Neujahr in einem Walliser Bergdorf
Von Stalden an folgten wir dem Geleise der Visp-Zermatt-Bahn. Das Wetter hatte sich zusehends gebessert, und als wir in Kalpetran anlangten, lachte der schönste Frühlingshimmel. Wir kamen uns mit unsern Schneeschuhen recht sonderbar vor. Das Tal sah nicht viel anders aus als im Sommer, nur dass das stolze Brunegghorn einen etwas längern Schneemantel angezogen hatte.
Nun kam das steilste Wegstück. Ein Saumpfad führt auf schwanker Brücke über die in tiefer Schlucht tobende Visp und nachher in ungezählten Windungen den schattigen Steilhang der rechten Talseite hinauf. Rucksack und Ski fangen zu drücken an. Und auch auf die Seele legt sich ein Druck, nämlich die trostlose Tatsache, dass sich immer noch kein Schnee zeigen will. Die Talseite gegenüber ist fast bis zur Kammhöhe hinauf aper. Unsere Erwartungen werden mit jedem Schritt aufwärts bescheidener, und schliesslich klammern wir uns an die letzte Möglichkeit: von Grächen aus könne man am Ende auch Kletterfahrten ausführen.
In dieser wenig hoffnungsfreudigen Stimmung hatten wir unvermerkt den obersten « grossen Kehr » hinter uns gebracht; der Wald hörte auf, und unversehens standen wir in einer wirklichen Schneelandschaft.
« Ha-n-i's nid geng gseit! » behauptete jeder, und unsere Hoffnung wurde wieder zuversichtlicher. Der Schnee setzte gleich mit einem halben Meter Höhe ein, war allerdings steinhart gefroren, so dass wir bequem darüber spazieren konnten. Aber es war doch endlich Schnee!
So wanderten wir denn fröhlich in das verschneite Bergdorf ein und erfuhren auch bald, dass wir die einzigen « Kurgäste » sein werden. Unser Quartier bestand aus einer ganzen, gut eingerichteten Wohnung in einem neuen Hause; es standen drei Zimmer und eine grosse Wohnküche zu unserer Verfügung, alles sauber und freundlich eingerichtet.
Am Silvesterabend sassen wir in wohliger Stimmung in der warmen, geräumigen Küche um den runden Tisch. Dem warmen Tag war eine kalte, sternklare Nacht gefolgt. Wir lasen aus Rudolf von Tavels neuem Buch « Ds verlorne Lied ».
« Horch! Ein Lied, ein ganzer Chor! » — Wir treten auf die Laube.Vor der Tür des Nachbarhauses steht ein Trupp Männer und singt ein Lied mit merkwürdiger, alter Melodie. Nach einigen Strophen ziehen die dunkeln Gestalten im Gänsemarsch durch das schmale Weglein im Schnee zum nächsten Haus; hier wird der Gesang wiederholt. Jetzt bewegt sich der Zug nach unserer Haustüre.Voran schwankt eine Laterne; ihr Schein hüpft auf dem Schnee hin und her, und die schreitenden Gestalten werfen lange, gaukelnde Schatten über den Hang hinunter. Im Halbkreis stellen sich die Sänger vor dem Hause auf. Der Vorsänger gibt den Ton, und mit rauhen Kehlen, aber guter Reinheit singen sie das seltsame alte Neujahrslied:
Alle Jahr und Lebenszeiten,Euer Leib zu Staub muss werden, Monat, Wochen, Tag und Stund,Unser Leben eilt zum Grab; Soll uns Menschen dahin leiten,Keiner ist auf ganzer Erde, Bis man zu dem Höchsten kommt.Dem der Tod nicht bricht den Stab.
Und ein zweites:
Auf, wachet doch auf! Es schwindet die Nacht. Und höret es klingen So lieblich, fürwahr: Und lasset uns singen Ein fröhlich Neujahr.
