L'Hôtel des Neuchâtelois
( Schluss. ) An dieser Stelle muss auch dieses Pionieres der Gletscherforschung gedacht werden. F. J. Hugi, ein Geistlicher aus dem Kanton Solothurn, war ganz Autodidakt auf naturwissenschaftlichem Gebiete, besass aber, ganz unter dem Einflüsse der romantischen Naturphilosophie Schellings, eine glühende Begeisterung für Naturstudien, besonders für die Erforschung alpiner Probleme. Auf zahlreichen Pieisen in die Berner und Walliser Alpen in den 20er Jahren, vor keinen Gefahren und Entbehrungen zurückschreckend, studierte er die Physik der Alpen, besonders der Gletscher. Zu einer Zeit, wo die Bergsteigerei noch nicht in den Windeln lag, unternahm er mit Erfolg die Besteigung des Finsteraarhorns, ja er wagte sogar eine Winterreise in die Hochalpen ( 1832 ). Mit Instrumenten wohl versehen, Barometern und Thermometern, stellte er überall Messungen an, machte auch trigonometrische Aufnahmen, kurz, er gab sich eine Riesenmühe und veröffentlichte seine Arbeiten in mehreren Abhandlungen.
Wenn nun trotzdem der Erfolg dieser mit grossem Eifer unternommenen Untersuchungen kein besonders grosser war, ja, wenn viele Forscher, wie Agassiz, Tyndall und Desor, sich häufig scharf absprechend über Hugis Leistungen äusserten und sogar seine Wahrheitsliebe gelegentlich in Zweifel zogen, so rächte es sich an Hugi, dass er eben nur Dilettant war, dass ihm die nötige fachmännische Vorbildung fehlte, dass er überhaupt viel zu viel unternehmen wollte und sich dabei zersplitterte. Leute wie Agassiz mag noch besonders gewurmt haben, dass Hugi die Erklärung der erratischen Erscheinungen durch frühere Ausdehnung der Gletscher stets energisch bekämpfte.
Ein sehr kritischer Kopf war Hugi offenbar nicht, er liess sich allerlei Bären aufbinden, so z.B. die Hirten auf Zäsenberg und Bänisegg trügen Firn- und Gletschereis auf hohe Felsen, um es schmelzen zu lassen und dadurch in der Tiefe Trinkwasser zu bekommen. Dann behauptete er, das Wasser, aus dem das Gletschereis bestehe, habe eine andere chemische, stöchiometrische Zusammensetzung als das gewöhnliche Quell- oder Regenwasser. Eine solche Behauptung hätte man damals, als schon der Genius Liebigs seine Schwingen entfaltete, nicht ohne Prüfung durch das Experiment aufstellen dürfen, und Hugi hätte sich dann von der Unrichtigkeit seiner Ansicht überzeugen können. Auch über die Physik des Eises behauptete er gelegentlich kuriose Dinge, und sein Freund Dollfus sagte bei einer solchen Gelegenheit: c' est le cas de dire à Hugi: ne cherchons pas midi à quatorze heures.
Das alles hindert aber nicht, dass wir Hugi, der unterdessen Lehrer an der Kantonsschule in Solothurn geworden war, unsere Bewunderung für seine selbstlose Hingabe an das Gletscherproblem zollen. Der Hugisattel am Finsteraarhorn wird seinen Namen auch den nachkommenden Generationen von Bergsteigern stetsfort wieder in der Erinnerung weiterleben lassen.
Aber dort finden wir auch das Grunerhorn, und die wenigsten Bergsteiger, welche diese Gegenden besuchen, wissen, dass mit diesem Namen das Gedächtnis an einen der allerersten schweizerischen Gletscherforscher festgehalten wird. Denn Gottlieb Sigmund Gruner, Fürsprech von den Zweihunderten des Freistaates Bern, hat in einem gross angelegten mehrbändigen Werke « Die Eisgebirge des Schweizerlandes », das im Jahre 1760 erschien, über seine zahlreichen Reisen und Forschungen im Hochgebirge berichtet.
Mit einem wahren Bienenfleisse trug der Berner Fürsprech alles zusammen, was er über die Kenntnis der Eisströme der Alpen in Erfahrung bringen konnte, einiges verdankt man auch seinen eigenen Beobachtungen. Er interessierte sich sehr für die Bewegung des Eises und sammelte allerlei Daten über sein Vorgehen und Zurückfluten, sagte aber dann: es ist purer Aberglauben, was die Alpenbewohner und mit ihnen einige Gelehrte ( oder Ungelehrte ) vorgeben: dass die Gletscher sowohl zum Wachstum als zum Abnehmen ihre gewisse und bestimmte Zeit haben und sieben Jahre wachsen und so viel wiederum abnehmen. Die Erfahrungen erweisen das Widerspiel. Er Hess auch schon den Gedanken an eine einstige Gletscherzeit durchblicken, ohne ihn allerdings weiter zu verfolgen.
Hugis Hütte wurde in gutem Zustande aufgefunden, ungefähr 4400 Fuss von dem Orte entfernt, an dem er sie vor 11 Jahren aufgestellt haben wollte, und damals fasste Agassiz wahrscheinlich schon den Plan, hier im nächsten Jahre ein Refugium zu errichten, das ihm seine Gletscherforschungen erleichtern sollte.
Der Sommer 1840 vereinigte wiederum eine Schar begeisterter Naturforscher auf der Grimsel, wohl ausgerüstet mit einem ganzen Laboratorium von Apparaten aller Art. Denn hatten die Reisen der vorhergehenden Jahre hauptsächlich dazu gedient, den Zusammenhang zwischen polierten und geritzten Felsen, von erratischen Blöcken und Moränen und der Arbeit der Gletscher mit Sicherheit festzulegen und damit die neue Gletscher- und Eiszeittheorie zu stützen, so sollten diesmal die Physik des Eises und seine Vorwärtsbewegung gründlich studiert werden. Anfang August zog man von verschiedenen Seiten dem Grimselhospiz zu; am 5. des Monats begab man sich auf den Unteraargletscher, um vor allem Hugis Hütte aufzusuchen und instand zu setzen. Allein sie war nicht mehr zu finden, sie war vollständig verschwunden; nach langem Suchen erst wurde eine Flasche entdeckt, welche einst in der Hütte lag und in der schon Hugi und im letzten Jahre Agassiz Notizen niedergelegt hatte. Sogleich vorgenommene Messungen ergaben, dass der grosse Block, an den Hugis Hütte angelehnt, sich in einem Jahre 200 Fuss talab bewegt hatte, um so viel rückte also der Gletscher in einem Jahre voran. Es blieb jetzt nichts anderes übrig, als sich nach einem neuen, wenn möglich noch geeigneteren Platze für die Erbauung einer Hütte umzusehen. Auf der grossen Mittelmoräne, etwa 2000 Fuss oberhalb Hugis Platz, wurde ein riesiger Block von schiste micacé gefunden, der für den gedachten Zweck sehr geeignet erschien. Tags darauf begann das grosse Werk.
Voran die beiden Führer, Jacob Leuthold und Hans Währen, die während des ganzen Sommers bei Agassiz blieben. Dann kamen vier handfeste Grimselknechte, die das Gepäck, Lebensmittel, Kücheneinrichtung trugen, dazu einen guten Vorrat Wein, der, wie Vater Zybach auf dem Hospiz sich ausdrückte, besser gegen die Kälte schütze als alle Decken. Am grossen Blocke angelangt, begann man sogleich unter Leitung Währens, der von Beruf Maurer war, mit der Erbauung einer Hütte. An eine vorspringende Ecke des Felsens fügte man eine Mauer an, wodurch ein Schlafraum für sechs Personen gewonnen wurde. Den Boden belegten sie zuerst mit Steinplatten, darauf kam eine Schicht frisches Gras, worüber dann ein grosses Stück Wachstuch gebreitet wurde. Nun kamen die Matratzen aus Heu, über sie legte man ein weisses Bettleinen, « très propre, qui donnait à l' ensemble un air de coquetterie rustique ». Vor dem durch einen Vorhang abgeschlossenen Schlafraum wurden Küche und Speisezimmer eingerichtet. Eine Viertelstunde davon entfernt, auf der andern Seite des Gletschers, bauten sich die Führer eine Hütte.
