weg der Anfang der klassischen Täsch-hornroute von der Domhütte aus über die Festi-Kin-Lücke sei. Sie wird als « Variante habituelle et préférable » bezeichnet, erstmals benützt von O. Hug im Jahre 1915. Dazu die bewertende Bemerkung: « Cette voie n'a qu'un défaut: c' est la perte de niveau de 100 m. » Diese Tatsache ist sicher mitbestimmend gewesen zum Vermerk im « Skiführer » zu dieser Route: «... elle est à peine recommandable. » - « Bien recommandable! » stellen wir unter dem Eindruck des heutigen Skifestivals fest, besonders für den Idealfall, dass man die Domhütte für einige Tage als Standquartier wählen kann für drei oder vier grosszügige kombinierte Skitouren: Lenzspitze über S-Grat ( Ski bis Lenzjoch ), Nadelhorn über SW-Flanke ( Ski bis zum Bergschrund ), Dom und Täschhorn ( Skidepot wohl am besten nördlich unterhalb der Festi-Kin-Lücke ).

Wieder vor der Hütte, werden unsere Augen wie immer gefesselt von der noblen Pyramide des Weisshorns. Der Hüttenwart zeigt uns eine Zweierseilschaft, die wir durch seinen Feldstecher bei einer Rast unterhalb des eleganten Gipfelgrates sehr genau beobachten können. Wird sie in der heissen Mittagsonne den Aufstieg noch fortsetzen?

Betrachtend das noch vor ihr liegende Routenstück, denk'ich an meine erste herbstliche Weisshorntour zurück:

Weisshornüberschreitung Bettag 1942 Einige Episoden daraus erzähle ich Frithjof beim einfachen Mittagsimbiss in der stillen Hütte; denn noch ist sie menschenleer, die Domfahrer stehen noch aus.

Der Alleingänger in der Weisshornhütte: Hauptmann Willenegger und ich, Arzt und Sanitäts-gefreiter der Gebirgsbatterie 3, blätterten an jenem Samstagabend im Hüttenbuch und stellten fest, dass seit Monatsfrist kein Mensch mehr hier oben gehaust hatte - Herbst und Kriegszeit. Schon war es dunkel, und wir nahmen selbstverständlich an, in unserm zweitägigen Bettagsurlaub allein zu bleiben. Um so gespannter blickten wir nach der Hüttentür, als wir zu vorgerückter Abendstunde Schritte vernahmen. Ein Mann mit sehr viel Seil auf dem grossen Rucksack und unzählbaren Schweissperlen auf der bleichen Stirn trat ein. Beiderseits war das Erstaunen spürbar gross: bei ihm über die Anwesenheit von Menschen und bei uns über das Ausbleiben seines von uns noch erwarte- ten Begleiters. Ganz sachte brachten wir mit dem Alleingänger ein Gespräch in Gang. Wir erfuhren, dass unser Hüttengenosse, psychisch und nun auch physisch total erschöpft, in der Hoffnung hier hinaufgestiegen war, in einsamem Erleben Erholung zu finden. Bald merkten wir, dass in seiner Vorstellungswelt unter all den Faktoren, von denen er heilende Wirkungen erwartete, der Ersteigung des Weisshorns eine ganz entscheidende Rolle zukam. In der Erringung dieses Idealgipfels eine totale Rehabilitierung zu finden, das erhoffte er. Nach kurzem Blickwechsel boten wir ihm für den kommenden Tag unsere Seilkameradschaft an; ohne langes Zögern nahm er das Angebot dankbar an. Beim morgendlichen Anstieg über den Schaligletscher zeigte es sich mit jeder halben Stunde eindeutiger, dass unser Seilkamerad an diesem Tage den physischen Anforderungen nicht gewachsen war. Auf dem Frühstücksplatz sprach er von grossem Schlafbedürfnis. Er bat uns, ihn hier zurückzulassen, er würde nach ausgiebigem Schlaf den Aufstieg allein fortsetzen. Doch der sehr freundliche, aber unmissverständliche Befehl meines Hauptmanns tat seine Wirkung. Er brachte unsern Kameraden zu klarer Erkenntnis seiner Situation, und in neu gewonnener Besonnenheit war er bereit, unserm Rat zu folgen. So lösten wir das Seil. Nach gemeinsamer Frühstückspause trennten wir uns, er trat den Rückweg zur Hütte an, den wir zum grössern Teil überblicken konnten. Er war im damaligen Zustand auch im Alleingang zu verantworten. So trat unser durch den Lebenskampf angeschlagener Kamerad für diesmal den Rückweg an. Gar oft schauten wir zurück, während wir unserm Ziel entgegenspurten; immer kleiner und einsamer wurde der Alleingänger.