Tiefer Ernst liegt auf den wetterharten, bärtigen Gesichtern. Und kaum sind die Lieder verklungen, so strecken sie uns die Hände zum Neujahrswunsch entgegen. Dann tritt einer zur Haustüre, und mit hochgehaltener Laterne schreibt er mit Kreide auf die obere Türfüllung:
A. 1926 G.
Das heisst: « Anno 1926 Glück ». Dann ziehen sie fort. Vor jedem Haus wiederholen sie den Gesang. Noch spät in der Nacht hört man aus der Ferne die schlichte Melodie. Wir ziehen uns in unsere warme Wohnküche zurück, jeder innerlich bewegt von der Wirkung des schönen Brauches.
Wie einfach und würdig wird doch hier oben Silvester gefeiert! So ganz anders als in der lärmenden Stadt. Hier: in diesem winterlichen, weltabgelegenen Dörfchen, umgeben von himmelanstürmenden Bergen, das uralte Lied, andächtig gesungen von genügsamen, zufriedenen Berglern; dort: Nachtbetrieb und Mummenschanz, lärmende Jugend auf allen Gassen und Alkoholdunst aus jeder Spelunke. Zwei Welten, zwei Lebensanschauungen!
Solche Gedanken beschäftigten uns, als wir zur Ruhe gingen. Bald darauf verkündeten die Glocken der nahen Kirche das neue Jahr; feierlich schwangen sich die Töne in die kalte Winternacht.
Neujahrsmorgen! Was glänzt und gleisst durch die gefrorenen Fensterscheiben? Ich öffne rasch ein Fenster und klemme geblendet das Auge vor der Pracht der Höhen. Zwar steht das Dorf noch im Schatten, aber Weiss- horn, Brunegghorn und Bieshorn erglänzen in der ersten Neujahrssonne, stolz und unnahbar.
Es wird ein herrlicher Tag werden. Schnell ist gefrühstückt, und dann hinaus in den kalten Morgen. Der Beschaffenheit des Schnees Rechnung tragend, lassen wir die Ski zu Hause und wandern durch den schmalen Pfad südwärts durch Wälder, Weiden und Bergsturzgebiete dem Hang entlang nach Gasenried, einem kleinen Dörfchen an steilem Hang. Fünfhundert Meter tiefer sieht man den Flecken St. Nikiaus in der schneefreien Talsohle. Wir steigen an der schmucken Kapelle vorbei in die Höhe, und nun liegt der Riedgletscher in seiner ganzen, winterlichen Pracht vor uns, zum Greifen nahe. Er ist eingedämmt auf der einen Seite durch den Nadelgrat mit seinen treppenartig aufsteigenden Zacken und Spitzen bis hinauf zum Nadelhorn, auf der andern Seite durch die schroffen Felswände des Ferrich- und Bigerhorns.
Die Sonne hat den harten Schnee aufgeweicht, und mühsam stapfen wir bergan. Auf einem schneefreien Felsblock lassen wir uns ein Stündchen von der Mittagssonne durchwärmen, dann kehren wir längs einer Wasserleitung nach Grächen zurück.
Nun liegt auch das Dorf in der Sonne. Das Hochamt ist vorbei, und die Bewohner stehen in Gruppen auf dem Dorfplatz. Es ist eine Freude, diese bärtigen Kraftgestalten zu betrachten: nur schade, dass man ihre Mundart nicht besser versteht, wenn sie unter sich reden.
Am Nachmittag türmen sich im Süden grosse Wolken auf und verdecken zeitweise den Blick auf die Weisshorngruppe. Ihre Schatten eilen den Hang von Niedergrächen herauf und huschen über das Dorf. Vor unsern Fenstern liegt eine malerische Gruppe von Stadeln und Ställen im Gegenlicht. Seht, wie die Sonne ihre Schneedächer versilbert und wie ihre langen Schatten den Hang hinabkriechen! Und darüber die schwere, dunkle Wolke mit dem hellen Saum. Wahrhaftig, ein Bild zum MalenJetzt gleitet ein Schatten darüber, und der ganze Zauber ist verschwunden; eintönig und ausdruckslos liegen die Hütten im Schnee. Doch neue Sonnenflecken eilen den Berg herauf, und wir machen uns bereit, die Stadeln im Gegenlicht auf die photographische Platte zu bannen. Knips, schon ist 's geschehen, und schwarz auf weiss kann man das Bild nach Hause tragen.