In derselben Nacht schon wurde in der Hütte geschlafen. Es wurde beschlossen, ihr den Namen L' Hôtel des Neuchâtelois zu geben. Um die Erinnerung an den Aufenthalt unserer Forscher für immer festzuhalten, sollte dieser Name in grossen Buchstaben auf die Nordseite des Blockes eingemeisselt werden. Später kamen dazu noch die Namen der Teilnehmer an dieser ersten Expedition: Agassiz, Charles Vogt, Ed. Desor, Célestin Nicolet, Henri de Coulon und François de Pourtalès.
Charles Vogt war der nachmals so berühmte Genfer Professor der Physiologie. Ihm waren die mikroskopischen Untersuchungen, wie z.B. die des roten Schnees, vorbehalten. Nicolet war der Botaniker der Expedition. François de Pourtalès, stud. phil., Agassiz'liebster Schüler, sollte diesem besonders bei den meteorologischen Beobachtungen und bei der Untersuchung der Gletschertemperaturen beistehen. Edouard Desor endlich, mit seinem Gehilfen, dem Studenten Henri de Coulon, hatte die Aufgabe, die eigentlichen Gletscherphänomene ( Bewegung, Moränenbildung, Schmelzung usw. ) zu studieren. Desor hat auch das grosse Verdienst, der Historiograph der Gesellschaft des Hôtel des Neuchâtelois zu sein. In den zwei Bändchen « Excursions et séjour dans les glaciers et les hautes régions des Alpes de M. Agassiz et de ses compagnons de voyage », 1844, und « Nouvelles excursions et séjours, etc. », 1845, schildert er in vorzüglichem Stile und in anregender, oft sehr amüsanter Weise das Leben und die Abenteuer seiner Genossen, ohne sich selbst dabei zu vergessen oder etwa gar in den Schatten zu stellen.
In diesem mehr als primitiven Lokale, im Vergleich zu welchem unsere schäbigste Clubhütte, ja sogar die Höhle eines Zeitgenossen der älteren Steinzeit, als ein feudales Hotel I. Ranges bezeichnet werden darf, verlebten unsere Forscher während mehrerer Sommer eine sehr glückliche Zeit. Lassen wir Desor das Wort zur Schilderung der Einteilung des Tagesprogrammes: « Unsere soziale Organisation brachte es mit sich, dass wir uns, mit Ausnahme der Mahlzeiten, tagsüber nur selten vereinigt fanden. Man stand früh auf, gewöhnlich um 4 Uhr, oder wenigstens war das die Zeit, zu welcher die Führer sich einstellten. Das erste, was sie zu tun hatten, war Feuer zu machen und das Frühstück zu bereiten. Nun begann die Morgenunterhaltung. Man erkundigte sich, wie das Wetter in der Nacht gewesen und wie es jetzt sei. Ist der Himmel klar? Glaubt Ihr, es gäbe einen schönen Tag? Wieviel Grad Kälte zeigt das Thermometer? Bald war das Frühstück bereit. ,He, Ihr Herre, d' Ihr müend jetzt ufstoh, wenn d' Ihr Euri Schokolade no wänd heiss ha! ' rief Jacob Leuthold. Das war nun meistens ein peinlicher Augenblick, denn man fand allgemein die Wärme des Schlafraumes höchst angenehm, trotz des dicken Rauches, der ihn anfüllte, seit das Feuer angezündet war. Wenn man wenigstens seine Frühstückstasse hätte im Bett trinken können — und ich bin sicher, dass manche von uns diese sehr löbliche Gewohnheit zu Hause haben —, aber unsere Hüttenordnung verbot das. Endlich entschloss man sich, die Decken zurückzuschieben; man raffte seine ganze Courage zusammen, um mutig das höchst unangenehme Gefühl zu ertragen, das man beim Heraustreten aus der Hütte empfand, bis man sich Hände und Gesicht im Gletscherwasser gewaschen hatte. Aber diese Operation war ein unfehlbares Mittel, um die ganze Gesellschaft in gute Laune zu bringen. Nun beeilte man sich, um sich um den grossen Schokoladentopf zu vereinigen, wo jedermann mit ausgezeichnetem Appetite frühstückte, dann trennte man sich, und jeder wandte sich seiner Aufgabe zu. » Wenn man die vergilbten Blätter und Seiten der Bücher von Agassiz, Desor, Charpentier und Vogt liest, geschrieben unter dem unmittelbaren Eindrucke jener am Unteraargletscher verlebten Tage, so weht es uns wie Frühlingsluft daraus an. Vergleicht man diese damals jungen Leute mit unserer heutigen Jugend, so sinkt die Wagschale ganz bedeutend zugunsten der Bewohner des Hôtel des Neuchâtelois.
Wie oft hat Darwin schon auf die grosse Bedeutung der Umgebung, des « milieu », auf die ganze Entwicklung des lebenden Organismus hingewiesen. « Welchen Aufwand von Kraft auch ein Organismus in irgend einer Gestalt von sich gibt, er ist das Korrelat und Äquivalent einer Kraft, die von aussen in diesen hineingetragen wurde », sagt Herbert Spencer. Und nun betrachten wir die ganze Denk- und Gefühlsart jener schon bald 100 Jahre hinter uns liegenden Zeit, und wollen wir sie mit einem Satze charakterisieren, so sagen wir: es war der Höhepunkt der Romantik! Vielleicht dass dieser Höhepunkt schon überschritten war, aber gewiss hatten sich die grossen Wellen, die jene einst erregte, noch lange nicht gelegt, die Künste und die schöne Literatur standen noch vollkommen unter ihrem Banne. Wohl war Agassiz ein Sohn der romanischen Schweiz, aber viele Jahre Aufenthalt auf deutschen Hochschulen hatten ihn, wie wir aus seinen Briefen lesen können, genügsam mit jener Gefühlsrichtung durchtränkt.
Wenige Jahre vor den hier geschilderten Ereignissen hatte Schubert seine Augen geschlossen, seine süssen Lieder waren schon Gemeingut des Volkes geworden, in den Waldhornklängen des Freischütz und des Oberon, in Schumanns Symphonien und seiner Musik zu Goethes Faust singt und klingt die ganze Romantik. In dem Jahre, als das Hôtel des Neuchâtelois zum zweiten Male unsere Forscher beherbergte, 1841, wird die Ouvertüre zum Sommernachtstraum zum ersten Male aufgeführt. Die Schule von Barbizot und Fontainebleau malt ihre wundervollen durchgeistigten Landschaften gerade in jenen dreissiger Jahren. Heine und Musset dichten gefühlvolle, sentimentale und schwärmerische Lieder, in der Bohême von Murger werden uns die sentimentalen Grisetten und ihre Liebhaber des Paris der Restauration, des Paris Charles X, vorgeführt, und Eichendorffs mondscheinüber-gossene Poesie lässt alle romantischen Saiten in den Herzen der deutschen Jugend erklingen. Die Welt, die Menschen waren nach dem dekadenten und senilen Aufklärungszeitalter des ancien régime wieder jung geworden, deshalb wurden sie sentimental; weil sie sich jung fühlten, waren sie von Herzen gefühlvoll und konnten begeistert schwärmen. Und ganz als Kinder dieser Zeit und der Romantik kamen unsere jungen Gelehrten auf den Aaregletscher, voll von Idealen und von Begeisterung für ihre wissenschaftlichen Ziele. Um sie her ragten in den blauen Sommerhimmel die eisgepanzerten Riesen des Oberlandes, fast alle noch vom Nimbus des Unerstiegenseins umgeben, und die Gletscher hatten ja gerade in jenem Jahrzehnt den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht. Es waren nicht « les pauvres glaciers », wie Forel sie in seinem berühmten Vortrage über das Gletscherproblem an der Naturforscher-Versammlung im Jahre 1900 in Thusis nannte, wie wir Epigonen sie heute vor uns sehen; nein, als mächtige Eisströme wälzten sie sich weit in die Täler herunter. Aber weit grossartiger und verlockender ragten um sie die ungelösten wissenschaftlichen Probleme. War doch alles Neuland, Hunderte von Fragen stellte ihnen der Gletscher, boten ihnen das Firnfeld und die Moräne, der polierte Fels und der wandernde Block, und sie fühlten die Kraft und die Energie in sich, sie alle zu erforschen und zu lösen. Nirgends finden wir ein Wort der Klage über die gewiss grossen Entbehrungen, welche sie während ihres lange dauernden Aufenthaltes im primitiven « Hotel » durchzumachen hatten. Ihr Enthusiasmus liess sie alles im schönsten, vergnüglichsten Lichte erscheinen.