Das Wiedersehn: Drei Jahre später, im Juni 1945, stand ich mit einem SAC-Kameraden unter der Schlüsselstelle am Fründenhorn-Westgrat. Da ertönten vom Galletgrat her alarmierende Hilferufe. Sofort wechselten wir hinüber. Eine halbe Stunde unterhalb des bekannten Eiscouloirs am Galletgrat trafen wir auf die ersten mit einem leichter verwundeten Mann absteigenden Kameraden. Dieser war in der Eisrinne gestürzt und hatte mit seinem Seil den im Augenblick des Sturzes losgeseilt unten am Couloir wartenden Kameraden mitgerissen. Er selber war vom sichernden dritten Kameraden nach einem Surz von 60 Metern ( doppelte Seillänge !) gehalten worden und verhältnismässig gut davongekommen Der mitgerissene Kamerad war viel weiter gestürzt und schwer verletzt. Bald trafen wir den an Kopf und Armen Schwerverletzten. Nach der ersten Hilfeleistung brachten wir ihn hinunter in die Fründenhütte, wobei er sich ausserordentlich tapfer stellte. Dort pflegten wir ihn weiter und versuchten, ihn für den Weiterabstieg zu retablieren, so gut uns das möglich war. Der Kopf war arg zerbeult, die Augen total verschwollen. Plötzlich, zwischen verbissenem Stöhnen, presste der Verwundete hervor: « Ich kenne Sie, Ihre Stimme ist mir bekannt! » - « Wie? Woher denn? » - « Von der Weisshornhütte! » - Eine Monographie übers Weisshorn: Sechs Monate später überraschte mich ein schlichtes, sauberes Buchbändchen mit dem Titel « Allein um und aufs Weisshorn ». Der Verfasser - unser Kamerad von der Weisshornhütte und dem Galletgrat. Sein begeistertes Weisshornepos beginnt darin mit den Worten: « Wenn in den folgenden Zeilen die Schilderung einer Besteigung des Walliser Weisshorns versucht wird, so mag dieser einzig schöne Berg, der manch einem Bergsteiger als der schönste von allen erscheint, nur gewissermassen die Kulisse sein, vor der sich der eigentliche Vorgang des Bergsteigens abspielt... Bergsteigen ist eine Lebensauffassung... das grosse Suchen nach dem Höchsten... » Nach erreichtem Weisshorngipfel hält dieser Kamerad das Erlebnis der Erfüllung so fest: « Weisshorn -jahrelang erstrebtes Ziel - du bist mein, für heute, ja nur für Augenblicke, ein Nichts im ZeitbegrifTe deiner Unendlichkeit. » - Ich aber freue mich beim Lesen dieses kleinen Epos ganz einfach und aufrichtig daran, dass unser Kamerad sein hohes Ziel schon vor seinem Unfall am Galletgrat erreicht hatte und dass er nach einem halben Jahr wieder schreiben konnte. Im Begleit-brief zum Büchlein stand: « Heut geht es mir soweit gut; links wird ein Nachteil bleiben... In dank- barer Erinnerung an das unerwartete Wiedersehn am 24. Juni 1945 am Galletgrat, überreicht vom Verfasser. » Die einsame Spur über den Gipfel: Seit Wochen hatte laut Hüttenbuch kein Menschenfuss mehr dem Gipfel zugespurt, und nun lag auch fusstiefer Neuschnee. Um so besser war eine leichtfüssige Fährte zu verfolgen - eine Gemsspur. Das sprunggewaltige Tier hatte seine Spur geradezu klassisch angelegt. Trotzdem war die Fährte kaum ein Zeichen freudigen Wagemutes oder Ausdruck genossener Lebensfreude; der klassische Weg bedeutete wohl eher Ausweg, Flucht vor tödlicher Kugel. Führte er ins Leben, brachte er Rettung? Bis zuoberst auf die kühne Schneespitze konnten wir der Spur folgen, ja, sie führte noch einige Meter über den wächtenreichen Nordgrat hinab. Doch da brach sie unvermittelt ab. Verwehung, Absturz oder Wächtenabbruch, das war nicht mehr festzustellen.

Knapper, aber richtiger Entscheid: Während der guten Gipfelrast beschäftigte uns der Abstieg. Der durch die Kriegszeit bedingten Einschränkung der Reisemöglichkeiten wegen hatten wir am Samstag nach der Entlassung in Ernen oben keine Fahrgelegenheit mehr nach Zinal hinauf gehabt. Trotzdem hatten wir den Gedanken einer Traversierung bis in die Gipfelstunde hinein noch nicht aus unsern Überlegungen eliminiert. Für den Abstieg über den Nordgrat sprachen nun das sichere Wetter, die guten Verhältnisse, unsere solide Kondition und vor allem die Neuheit der Route; Bedenken dagegen erregten: die Kürze eines herbstlichen Tages, der morgige Tagesbefehl, unvoraus-sehbare Schwierigkeiten und vor allem die sehr fragliche Fahrgelegenheit von Zinal nach Siders. Also unentschieden vier gegen vier! Doch die faszinierende Schönheit des eleganten Schneegrates zwischen Gipfel und grossem Gendarm entschied. Um fünf Uhr standen wir auf dem Weisshornjoch, und damit war auch das türmereiche untere Segment des Grates überklettert. Bei einbrechender Nacht rückten wir in Zinal - aber noch nicht in Ernen ein.

