Mehr Naturverbundenheit
Von Victor Schnell
( Kilchberg, Zürich ) Im letzten Sommer habe ich mit meinem elfjährigen Sohn eine achttägige Wanderung durch einen Teil der Kantone St. Gallen, Graubünden und Uri unternommen. Von Ragaz kommend, haben wir die bleibende Eindrücke hinterlassende imposante Taminaschlucht besucht und sind dann durch das liebliche, grüne Vättiser Tal nach dem gastfreundlichen Dorf gleichen Namens gezogen. In bunter Folge reihten sich an dieses verheissungsvolle « Präludium » die Wanderung über den Kunkelspass nach Tamins, der gemächliche Aufstieg nach Flims und die eine willkommene Abwechslung und Zeitgewinn bietende Bahnfahrt von Ilanz nach Sedrun, von wo aus wir wieder auf Schusters Rappen bergan stiegen, um über Calmot den Oberalppass zu erreichen. Hier wie in Andermatt unten standen wir erschüttert vor den Verheerungen, welche die Lawinen im letzten Winter angerichtet hatten, und nahmen die Gelegenheit wahr, mit Angehörigen der Opfer ins Gespräch zu kommen.Ein Abstecher ins stille und freundliche Göschenental und zur einsamen, breit ausladenden Mulde der Göscheneralp, gefolgt von einem äusserst lohnenden Aufstiege zur Dammastock-und zur Kehlenalphütte des SAC bildeten den Abschluss. Das Wetter war uns nicht immer hold, zuweilen sogar ausgesprochen schlecht; die Unkenrufe der Meteorologen hatten sich wieder einmal bewahrheitet! Wir stiessen denn auch nach unserer Rückkehr verschiedentlich auf bedauernde Mienen, ja sogar Mitleid und tröstliche Zusprüche. Das gab mir zu denken. Hatten wir wegen der paar Regentage - es waren übrigens nur drei - eine solche Reaktion erwartet und war das Bedauern gerechtfertigt? Oder lag es nicht gar auf meiner Seite? Gerade bei dieser Wanderung habe ich besonders eindrücklich erfahren dürfen, dass auch eine Landschaft im Regen oder Nebel ihre mannigfachen Schönheiten haben kann. Freilich, sie treten nicht offen zutage, sie müssen nicht nur optisch erfasst, sondern gleichsam erfühlt werden. Ich denke da vor allem an die Wanderung über den Kunkelspass bei strömendem Regen, an das herrlich erfrischende Grün der Wälder und Matten, an die Stille und Einsamkeit rings um uns. Während vieler Stunden begegneten wir keinem Menschen. Wir waren « wasserdicht » angezogen und schritten ohne Schweiss- und Hitzebeschwerden kräftig aus. Die Freundlichkeit der netten Bündner Wirtin auf der Passhöhe wurde nur noch von derjenigen unserer Gastgeberin in Trins - wo wir unser zweites Nachtquartier bezogen - übertroffen. Beinahe schien es, als ob uns die guten Leute für die Unbill der Witterung irgendwie hätten entschädigen wollen, obwohl unsere Laune alles andere als schlecht war! Ich denke aber auch an unsere Wanderung nach dem im tiefen Nebel liegenden Flims. Wir hielten uns abseits der « Heer- und Herrenstrasse », streiften am Crestasee vorbei durch den fast nebelfreien Wald und trafen bald die tosenden Wasser des wild daherstürzenden Flembaches, dessen felsige und romantische, fast urwaldähnliche Ufer das Herz des jungen Pfaders an meiner Seite höher schlagen liessen. Ein gutes Stück folgten wir dem Bette dieses wahrhaft jungen, so ganz und gar « unzivilisierten » Baches, und diese Stunde barg so viel Schönes und Geheimnisvolles, dass wir sie rückblickend trotz schwerer Wolken, Nebel und Regen als eine der interessantesten und erfreulichsten der ganzen Reise betrachten. In Sedrun und auf der Oberalp war dann allerdings eitel Lust und Fröhlichkeit unter wolkenlosem, blauem Himmel und wärmender Sonne, ebenso auf der Göscheneralp, und auch der Besuch der beiden SAC-Hütten verlief, abgesehen von einem urplötzlich auftretenden, sehr heftigen aber kurzen Schneesturm, unter günstigen Wetterverhältnissen.
Um nun nochmals kurz auf unsere Rückkehr in die Großstadt zu sprechen zu kommen: Das oben geschilderte « allgemeine Bedauern » scheint mir irgendwie symptomatisch für die Mentalität vieler unter uns. Man akzeptiert die Natur sozusagen nur im Sonntagsgewand, und wehe ihr, wenn sie sich erdreistet, ein anderes - das wahreGesicht zu zeigen! Dafür haben wir uns unsere Ferien nicht sauer verdient! Viele haben auch kein Auge und keinen Sinn mehr für die verborgenen Schönheiten der Berglandschaft. Mehr als einmal bin ich leicht-spöttischem Kopfschütteln und ungläubigen Blicken begegnet, wenn ich von unseren Marschleistungen von acht bis neun Stunden pro Tag berichtete. Freilich, im Zeitalter der Motorisierung auf breitester Basis und in der Stadtluft zumal ist eine solche Einstellung verständlich. Aber ob sie auch richtig ist? Lebendigen Kontakt mit der Gegend, mit dem Berg, kann man doch wohl nur dann haben, wenn man wandert. Es ist eben nicht dasselbe, ob du im 80-km-Tempo mühelos und mit noch der Tiefe verhafteten Sinnen eine Höhe erklimmst oder ob du den Berg « erlebst » durch Wandern und Steigen. Nur dies und die damit verbundene Leistung gewährt jene hohe Befriedigung, welche echte Alpinisten so sehr schätzen. Es ist nicht das gleiche, ob du auf runden Gummipneus lautlos und komfortabel weich gepolstert auf der flachen Strasse daherfährst, oder ob du den harten Fels und Stein unter den scharfen Nägeln schwerer Bergschuhe knirschen hörst; dieses Geräusch klingt mir wie Musik in den Ohren!
Unsere kurze Wanderung war alles andere als eine Heldentat. Wir vollbrachten keine alpinistischen Leistungen und waren keine Gipfelstürmer; es reichte nicht einmal zu einem Dreitausender. Wir blieben ganz klein und bescheiden im Vorgelände der Riesen. Aber sind Höchstleistungen oder gar Rekorde so wesentlich? Mir will scheinen, dass es nicht so sehr auf die Grösse der Leistung und die erklommene Höhe, als vielmehr auf den Geist ankommt, in dem man solche Touren unternimmt; auf die innere Bereitschaft, sich an allem zu erfreuen und jeder Situation die ihr anhaftenden positiven Seiten abzugewinnen. Denn das Glück des Alpengängers ist nicht an Ort und Höhe gebunden. Es kann ihm überall lachen: am Rande eines plätschernden Bächleins, auf blumenreicher Alp oder auf felsigem Grund, im Schatten einer alten Föhre, am wild donnernden Wasserfall oder in der einsamen, befreienden Höhe des Gipfelfirns. Möchten recht viele, die das Wandern und « In-die-Berge-Steigen » verlernt haben - vor allem die Städter -, den « Weg zurück » finden. Denn der Berg ist uns allen ewiger Quell der Kraft. Er ist es, der uns über die Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten des Alltags und der Tiefe weit hinaushebt und zu Höherem führt.