« Mittag naht heran, alle Welt ist um den Tisch versammelt, und obgleich die Speisen nur wenig wechseln, so gestehen doch alle ein, dass ein Mittagessen an der grossen Gneistafel vor dem Hotel in freier Luft ein wahrer Genuss ist. Es gibt nur Reis und Schaffleisch; allein, ob nun das Schaffleisch besser oder der Gaumen gefügiger ist, man wird seiner nicht überdrüssig. Zuweilen gibt 's zur Abwechslung Ziegenfleisch. Die Tasse Kaffee und die Zigarre nach dem Essen sind unentbehrlich, beide scheinen im Angesichte des Schreckhornes und des Finsteraarhornes ein ganz besonderes Aroma zu haben. Die Stunde nach dem Essen war die Stunde der lustigen Einfälle, der lebhaften Diskussionen, der verwegenen Vorsätze; nachher ging jeder seinen Weg, seinen Geschäften nach.
Keine Rose indessen ohne Dornen. Und auch wir sollten bald erfahren, dass dieser bewegliche Boden nicht zu Menschenwohnungen bestimmt sei. Wir gingen jeden Abend schlafen mit der festen Überzeugung, in der Nacht unmerklich vorzurücken; da aber diese Bewegung nicht immer vollkommen gleichförmig war, so senkte sich die Mauer oft und liess Öffnungen, durch welche der Wind blies. Eine noch grössere Unannehmlichkeit bestand darin, dass der Block trotz seiner Dicke von 20 Fuss nach allen Seiten hin zerspalten war, so dass bei längerem Regen das Wasser einsickerte, durchdrang und in den Schlafraum tropfte. Sobald diese Tropfen eine Rauhigkeit antrafen, sammelten sie sich zu einem kleinen Rinnsal, das die unten Liegenden unerbittlich weckte. Man sah bald den einen, bald den andern sich erheben, das Licht nehmen und dem Rinnsal, welches den einen oder den andern Nachbar weckte, indem es ihm aufs Ohr oder auf die Nase tropfte, eine andere Richtung geben. Der Unglückliche erhob sich dann und führte seinem Nachbarn den unleidlichen Bach zu. Ich erinnere mich, schreibt Desor, einer Nacht, wo es von allen Seiten so reichlich tropfte, dass jede Verbesserung unmöglich wurde, und da wir kein Auge schliessen konnten, so belustigten wir uns mit unseren Wasserfällen, indem wir sie nach allen Seiten lenkten. Statt zu schlafen, machten wir hydrographische Studien. » Während zwei Sommern, 1840 und 1841, gab das Hôtel des Neuchâtelois unseren Forschern gastliche Herberge. Als aber im Sommer 1842 Agassiz wiederum auf den Unteraargletscher zog — diesmal schlossen sich noch Escher v. der Linth und der Basler Burckhardt neben Nicolet, Vogt und Desor ihm an —, da wurde aus einem grossen Zelte, 20 m lang, 5 m hoch und 4 m breit ein komfortables, sonniges Logis konstruiert, mit Schlafzimmer, Ess- und Studierzimmer, Tischen, Stühlen und Bänken; nicht das Eis war der Fussboden, sondern man schlief auf einem richtigen Bretterboden. Der Anblick des Zeltes erinnerte von ferne gesehen an die Arche Noah, so dass die neue Behausung auch die « Arche » genannt wurde, das alte Hôtel des Neuchâtelois war jetzt zur Küche verwandelt worden. Hier wurde während eines langen Sommers, vom 8. Juli bis zum 5. September, ein fröhliches Hüttenleben geführt, der Sommer war schön und warm gewesen. Ganz anders aber wurde die Sache im kalten und schneereichen Sommer 1843. Das alte Hôtel des Neuchâtelois konnte in dieser Schneewüste nicht mehr benützt werden. Nach einigem Suchen fand man am Fusse des Rothornes, aber etwas mehr gletscherab, einen geeigneten Platz, auf dem unter Verwendung der Balken und Bretter der Hütte des vorigen Jahres eine richtige Hütte gemauert wurde, mit einem richtiggehenden Dache, mit Steinblöcken beschwert, mit einer Türe; ja man trieb den Luxus so weit, dass sogar ein ganz vor Nässe geschütztes Bettgestell angebracht wurde. Carl Vogt erzählt: « Agassiz fand bei seiner Ankunft nicht Worte genug, um unsere bequeme Hütte zu bewundern, die wir, um Verwechslungen mit dem Hotel zu verhüten, den Pavillon nannten. » Später entstand dann über dem linken Ufer des Unteraargletschers der bekannte Pavillon Dollfus, benannt nach dem Mülhauser Industriellen Dollfus-Ausset, der schon im Jahre 1842 die Neuenburger Forscher besucht und sich lebhaft für ihre Arbeiten interessiert hatte. Dieses Mal war er wieder erschienen. 1846 hat er dann etwa 600 m über dem Grimselhospiz eine Hütte errichtet.
Im Jahre 1844 trafen sich Desor und Dollfus wieder auf der Grimsel. Dollfus rückte mit einer ganzen Ladung von Instrumenten, sogar mit einer Wage und einem Haufen von Werkzeugen, an. Der Pavillon, der unterdessen noch vom Grimselwirte Zybach bedeutend verschönert und sogar mit einem Ziegenstalle versehen worden war, diente jetzt als Hauptquartier. Diesmal war Agassiz nicht mehr dabei, dafür aber benützte er den letzten Sommer, den er in Europa verbrachte, den des Jahres 1845, zu einem kurzen und hastigen Besuche des Unteraargletschers. Leider wissen wir gar nichts über diese seine letzte Alpenreise, denn sowohl die Beschreibungen von Desor als von C. Vogt schliessen mit dem Herbste 1844 ab, und in der Biographie von Agassiz, die wir seiner Frau Elisabeth verdanken, finden wir bloss die Angabe, dass über diesen letzten Besuch der Gletscher leider keine Notizen vorhanden seien.