Der nächtliche Marathonlauf: Wer misst die Wegstrecke durchs Eifischtal hinaus samt all den Kurven! Telephonisch erkundigte sich mein Kamerad über motorisierte Marscherleichterungen: Ayer—Siders Franken sechzig, lautete der harte Bescheid. « Diese Summe verdienen wir jetzt noch zu unserm Tagessold », beschlossen wir und machten uns kurzentschlossen auf die Sohlen. Ein unvergesslicher Schlafwandel - jedenfalls für mich. In vorsorglicher Weise nahm mich mein Hauptmann immer wieder auf die innere Strassenseite, fing meine im Halb- oder Ganzschlaf dahintorkelnde Gestalt auf und bewahrte mich in kameradschaftlicher Weise unzählige Male vor dem drohenden Hinauskollern. Diese Sicherung war mindestens so notwendig und heilbringend wie auf der scharfen Schneide des Nordgrates. Geradezu in rührender Weise versuchte er am Anfang auch, nach jedem Putsch mit ermunternden Worten mich zu stärken, indem er irgendeine reizende Episode der hinter uns liegenden grossen Fahrt in Erinnerung rief, bis auch ihn die Müdigkeit übermannte. Dann setzten wir den Schlafwandel noch einige Meter ganz mechanisch fort, bis wir uns bereits fest schlafend für einige Minuten am Strassenrand niederfallen liessen. Wahrscheinlich war es in Verbindung mit unsern soldatischen Qualitäten der vor uns stehende Tagesbefehl, der uns immer wieder auf die Beine brachte und vorwärts trieb. Und wir hielten durch. Noch bevor sich am sternen-los gewordenen Nachthimmel die ersten Anzeichen des neuen Tages zeigten, konnten wir uns eine halbe Stunde vor dem ersten talaufwärtsfahrenden Zug auf dem Bahnhof in Siders auf eine harte Holzbank niederlassen, so wohlig und zufrieden, als sänken wir ins weichste Bett. Die Anschlüsse in Brig und Fiesch klappten auch. Militärisch pünktlich standen wir auf unserm Posten, als die Mannschaft gemäss Tagesbefehl zu Beginn der Arbeit zur Blutgruppenbestimmung antrat. Unser Batteriechef, selber ein Bergfreund, war trotz unserer Extratour zwischen Zimmerverlesen und Tagwache mit uns zufrieden. Am nächsten Morgen allerdings, als unsere Einheit zu einer Dislokation ins Obergoms sehr früh abmarschbereit sein musste, da verschlief sich der Sanitätsgefreite ganz zünftig. Verständnisvoll lächelnd stand mein Hauptmann vor mir, als er mich weckte. Wusste er doch aus eigenem Erleben, wie viel Zeit die grosse Weisshornfahrt auch im traumhaften Nacherleben zu beanspruchen vermochte: von der Weisshornhütte nach Siders genau vierundzwanzig StundenUnser Mahl ist beendet. Auch ist unterdessen Pius Mooser, seinem Klienten vorauseilend, in der Domhütte eingetroffen; er hat für heute noch weitere Pläne und darum auch noch einen langen Weg vor sich. Auch wir packen zusammen. Vor dem Abmarsch gilt ein letzter Blick durch des Hüttenwarts Feldstecher dem Weisshorn, seinen drei herrlichen Graten und insbesondere seiner gleissenden Nord ostflanke. Die Zweierpartie nähert sich nur langsam dem Gipfel, aber sie wird also heute ihr Ziel noch erreichen. Wir aber steigen nun zu Tal. Ausklang Mit sehr interessierten Augen überblicken wir den obern Teil des Hüttenweges und lernen ihn eigentlich erst jetzt recht kennen, denn im Aufstieg haben wir ihn ja mehr oder weniger nur ertasten können. An verschiedenen Stellen kommentieren wir mit humorvollen Worten unser « Notturno ». Am Lärchberg unten holt uns Pius Mooser leichten Fusses ein. Wir rasten gerade am einzigen Brünnlein, das wir auf dieser weiten, so heissen Flanke entdeckt haben. Herr Mooser reicht uns würzige Medizin als Beigabe zum Quellwasser. Mit einladender Gebärde macht er uns auch aufmerksam auf den alten Hüttenweg, der am Nachmittag viel angenehmer zu begehen sei als der neue und nur drohender Steinschlaggefahr wegen habe aufgegeben werden müssen. Gerne folgen wir ihm und steigen nun gemeinsam talwärts.

