Moléson
Von Alfred Huber
Mit 1 Bild ( 19Schaffhausen ) Gleich mächtigen Kugeln hängt der Lichtschein der Lampen im dichten Nebel der Neujahrsnacht über den Gassen und in der Bahnhofhalle. Schemenhaft treten die Silhouetten von Menschen in ihren Kreis, nehmen einen Augenblick deutliche Umrisse an und verschwinden wieder im Dunkel: singende und gestikulierende Paare oder Gruppen in hochgeschlossenen Mänteln und schleppenden Kleidern, welche die Geburtsstunde des neuen Jahres auf ihre Weise gefeiert haben und denen die Zeit zur Heimkehr noch zu früh sein mag. An ihnen vorbei eilen sonderlich geformte Schatten zum Bahnhof, um erst in den hellerleuchteten Wagen des Frühzuges Farbe und Gestalt an- zunehmen. Es sind Hunderte von Skifahrern, mit denen wir durch die kühle Dämmerung aus der Stadt hinausfahren und die eine Stunde später am Ziel in ganzen Scharen die wohlig erwärmten Abteile verlassen. Mit Hunderten marschieren wir von Châtel-St-Denis über Wiesen und durch Wäldchen ins Tal der Veveyse, vor dem der Nebel zurückbleibt, hinein nach Les Paccots, dem Wintersportplatz der Lausanner Bevölkerung.
In der Ortschaft mit den hübschen Ferienhäuschen treten die Menschen aus der Kolonne nach links und rechts ab. Immer weniger bleiben beisammen, und dann sind wir beide auf einmal allein mit den Bäumen, dem Himmel und dem Schnee. Über den schweigenden Wäldern steht der Moléson in der klaren Luft, und uns scheint, er sei unnahbar. Dennoch steigen wir erwartungsvoll unter den Fichten, von deren Ästen krause Bartflechten hängen, auf steilen Wegen bergan. Hart ist der Schnee zwischen den ausgefahrenen Schlitten-geleisen gefroren, und unsere Skikanten schneiden sich mit einem leisen Klang ein, so dass wir das Singen der Waldsägen und das fröhliche Geklingel der Pferde zu hören glauben und der Dampf ihrer Nüstern zwischen den dichtgedrängten Baumstämmen zu stehen scheint.
Mehr und mehr legt sich der Hang zurück, der Wald wird lockerer, und immer schärfer bläst ein kühler Westwind. An den Hütten des Petit Mology und von Vuipay vorbei, deren Dächer sich tief unter der Schneelast ducken, spuren wir hinüber. zum breiten Sattel von Belle-Chaux. Steil schwingen sich zur Linken die Hänge zum Teysachaux hinauf, und makellos schimmern im Süden die vom Wind blankgescheuerten Schneeschilder an der Dent de Lys, hoch über den verwetterten Fichten. Von den windausgesetzten Flanken, über die unser Aufstieg nordwärts führt, ist der Schnee längst in die Mulden im Tal von Gruyères getragen worden, so dass die steifen Halme des braun-gedörrten Grases bloßstehen und leise rascheln. Wir schultern daher unsere Ski und steigen zu Fuss über den steinhart gefrorenen Boden. Mit jedem Schritt weitet sich die Sicht zu den leuchtenden Bergen und ins Mittelland, über dem die Nebel wogen und am Wall der Voralpen emporbranden.
Gratscharte zwischen Teysachaux und Moléson! Der Wind springt uns plötzlich mit Macht an. Wie fährt er in die Haare, wie rüttelt er in den Kleidern! Wir packen unsere Stöcke fester und freuen uns über diese Begrüssung auf einsamer Höhe.
Eine gute Stunde dauert der Übergang über den stellenweise verwächteten Grat. Oft finden die Ski kaum Platz auf der scharfen Schneide, von der links und rechts jähe Hänge in die Tiefe stürzen, um erst bei den verschneiten Alphütten über dem Wald sanfter auszulaufen. Wir zwei fühlen uns wie Flieger, die hoch in der klaren Luft ihre Bahn ziehen, unbekümmert um die Erde und ihre Schwere...
Und dann stehen wir auf dem weit vorspringenden Erker dieses prächtigen Aussichtsberges, des Moléson, und blicken weit hinaus in das Land, das mit seinen Nebelschwaden, seinen Wäldern und schneebedeckten Wiesen zu unseren Füssen liegt. Was bedeutet all das betriebsame Leben der Neujahrsnacht in der Stadt gegenüber dieser Viertelstunde auf windzerzauster Höhe! Lange Schneefahnen stehen in der Luft hinter dem Grat. Eisnadeln heften MOLÉSON m sich an die Stangen des Gipfelsignals. Wir zwei Menschen sind allein mit den Elementen, ziehen die Kappe tief über die Ohren und lassen uns nach Herzenslust durchblasen. Ein fröhlicher Jauchzer fliegt hinaus in den hellen Tag, im Augenblick weggetragen und zerflattert im Wind.
Nicht immer gemütlich ist die Abfahrt über die steilen Hänge der Alp Tremettaz-Dessus nach Mormotey. Denn der Schnee liegt ungleichmässig, bald beinhart, bald tief und pulvrig, und unsere Knöchel sind diesen Winter an solche Beanspruchung noch nicht gewöhnt. Und doch ist es ein begeisterndes Vergnügen, die Spur in die sonnbeschienene, unberührte Landschaft zu legen, zwischen Felsbändern und vom Wetter verkrüppelten Bäumen ab-wärtszuschwingen. Dann wandern wir über Berg und Tal südwärts zurück zu unserem Ausgangspunkt; durch Wälder, in denen wir sausende Schussfahrten auf eisbelegten Holzhauerwegen erleben, über Wiesen, auf denen die rauschenden Schneefahnen hinter unseren Ski aufstehen. Nur zu bald, mit geröteten Wangen und fliegenden Pulsen, sind wir wieder in Paccots.
Zum Abschluss bringt uns der Skilift noch einmal in die Höhe von Corbetta. Diesmal mischen wir uns unter die letzten Skifahrer, die zur Piste hinüber streben. Auch diese letzte Fahrt über die eisige, glattgescheuerte Heerstrasse des Skivolkes, hinunter in das dämmerige Tal, hat ihren Reiz. Niemals aber vermag sie sich mit unserm heutigen Erlebnis an jenem Berg zu messen, dessen Silhouette im verglühenden Abendlicht am Osthimmel steht!
Mit Hunderten von Skileuten trägt uns ein Extragzug wieder hinab in den Trubel der Stadt und der Welt. Alle Augen leuchten, alle Menschen lachen und sind guter Dinge. Wir zwei Wanderer sitzen müde an unsere Bretter gelehnt in einer Ecke des raucherfüllten Abteils, und nur wie aus weiter Ferne dringen die vielen Stimmen an unser Ohr. Unversehens fallen die Lider zu, hinter denen in Gedanken noch einmal alle d e Stunden in den verschneiten Wäldern und auf den windausgesetzten Höhen vorüberziehen.