Ein besonders interessantes Kapitel aus dieser Epoche der Gletscherforschung bildet eine Winterreise auf den Unteraargletscher, welche Agassiz und Desor anfangs März 1841 unternahmen, um gewisse Fragen wissenschaftlicher Natur zu lösen, wie z.B. die über den Einfluss der Erdwärme und über das Gleiten der Gletscher. Die Beschreibung, die wir über diese Expedition aus Desors Feder besitzen, ist ebenso interessant als lustig; man denke doch, was eine solche Winter-Hochalpenfahrt vor 80 Jahren zu bedeuten hatte. In der Tat wurden unsere Forscher auch als total verrückt erklärt, und niemand glaubte, dass sie ihr Unternehmen durchführen könnten. Selbst der Grimselwirt Zybach, der im Winter in Meiringen wohnte, versuchte anfangs, sie von ihrem Vorhaben abzubringen; als er aber einsah, dass Agassiz fest entschlossen war, versprach er, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu helfen. Zu Schiff fuhr man von Thun nach Unterseen bei Interlaken. Desor, der uns diese Fahrt beschreibt, zeigt sich hier ganz als Zeitgenosse der Romantik, da er in höchst poesievollen, ja schwärmerischen Worten die Schönheiten dieser Frühlingsfahrt beschreibt. Nach einer gehörigen Schneestampferei gelangten unsere kühnen Wanderer mit ihren zwei getreuen Führern Leuthold und Währen am andern Tag zum Grimselhospiz. Am folgenden Morgen wurde schon um 3 Uhr aufgebrochen; es gab einen sehr mühsamen Marsch den Gletscher aufwärts, da der Schnee mit einer Kruste bedeckt war, durch welche man beständig einbrach, und beim Lesen des Berichtes wünscht man den Bergsteigern von Herzen ein Paar Skier an die Füsse, von denen sie damals allerdings kaum etwas gehört haben konnten. Erst um 11 Uhr entdeckte man den Block, unter dem das Hôtel des Neuchâtelois sich befand, mit seinem obersten Höcker aus dem Schnee herausragend. Jetzt war alle Müdigkeit vergessen. « Agassiz », so heisst es in dem Bericht, « war ausserordentlich aufgeräumt und glücklich, sich an einem so herrlichen Tage inmitten dieser Eiswelt zu sehen, deren Erforschung er sich zum Ziele gesetzt hatte. » Erst stiegen die beiden zum Abschwung empor; die Mächtigkeit der Schneeschicht schätzten sie dort auf zirka 10 Meter. Zum Hotel zurückgekehrt, begann Agassiz sogleich mit seinen Arbeiten. Er stellte Messungen der Schneetemperatur in verschiedenen Tiefen sowie der Luftwärme an und konnte die letztern dann mit den am gleichen Tage auf dem Grossen St. Bernhard und in La Chaux-de-Fonds ausgeführten Messungen vergleichen. Am Abend ging 's bei einer Punschbowle hoch her in der kleinen Stube des nur von einem Knechte und zwei Hunden bewohnten Grimselhospizes, bei Schaffleisch und Gemsbeefsteak wurde mit schwärmerischer Freude — wie uns Kindern des 20. Jahrhunderts das kaum mehr in dieser Weise möglich wäre, selbst wenn wir 's versuchten — des herrlichen Tages gedacht, und hundert Pläne für die Zukunft wurden geschmiedet. Am andern Morgen früh wurden noch Temperaturmessungen ausgeführt, dann ging 's herunter nach Meiringen, von wo aus am folgenden Tage der Rosenlauigletscher aufgesucht und im Winterkleide studiert wurde.
Doch nun wird es Zeit, dass wir Agassiz mit seinen Freunden etwas bei der Arbeit zusehen. Was haben denn diese vielen, mit grossen Opfern an Zeit und Geld, mit viel Energie und Entsagung unternommenen Expeditionen in die Hochalpen für Resultate für die wissenschaftliche Erforschung der Gletscherphänomene gezeitigt?
Auf alle diese Untersuchungen, ihre praktische und theoretische Durcharbeitung, der Agassiz zehn Jahre seiner Forschertätigkeit gewidmet hat, hier ausführlich einzugehen, das hiesse weit über den Kreis heraustreten, den ich mir für diese Mitteilungen gezogen habe. Beschäftigen wir uns, als Jünger einer stark experimentellen Wissenschaft 1 ), mit einer Epoche der Naturwissenschaften, welche schon mehrere Geschlechter hinter uns liegt und deren Ergebnisse uns im allgemeinen bekannt, ja zum Teil schon wieder der Vergessenheit anheimgefallen sind, so interessiert, uns am meisten die Stellung der Fragen und die Methodik: wie haben jene Leute gearbeitet, was haben sie für experimentelle Verfahren benützt und wie versuchten sie, ihre Ergebnisse theoretisch zu deuten? Und da möge mir jetzt erlaubt sein, auf einige der in experimenteller Hinsicht besonders interessanten Arbeiten einzugehen.
« Die Temperatur ist der Hauptgrund der Bildung, Ausbreitung und Bewegung der Gletscher, und es muss deshalb von höchster Wichtigkeit erscheinen, genau alle Ursachen zu kennen, welche die verschiedenen Wechsel-zustände bedingen können, denen Luft und Boden unserer Alpen in dieser Hinsicht unterworfen sind. » Mit diesen Worten beginnt Agassiz das Kapitel seines Werkes, das über die Temperatur der Gletscher handelt. In der Tat kannte man vor ihm noch keine systematischen Untersuchungen über die Temperatur des Gletschereises. Noch waren die Führer und Freunde bei dem ersten Aufenthalte auf dem Unteraargletscher im Jahre 1839 kaum mit der Erbauung des Hotels fertig geworden, als Agassiz schon mit einer Reihe derartiger Messungen begann. Bohrer verschiedener Art, wie man sie zum Herstellen von Sprenglöchern in Felsen benützt, waren heraufgebracht worden, allein die ersten Versuche, mit diesen Werkzeugen Löcher in den Gletscher zu bohren, waren wenig ermutigend; das Eis erwies sich als äusserst zäh. Nach mehrstündiger Arbeit war man kaum einen Fuss tief gekommen. In der Nacht aber regnete es kräftig, und als am andern Morgen die Bohr-versuche wieder aufgenommen wurden, da liess sich zu aller Erstaunen das gestern so widerspenstige Eis leicht bearbeiten, so dass in kurzer Zeit mehrere Löcher, davon eines 8 m tief, fertig wurden. So musste also geschlossen werden, dass die Härte des Eises im umgekehrten Verhältnisse zum Feuchtigkeitsgrade der Luft steht. In diese Löcher wurden sehr genaue und kontrollierte Minimumthermometer, welche Ablesungen auf 1/100 Grad erlaubten, herabgelassen und regelmässig abgelesen. Auf Grund dieser Messungen kam Agassiz zu dem Schlusse, dass das Eis nachts in einer Tiefe von zirka 60 cm bis zu 8 m unter der Oberfläche eine konstante Temperatur von — 0,33° hat, einerlei, ob die Lufttemperatur über dem Gefrierpunkt oder beträchtlich darunter sich befindet. Am Tage dagegen besassen die obern Schichten bis 2,5 m Tiefe gerade die Temperatur von 0°, und erst in tiefern Schichten beträgt, selbst bei einer Lufttemperatur von + 12°, die Temperatur des Eises — 0,33°, also unterhalb 2,5 m ist sie konstant. Doch diese Beobachtungen gelten für die Sommerzeit; welches aber ist die Eistemperatur im Winter? Zwei der Minimathermometer wurden zur Beantwortung dieser Frage während des Winters im Gletscher gelassen, aber als im Sommer 1841 versucht wurde, die Instrumente ihrer eisigen Kammer zu entheben, da erwies sich das als ungemein schwierig; beim ersten wollte es trotz kochenden Wassers — die Thermometer selbst steckten in Blechhüllen — nicht gelingen, es unversehrt ans Tageslicht zu befördern, erst beim zweiten, wo jede Erschütterung peinlichst vermieden wurde und das Eis um die Blechröhre mit glühenden Bohrstangen und kochendem Wasser fünf Tage lang bearbeitet worden war, konnte eine Temperatur von —0,33° abgelesen werden. Das war nun recht interessant, aber noch nicht genügend. Noch einmal wurden zwei Thermometer versenkt, um im nächsten Jahre herausgeholt zu werden, eines in 2,5 m, das andere in 5 m Tiefe. Allein im Sommer 1842 war die Schneedecke so dick, dass es unmöglich war, die Instrumente aufzufinden; das gelang erst im Sommer 1843. Dieses Mal zeigte das Thermometer aus 2,5 m die Temperatur von —2,1°.