« Ganz aussergewöhnlich warm für diese Jahreszeit », stellt auch der heimische Talbewohner fest; « aber nun können Frau und Kinder Emd und Ernte in tadelloser Qualität einbringen - ein gutes Jahr für uns hier oben! » Dieser Mann ist also auch Bergbauer. Im weitern Gespräch über den Beruf erläutert er uns jedoch, dass er den Bergführerberuf eigentlich nur in seinen viermonatigen Ferien in vollem Umfange ausüben könne. Sonderbar, denke ich, Bauer und - viermonatige « Sommerferien »? Die Vermutung liegt auf der Hand - der Mann muss sicher auch Lehrer sein. In unterhaltsamer Weise gewährt er uns nun Einblick ins Leben der Dorfschule und des Schulmeisters in Täsch. Wie wir dann wieder zum Gesprächsthema « Führerberuf » wechseln, kommt unser Begleiter auch auf das unvorsichtige Trassee direkt unter den Séracs des Hohberggletschers zu sprechen und repetiert mit uns anhand eindrücklicher Beispiele den wichtigen Lehrsatz: In den Bergen muss man mit dem Unberechenbaren rechnen lernen! Aus seinen Berichten merken wir, dass Herr Mooser auch Rettungsobmann dieser Region ist und auf unzähligen Flügen mit Hermann Geiger zusammengearbeitet hat. Dass er als weiser Mann nicht nur in den Bergen, sondern auf viel weitere Sicht mit dem Unberechenbaren rechnet, stellen wir fest an der Antwort, die der nach dieser Domfahrt so frisch ausschreitende Mann uns auf die von uns behutsam gestellte Frage nach seinem Alter erteilt: « Im kommenden November werde ich zum letztenmal das „ Achtung steht " machen, und dann ist man ja- flugs im Grab! » Auf diese anschauliche, prägnante Antwort hin verstummt unser Gespräch für eine gute Weile; jedem von uns gibt sie zu schaffen; unüberhörbar mahnt sie uns alle drei daran, dass wir in den Herbst des Lebens vorgerückt sind. Und sie rückt uns die unabänderliche Tatsache ins helle Bewusstsein, dass im Herbst eben alles anders ist. Darüber sinnen wir nun am Ende unserer herbstlichen Bergfahrt nach. Es sind nicht nur die objektiven Gegebenheiten der herbstlichen Bergwelt gegenüber dem Hochsommer ganz anders, neuartig, sondern auch in uns die subjektiven Vor- aussetzungen. Und unsere Gedanken kreisen nun eine gute Weile um die von unserm Weggefährten bereits ausgesprochenen Lebensweisheiten, dass man in jeder Hinsicht mit dem Unberechenbaren rechnen lernen muss und plötzlich alles ganz anders werden kann. Ganz ohne innern Widerstand gibt sicher keiner von uns dieser Erkenntnis Raum; sie gewinnt aber ihren Platz durch die jeder Realität innewohnende Kraft. Versöhnend wirkt bei dieser innern Auseinandersetzung die noch tiefere und darum weiterführende Erkenntnis, der ein Dichter in den Worten Ausdruck gibt:

« In ihm sei 's begonnen, / der Monde und Sonnen an blauen Gezeiten / des Himmels bewegt...

Herr, dir in die Hände / sei Anfang und Ende, sei alles gelegt. »

Lautlos über sauber abgeerntete Bergmatten schreitend, nähern wir uns Randa. Der Berg-Führer,Schulmeister,Rettungsobmann und -Bauer macht uns aufmerksam auf das besondere Verhalten der Feldmäuse beim diesjährigen Bau ihrer Wintergänge, das auf einen früh einfallenden, langen Winter schliessen lasse; wir sollten dann an ihn denken, wenn das eintreffe. Wieder so ein Hinweis: Auf herrlichste Herbsttage folgt bald ein Winter.

Nach einem gemeinsamen Trunk verabschieden wir uns von unserm liebwerten Wegkameraden. Er will noch diesen Abend wiederum in eine Hütte aufsteigen. Wir wünschen ihm einen guten Herbst und einen recht erträglichen Winter. Als Gegengruss erhalten wir ein herzliches « Vergelt's Gott ». Auch diese Aussage tönt aus seinem Munde überzeugend und zuversichtlich. Was wird sie in ihrer Erfüllung bedeuten, bringen, sein? « Totaliter aliter » hat ein Denker auf solches Fragen geantwortet - « alles umfassend anders! »

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