Tyndall, in seinem bekannten Werke « Die Gletscher der Alpen », geschrieben im Jahre 1860, sagt dort: « Agassiz hat sich wesentlich mit dem Studium der beschreibenden Naturwissenschaften beschäftigt und scheint dem der Physik nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Mir wenigstens scheinen die physikalischen Teile seiner Schriften oft recht mangelhaft zu sein. » Das mag ja vielleicht im grossen und ganzen nicht ganz unrichtig sein; bedenkt man aber, dass Agassiz vollständig neuen, noch nie bearbeiteten Problemen gegenübergestellt war, dass er sich selbst die Fragen gab, so muss man doch billig eingestehen, dass er diese Fragen im Sinne der Kenntnisse und der Mittel seiner Zeit gut und vollständig beantwortete. Kein geringerer als einer der ersten Gletscherforscher der Gegenwart, Professor Hess, in seinem Werke « Die Gletscher », nennt Agassiz'Arbeiten meisterhafte. Erst im Jahre 1849, als Agassiz schon in Amerika war, veröffentlichte James Thomson eine Abhandlung, in der er rechnerisch den Schluss zog, dass der Schmelzpunkt des Eises resp. des Wassers durch Druck erniedrigt würde, und zwar für eine Atmosphäre um 0,0075°. Die experimentelle Prüfung im Laboratorium, welche diesen Satz bestätigte, wurde dann von dem berühmten Bruder W. Thomson ( später Lord Kelvin ) bestätigt. Aber erst im Sommer 1888 führten Prof. Hagenbach-Bischoff ( Basel ) und Prof. Forel ( Morges ) die ersten ganz genauen Messungen der Gletschertemperatur in der Grotte des Aroilagletschers aus, mit viel genauem Instrumenten, als sie den Bewohnern des Hôtel des Neuchâtelois zu Gebote standen. Sie fanden als Resultat einer grossen Reihe von Versuchen Eistemperaturen von — 0,02° bis — 0,002°, je nach der Tiefe der Messstellen, d.h. je nach dem Drucke, und stellten darauf hin den Satz auf: « Die Temperatur im Innern des Gletschers ist die den jeweiligen Druckverhältnissen entsprechende Schmelztemperatur des Eises. » Dieser der mechanischen Wärmetheorie konforme Satz wurde dann durch neuere genaue Messungen von Hess und Blumke Ende der 90er Jahre am Hintereisferner im Tirol vollkommen bestätigt. Die Messungen von Agassiz mögen also ganz richtige gewesen sein, denn die eben genannten Hess und Blumke bestätigen den von Agassiz gezogenen Schluss: Die Temperaturverhältnisse des Gletschers werden, mit Ausnahme der äussersten Oberflächenschicht, durch die Jahreszeiten nicht beeinflusst.
Diese Eigenschaft des Schmelzens des Eises unter Druck bildet einen der wichtigsten Faktoren in der Physik der Gletscher. Auf ihr beruht die sogenannte Regelation. Presst man zwei Eisstücke mit glatten Flächen zusammen, dann sinkt an den Druckstellen die Schmelztemperatur; obgleich das Eis 0° warm ist, bildet sich dort Wasser, weil eben der Schmelzpunkt erniedrigt, einige Hundertstel Grade unter 0° gesetzt wird. Sobald aber der Druck aufhört, wird der Schmelzpunkt wieder 0°, das Wasser gefriert, und die beiden Eisstücke werden an den Druckflächen zusammengekittet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Erscheinung schon anfangs der 40er Jahre bekannt war, ihre wissenschaftliche Erklärung verdanken wir dann dem grossen Physiker Thomson ( Lord Kelvin ).
Das wichtigste Arbeitsgebiet der Gelehrten des Hotels bildeten unstreitig die Untersuchungen über die Bewegung der Gletscher. Es sind ja so viele Tatsachen vorhanden, welche die Vorwärtsbewegung der Gletscher nach abwärts beweisen, dass dieses Phänomen sicherlich den Alpenbewohnern in früheren Jahrhunderten bekannt gewesen sein muss, also zu Zeiten, da man im allgemeinen noch kein Interesse und keinen Sinn für naturwissenschaftliche Beobachtungen besass. Das Vorschieben grosser Schuttmassen als Stirn- und Seitenmoränen, das rasche Wandern grosser Blöcke auf dem Gletscherrücken waren Erscheinungen, die doch sicher den sonst gut beobachtenden Jägern auffallen mussten; dazu kamen dann noch zu Zeiten, da die Gletscher stark vorstiessen — und das war ja gerade in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der Fall —, die häufigen Eislawinen und Gletscherabbrüche. Oder aber durch das Vorgehen der Eismassen wurden Gewässer zu Seen gestaut, welche dann schliesslich — und mehrfach sogar periodisch — durchbrachen und als mächtiger Strom, alles verheerend und verwüstend, die Täler herunterfegten. Es sei hier an diese Verhältnisse am Giétrozgletscher im Bagnestal erinnert; schon 1595 wird dort ein derartiger Durchbruch der durch den Gletscher gestauten Dranse gemeldet. Bekannt sind die erst in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts für immer unschädlich gemachten Durchbrüche des Passeyersees im obern Teile des Martelltales ( am Cevedale ) im Südtirol, dann die uns allen wohlbekannten ähnlichen Verhältnisse am Märjelensee.
Wo und von wem zuerst richtige Angaben über das stete Vorrücken der Alpengletscher gemacht wurden, das wäre im einzelnen noch genauer festzustellen; der grosse Schweizer Naturforscher Scheuchzer kennt das Phänomen ums Jahr 1700 schon genau. Böhm in seiner Geschichte der Moränenkunde berichtet uns, dass Besson im Jahre 1770 ( Discours sur l' histoire naturelle de la Suisse, 1780 ) als erster direkte Messungen über die Bewegung der Gletscher anstellte; er zwängte Tannen in die Spalten ein und bestimmte deren Verschiebung im Jahre zu 14 Fuss; es scheint, dass er diese Versuche auf dem Rhonegletscher ausgeführt hat. Auch Saussure beobachtete am Ende des 18. Jahrhunderts in Chamonix die kleinern Schwankungen des Gletscher-vorgehens, sowie die durch die stark vordrängenden Eisströme verursachten Verwüstungen des Kulturlandes.
Derjenige Forscher aber, der das grosse Verdienst hat, in geradezu genialer Weise die genaue wissenschaftliche Vermessung der Gletscherbewegung eingeführt zu haben, das ist Agassiz. Im ersten Berichte über seine Untersuchungen sagt er darüber:
« Die Bewegung des Aargletschers wurde seit einigen Jahren von mir mit der grössten Aufmerksamkeit bobachtet. Im August 1840 war die Distanz des Hôtel des Neuchâtelois von der Basis des Abschwunges gleich 797 Meter, was ja auf dem Blocke selbst eingemeisselt wurde. Im Jahre 1841 war meine erste Sorge, die Entfernung aufs neue zu messen; sie betrug 861 Meter. Der Block war demnach um 64 Meter vorgerückt. Zieht man nun in Betracht, dass dies Vorrücken an einem Orte stattfand, wo der Gletscher sehr wenig geneigt ist ( sein Fall beträgt kaum 3° ), dass die obern Massen, namentlich das Lauteraar, sehr einförmig sind und keine Spur schneller Bewegung zeigen, so begreift man, dass ein Gleiten, wie es noch von vielen Naturforschern angenommen wird, kaum denkbar ist. Zudem muss man die Lokalitäten nur kennen, um sich zu überzeugen, dass ein Gletscher sich hier nie anders bewegen konnte als durch die langsame und stete Bewegung, welche durch Infiltration und Gefrieren des Wassers in der ganzen Masse erzeugt wird. » Es ist sehr interessant, hier jener eigentümlichen Theorie der Gletscherbewegung bei Agassiz zu begegnen, welche dieser von seinem Freunde Charpentier adoptiert hat, und dieser hat den Gedanken eigentlich schon bei Scheuchzer gefunden. Wenn das vom Gletscher aufgesogene und von den Sprüngen und Haarspalten durch sein ganzes Inneres verbreitete Wasser gefriert, so vermehrt sich sein Volumen und teilt der ganzen Masse eine Art von Ausdehnung mit. Da die Verschiebung nach der Richtung des geringsten Widerstandes, also nach dem Gefälle zu, sich äussern wird, so muss das Eis abwärts bewegt werden. Dem Einwand, der durch das Gefrieren des Wassers im Innern des Gletschers entstehende Druck müsse sich doch zuerst nach oben, nach der Oberfläche, bemerkbar machen, begegnet Agassiz mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass die Gletscheroberfläche zuerst gefriert und hart wird; diese bildet dann eine harte, feste Masse und stellt der Ausdehnung einen gleichen Widerstand entgegen wie die übrigen Teile des Gletschers.
Es ist klar, dass diese ältere Ansicht über die Eigenbewegung der Gletscher sich nicht halten konnte; hier mag Tyndall wohl ein wenig recht haben, wenn er von den etwas mangelhaften physikalischen Anschauungen von Agassiz spricht. Schon Forel zeigte auf Grund genauer Infiltrationsversuche im Jahre 1884, dass nur die Haarspalten der obersten Gletscherschicht, 2 — 3 m unter der Oberfläche, für Infiltrationen zugänglich sind. Überhaupt: Wie soll das Gefrieren im Innern des unter Druck befindlichen Eises vor sich gehen? Das widerspricht direkt der mechanischen Wärmetheorie, wo wir allerdings Agassiz entschuldigen müssen, denn er kannte sie noch nicht und konnte sie auch noch nicht kennen. Es würde viel zu weit führen, wollte ich hier auf alle die vielen scharfsinnigen Erklärungsversuche näher eingehen, die über das Bewegen der Gletscher aufgestellt wurden. Doch möchte ich gerne die Gelegenheit ergreifen, Ihnen mit wenigen Worten die gegenwärtig geltende Hypothese mitzuteilen, findet doch auch diese so eminent wichtige Frage ihre Wiege im Hôtel des Neuchâtelois. Gleich muss zugestanden werden, dass eine Erklärung, welche die Frage restlos beantwortet, zurzeit noch nicht gegeben werden kann.
Der Gletscher in seiner Gesamtheit besteht aus einer Anzahl von Individuen, und diese sind das Gletscherkorn. Die Kristallachsen dieser Körner liegen regellos herum; die Grösse dieser Individuen wechselt von dem Umfange einer Faust am Ende des Gletschers bis zu Erbsengrösse im Firn, auf der Gletschersohle aber können sie einen Inhalt von mehreren Kubikmeter besitzen. Das Material des Gletschers wird also vom Firnreservoir an immer grobkörniger. Im Jahre 1883 hat Hagenbach-Bischoff die Wirkung der Molekularkräfte als Ursache des Kornwachstums erkannt, denn er beobachtete, dass häufig zwischen grossen Gletscherkörnern sehr kleine Exemplare eingeschlossen sind, und er kam zu der Ansicht, es würden im Laufe der Zeit die kleinern Körner von den grossen vollständig aulgezehrt, infolge von molekularen Umlagerungen, welche sich ohne Zustandsänderungen vollziehen, und Emden konnte diese Annahme vollständig bestätigen, indem es ihm nachzuweisen gelang, dass in jedem körnigen Eise im Laufe der Zeit die Zahl der Individuen abnimmt, ihre Grösse aber zunimmt. Das Resultat der Umwandlung des feinkörnigen Firnschnees in das grobkörnige Gefüge der Gletscherzunge ist demnach, dass die Dichte des Eises beständig zunimmt.
Das Fliessen der Gletscher ist also nicht direkt vergleichbar etwa dem Vorgange, den wir beobachten, wenn eine zähflüssige Masse wie Pech oder Asphalt eine geneigte Fläche hinunter fliesst, sondern sie setzt sich zusammen aus der Einzelbewegung der Gletscherkörner, sie ist also, ich möchte sagen, eine Art von « molekularer » Bewegung, denn das Korn nimmt hier die Stelle des Moleküls ein. Dass ferner das Eiskorn eine plastische Masse ist, wurde durch häufige Laboratoriumsversuche festgestellt. Dann kommt noch dazu, dass man annehmen muss, dass die Gletscherkörner gewissermassen in Wasser eingebettet sind. Denn unter dem Einflusse des hohen Druckes, unter dem sie stehen, ist ihr Schmelzpunkt erniedrigt; er befindet sich einige Hundertstel Grad unter 0°, so dass ein teilweises Schmelzen stattfindet, um so mehr, je grösser der Druck ist. Dieses Schmelzwasser aber wirkt gewissermassen als Schmiermittel und erleichtert das Nebeneinandergleiten der einzelnen Körner. Die ganze grosse Eismasse steht mehr unter ihrem eigenen hohen Drucke als unter dem Drucke der nachdrängenden Firnmasse, und diesem Drucke gibt sie nach und gleitet abwärts, indem sich die einzelnen Körner aneinander vorbeischieben. Was nun die Geschwindigkeit des Fliessens eines Gletschers betrifft, so kann gesagt werden, dass diese sich direkt vergleichen lässt mit der Geschwindigkeit, mit der ein Fluss in demselben Talbette abwärts strömen würde; der Eisstrom gehorcht genau den gleichen Gesetzen wie der Wasserstrom. Doch wir sind der Zeit weit vorausgeeilt, kehren wir zurück auf den Unteraargletscher, zurück ins Jahr 1840.
Agassiz bemühte sich damals, eine korrekte Messmethode zu finden, um das Vorrücken der Gletscher mit Genauigkeit ermitteln zu können. Denn das war ihm von Anfang an klar, dass nicht vereinzelte Beobachtungen, sondern nur jahrelang systematisch durchgeführte Messungen auf diesem schwierigen und neuen Gebiete zum Ziele führen würden. An beiden Felsenufern wurden mit Hilfe eines Theodoliten zwei Fixpunkte einvisiert, und in der die beiden Punkte verbindenden Linie rammte man in regelmässigen Abständen Pfähle ein, 3 Meter tief in das Eis, und vier solcher Querprofile wurden abgesteckt. Die nötigen Löcher wurden mit Eisbohrern gemacht. « Wahrscheinlich », so sagt Agassiz in seinem ersten Bericht, « werden sie nächstes Jahr nicht mehr gleich stehen, und diejenigen, welche am weitesten nach unten vorgerückt sind, werden die Stellen, wo der Gletscher am schnellsten ging, anzeigen. » Auf seine Anregung hin unternahm sein Freund Escher von der Linth einen gleichen Versuch auf dem Aletschgletscher. Er hatte die Pfähle vier Fuss tief eingesteckt, aber sechs Wochen nachher lagen die meisten Pfähle auf dem Eise, der Gletscher hatte unter dem Einflusse der Sommerwärme ungefähr einen Meter an Dicke verloren. Agassiz fasste jetzt auch den Plan, im folgenden Jahre durch einen gelernten Ingenieur nicht nur diese Messungen aufs genaueste durchführen, sondern auch eine Karte des ganzen Gletschers aufnehmen zu lassen. Diese Arbeit wurde dann auch von Ingenieur Wild in ausgezeichneter Weise ausgeführt und als besonderer Atlas in Agassiz'Système glaciaire veröffentlicht. Aber erst im Sommer 1842 konnten die ersten vergleichenden Resultate über die Bewegung der verschiedenen Gletscherteile erhalten werden, denn der Sommer 1841 war zu schneereich gewesen. Dafür waren im Sommer 1841 mehrere Blöcke auf dem Lauteraar- und Finsteraargletscher genau trigonometrisch eingemessen und fixiert worden. Das Ergebnis der Vermessungen war ein für unsere Forscher ganz unerwartetes: Agassiz glaubte nämlich, annehmen zu müssen, das Eis rücke an den Rändern rascher vor als in der Mitte des Stromes, er stützte diese Ansicht auf die Beobachtung der Richtung der Schründe — aber gerade das Gegenteil war der Fall! Die grössten Geschwindigkeiten zeigte der Gletscher in der Mitte mit durchschnittlich 87 m im Jahre, an den Rändern aber ging die Geschwindigkeit bis auf 29 m zurück. Daraus ging hervor, dass, wie ein Fluss in der Mitte rascher strömt als an den Ufern, das Gletschereis sich ganz analog verhält, durch die Reibung an den Talwänden wird die Vorwärts- bewegung gehemmt. Durch zahlreiche spätere Messungen ist dieser Satz immer wieder als richtig bewiesen worden. Agassiz dehnte aber seine Messungen auch bis gegen die Firnregion aus; er markierte auf dem Firnbecken des Finsteraarhorngletschers im Jahre 1842 sechs Blöcke, von denen vier erst im Sommer 1845 wieder aufgefunden werden konnten; zwei liessen sich nicht mehr entdecken. Der am weitesten unten lagernde Block hatte sich mit einer Geschwindigkeit von 73 m pro Jahr, der im höchsten Teile gemessene Block mit 28 m abwärts bewegt. Ganz ähnliche Zahlen sind viel später, erst 1882, im Firngebiete des Rhonegletschers durch die eidgenössische Vermessung erhalten worden, ferner von den Gebrüdern Schlaginweit am Hintereisferner in Tirol. Aber auch Verfahren zur Messung der täglichen Geschwindigkeiten sind im Hôtel des Neuchâtelois ersonnen worden. In einer Entfernung von 150 m vom Ufer liess Agassiz einen Pfahl ins Eis schlagen; ihm gegenüber wurde ein Fernrohr mit Fadenkreuz eingemauert. Damit wurde dann täglich zweimal die Bewegung des Pfahles gemessen. Als Mittel einer 23tägigen Beobachtung ergab sich 0,1 m für 24 Stunden, und die Bewegung der Nacht verhält sich zu der am Tage wie 7: 6. Ein Pfahl, der sehr viel weiter draussen auf dem Gletscher aufgestellt worden war, bewegte sich mehr als doppelt so rasch, nämlich 0,24 m täglich, vorwärts. Agassiz konnte bereits auf Grund seiner Messungen und Schätzungen über die Tiefe der Gletscher behaupten, dass die Geschwindigkeit der Gletscher durchaus nicht immer proportional ist ihrem Neigungswinkel, sondern je tiefer das Eis, je grösser der Querschnitt, desto rascher die Bewegung; wir wissen jetzt, dass das vollkommen richtig ist!
Um zu sehen, wie eigentlich ein Gletscher von innen aussieht, unternahm Agassiz im Sommer 1841 das, was Desor seine « Höllenfahrt » nennt. Der Schacht einer etwa ein Meter weiten Gletschermühle wurde zu diesem Experiment ausersehen; erst musste der Bach, der hineinfloss, abgeleitet werden, dann wurde an einem Seile ein Brett befestigt, auf welchem sitzend Agassiz herunter gelassen wurde, während Escher von der Linth, der sich platt auf den Bauch legte, um herabsehen zu können, das Manöver dirigierte. Langsam, die Struktur und Bänderung des Eises genau beobachtend, gelangte der kühne Gletschermann bei etwa 30 m Tiefe auf eine Eiswand, die den Brunnen in zwei Abteilungen teilte; er konnte sich in die eine weiter hinablassen, als er plötzlich seine Füsse im Wasser fühlte. Sein Ruf, aufzuziehen, wurde falsch verstanden; er kam immer tiefer hinunter, bis man ihn endlich mit viel Mühe hinaufbeförderte. « Bis zum Schwimmen kam ich nicht, aber in meinem Leben habe ich kein kälteres Wasser gefühlt. » Ich habe bisher hauptsächlich mit zwei Arbeitsgebieten von Agassiz und seinen Freunden etwas ausführlicher bekannt gemacht, welche allerdings auch die bedeutendsten Fragen der Gletscherkunde in sich bergen, nämlich die Untersuchungen über die Wärmeverhältnisse des Gletschereises und über seine Fortbewegung. Aber diese Arbeiten bildeten nur einen, wenn auch sehr bedeutenden, Teil des Arbeitsprogrammes dieser unermüdlichen Pioniere der Gletscherforschung. Denn ausserdem wurde noch vieles andere studiert: die Dichtigkeit des Eises, vor allem seine Struktur und Bänderung, die Zersetzung und Abschmelzung im Zusammenhang mit dem Wasservolumen des Gletscherflusses, also zumeist der Aare, die Entstehung der Schrunde, Spalten, der Gletschermühlen und Brunnen, daneben werden natürlich die geologischen und erratischen Phänomene, die botanischen und faunistischen Verhältnisse in der Umgebung aufs genaueste studiert, genaue Karten des Gletschergebietes der Grimsel wurden aufgenommen, der Zeichner Burckhardt hatte genug zu tun, alle ihm aufgetragenen Obliegenheiten zu erfüllen. « Ranzen-Planken » gab 's da oben offenbar nicht häufig. Kaum eine Frage der Gletscherforschung, die nicht schon von jenen Männern in den Kreis ihrer Untersuchungen gezogen und auch schon, soweit als dies damals überhaupt möglich war, der Lösung zugeführt wurde.
Hess in seinem Werke über die Gletscher sagt: « Die Gesamtheit aller den Gletscher betreffenden Fragen wird mit einer Gründlichkeit und Klarheit behandelt, dass kaum eine der spätern Untersuchungen über den Gegenstand eine Seite berührt, die Agassiz entgangen wäre. Haben sich auch durch die Bereicherung, welche unsere Erfahrungen über die physikalischen Eigenschaften des Eises gewonnen haben, seit Agassiz viele Erklärungen, die er gab, wesentlich geändert, so kann man sich trotz unleugbarer Fortschritte doch kaum des Gedankens erwehren, dass in neuern Arbeiten über die Gletscher vielfach « alter Wein in neuen Schläuchen » vorgesetzt wird. In der Tat, als ich nach der Lektüre des Tyndallschen Buches dann hinter die Schriften von Agassiz ging, musste ich mir — zu meinem eigenen Erstaunen — gestehen, dass der englische Physiker — wenigstens, was das wichtige Problem der Gletscherbewegung betrifft —, wenig prinzipiell Neues gebracht hat. Nachdem Agassiz nach Amerika gezogen, hörte die wissenschaftliche Gletscherforschung für längere Zeit auf. Aber des grossen Naturforschers Erbe ist dann von der im Jahre 1874 gegründeten Schweizerischen Gletscherkommission angetreten worden, welche Jahr für Jahr durch genaue Vermessungen und genaues Studium des Rhonegletschers alle jene Probleme zu lösen versucht, die einst auf dem Unteraargletscher aufgestellt wurden.
Allein nicht nur in der Geschichte der Gletscherforschung nimmt das Hôtel des Neuchâtelois eine hervorragende Stellung ein. Sein Name wird auch für alle Zeiten verbunden sein mit der Geschichte der Alpinistik. Denn von ihm aus wurden eine Reihe höchst bemerkenswerter Besteigungen ausgeführt. Unsere Forscher bewiesen, dass sie vor keiner Aufgabe zurückschreckten, ihr Enthusiasmus für alles Alpine führte sie zu wundervollen und für sie genussreichen Bergfahrten, welche sie sogar auf noch unbestiegene Gipfel führten.
Im Sommer 1840, nach einwöchigem Aufenthalte im Hotel, wurde der Übergang über die Strahlegg auf den Grindelwaldgletscher unternommen. Desor sagt, dieser Übergang werde fast jedes Jahr versucht, sei aber bisher erst zweimal geglückt. Am Morgen des bedeutungsvollen Tages fand Desor, vom Grimselhospiz mit den Führern kommend, « alle mit den Vorbereitungen zu der abenteuerlichen Fahrt beschäftigt; Agassiz besonders war in einer Aufregung, wie ein Landpfarrer, der seine Familie zum Jahrmarkt in die Stadt führen will ». Es braucht wohl kaum besonders hervorgehoben zu werden, dass alle diese Bergreisen in erster Linie wissenschaftlichen Zwecken dienen mussten. So wurde denn auch während dieses beim schönsten Wetter gelungenen Strahleggüberganges fortwährend beobachtet, gemessen und gezeichnet. Im folgenden Sommer, am 29. August 1841, gelang die Besteigung der Jungfrau von der Märjelenalp aus, wo übernachtet worden war. Der Gipfel der Jungfrau war vorher erst zwei- oder dreimal erreicht worden; über die einzuschlagende Bichtung wusste eigentlich niemand etwas Sicheres, und auf dem Concordiaplatz ( Desor nennt ihn den Ruheplatz ) angelangt, gab es eine heftige Diskussion, welches denn eigentlich die Spitze der Jungfrau sei. An jenem Tage erhielt der Trugberg seinen Namen, den er heute noch besitzt; denn er war von allen, ausser von Oberführer Jakob Währen, für die Jungfrau erklärt worden, hätte also, wäre der « Trug » nicht erkannt worden, unsere Bergsteiger zum Narren gehalten.
Die Besteigung gelang aufs glücklichste, beim schönsten Wetter. Als echte Kinder ihrer romantischen Zeit waren alle aufs tiefste bewegt. « Wir hätten geweint », sagt Desor, « wären wir allein gewesen; allein die Macht der Gewohnheit ist so gross, dass selbst in 12,000 Fuss Höhe die erkaltende Etikette noch um uns herrschte und wir uns der Tränen schämten! » Im Sommer 1842 führten Escher von der Linth, Desor und Joh. Sulger aus Basel ( der später das Finsteraarhorn als erster Turist erreichte ) mit Führer Hans Jaun von Meiringen die erste Besteigung und Überschreitung des Tierberges aus. Und nun waren Mut und Tatendrang gewachsen. Das Hôtel des Neuchâtelois sollte die Ehre haben, die ersten Ersteiger des Lauteraarhorns zu beherbergen. Am 8. August fand diese denkwürdige Besteigung statt. Aber einem zünftigen Alpinisten der Gegenwart steigen die Haare zu Berge, erfährt er, wie diese Bergfahrt unternommen wurde. Erst morgens 7 Uhr konnte vom Hotel aufgebrochen werden. « Wir nahmen nur wenig Nahrungsmittel, eine Axt, Seile, eine Leiter und eine dicke, zum Fahnenstock bestimmte Stange mit », sonst hatte jeder nur seinen Bergstock ( mit dem Horn oben drauf ). Die Karawane bestand aus acht Personen: Desor, Escher von der Linth und Ch. Girard nebst fünf Führern; Agassiz konnte zu seinem Schmerze nicht mit, da er seiner Mutter versprochen hatte, in diesem Jahre keine Wagestücke zu unternehmen. Über den Strahleggfirn erreichten sie um 230 Uhr den Gipfel. Der Energie und dem Mute dieser Männer verdanken wir es, dass diese stolze Zinne unserer Alpen von Schweizern und nicht von Fremden besiegt worden ist.
Schliesslich gelang am 28. August 1844 Desor, Dollfus und Dupasquier und Ingenieur Stengel von der neuen Hütte, dem Pavillon, aus die Erstbesteigung des Rosenhorns. Über das Ewigschneehorn erreichten sie die Hütten der Gaschialp, nächtigten daselbst und gewannen auf dem langen Wege unter dem Hangendgletscherhorn hindurch über den « Jägglisberg » die Spitze des Rosenhorns.
Doch nun ist es Zeit, Abschied zu nehmen von Agassiz und seinen Freunden und Mitarbeitern. Noch einmal kehren wir zurück zum Unteraargletscher und sehen nach, was denn eigentlich aus dem Hôtel des Neuchâtelois geworden ist. Nun, ihm war « das Los des Schönen auf der Erde » zuteil, es hatte keine sehr lange Lebensdauer. Im Sommer 1844 war der grosse Glimmerschieferblock, der den Hauptteil der Behausung bildete, in zwei Stücke gespalten; die anlehnenden Mauern waren umgefallen. Zwölf Jahre später, 1856, suchte Tyndall jenen für die Gletscherforschung für alle Zeiten geweihten Ort auf. « Der Fels ist noch da, der die Spuren von Namen trägt, auch die herumliegenden Trümmer haben noch Inschriften. In dieser Wildnis, in der grauen Abendbeleuchtung machten diese verblassten und verwitterten Beweise menschlicher Tätigkeit einen tief melancholischen Eindruck. Es war ein zur Ruine gewordener Tempel der Wissenschaft1 ). » Für uns aber liegt kein Grund vor, diese melancholische Betrachtungsweise zu teilen. 0 Freunde, nicht diese Töne!...
Im Gegenteil, der mächtige Impuls, den die Gletscherforschung durch die Arbeiten auf dem Unteraargletscher erhalten hatte, war der Anlass zu einer der schönsten gemeinschaftlichen Schöpfungen unseres Schweizer Alpenclubs und der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft. An der Jahresversammlung des S.A.C. im Jahre 1868 brachte der damalige Präsident, Eugène Rambert, die Motion ein: es solle der S.A.C. die Initiative ergreifen zu einer wissenschaftlichen und systematischen Erforschung der Gletscher. Das Centralcomitee sollte die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft für diesen Gedanken interessieren, und es ist ja selbstverständlich, dass von dort freudiger Widerhall entgegenklang. So entstand die eidgenössische Gletscherkommission, unter deren Ägide im Sommer 1874 das grossartige Werk der Rhonegletschervermessung begonnen wurde. So kam es, dass die schweizerische Wissenschaft die Führung auf dem Gebiete der Gletscherkunde aufs neue erhielt und bis heute behalten hat. Rütimeyer, Hagenbach-Bischoff, Dufour, Escher von der Linth und Rambert waren die Männer, welche das Erbe von Agassiz und seinen Mitarbeitern übernommen haben.
Die schneeige Spitze des Agassizhornes wird für viele spätere Geschlechter den Namen des grossen Forschers festhalten. Die Stelle aber, wo einst das Hôtel des Neuchâtelois stand, wird für Naturforscher und Bergfreunde immer eine klassische Stätte bleiben, ein Tempel der Wissenschaft, über dessen Pforte wir die Worte des alten Weisen Seneca lesen: « Introite, nam et hic dei sunt!»Hans Rupe.