Der Abend kommt. Wir wandern durch das Dorf. « Guete-n-Abe gwünscht! » grüssen die Leute. In der engen Dorfgasse ist zwischen Buben und Mädchen eine hitzige Schneeballschlacht entbrannt. Die winkligen Seitengässchen und vielen Stadeln bilden gute Deckung und Schlupf für listige Überfälle.
Die Sonne sinkt tiefer; die Talseite gegenüber liegt bereits im Schatten; kalt und trotzig blickt das Weisshorn hernieder. Aus dem Tale herauf steigen weisse Nebelschwaden und geben der Silhouette der Kirche, an der wir eben vorbeigehen, einen wirksamen Hintergrund. Bald greift der Schatten über das Dorf hinauf und wischt den Sonnenglanz von den Hausdächern. Langsam aber rastlos kriecht er den waldigen Hang hinan, und bald leuchten nur noch die Felszacken des Gabelhorns in den Strahlen der scheidenden Sonne. Wie anders sieht jetzt die ganze Landschaft aus! Ein kaltes Violett tragen Hang und Hütte; jedes Relief ist verschwunden, alles ist tot und stumm, nur aus den Hütten quirlen blaue Räuchlein. Jenseits des Rhonetales aber lohen noch die höchsten Spitzen der Berneralpen, und der weisse Faltenmantel des stolzen Bietschhorns prangt in letzter Abendglut.
Ein Neujahrstag in herrlicher Bergluft und Höhensonne, ein Tag voll schöner, bleibender Eindrücke ist vorbei.
Der 2. Januar zeigte ein anderes Gesicht; er brachte uns den ersehnten Neuschnee. Am Mittag fing es an mit kleinen, weissen Flämmchen, verdichtete sich bald zu starkem Flockengewirbel, das bis weit in die Nacht andauerte. Am Morgen schimmerte der neue Pulverschnee auf Weg und Steg, und damit unsere Freude ungetrübt sei, hatte sich auch das Wetter wieder gebessert. Ein blauer Himmel wölbte sich über dem weiten Wallis. Kann man sich eine bessere Skiföhre wünschen: Einen halben Meter hartgefrorenen, alten Schnee und darauf schuhtiefen Pulverschnee! Heissa, die beglückenden Skitage sind gekommen!
Fürs erste zur Hannigalp, einer Weide auf 2100 Meter Höhe. Der Weg führt schrägan durch grossen Arven- und Lärchenwald. Oberhalb des Dorfes spiegelt sich im Sommer das Weisshorn in einem kleinen, blauen Moränensee; heute schläft er unter einer weichen Schneedecke. Jedes Kreuzlein am Wege trägt eine dicke Schneekappe, und die jungen Waldbäume sind kleines Märchen-volk. « Hoiho! » tönt es den Hohlweg herunter. Kaum können wir ausweichen, und schon sausen einige Holzschlittler mit mächtigen Ladungen an uns vorbei zu Tal. Meisterhaft lenken sie den schweren Schlitten durch die Windungen des Weges. Wie Urmenschen sind diese kräftigen Gestalten mit den langen, rauhreifverbrämten Barten.
Der Schnee wird immer tiefer, und der gut gebahnte Schlittweg hört schliesslich auf. Doch mühelos tragen uns die Seehundsfelle aufwärts. Der Wald öffnet sich, und vor uns breitet sich ein grosser, sanft geneigter Schneehang aus, die Hannigalp. Schon sehen wir die kleine Kapelle mit dem dunkeln Kreuzlein, dahinter zwei Hütten, alles in tiefem Schnee. Keine Wegspur führt dazu. Ein Bild der Einsamkeit und Verlassenheit.
Durch lichten Arvenwald steigen wir noch weiter hinan zur kleinen Furgge bis auf 2400 Meter. Eine praktvolle Rundsicht: Im Norden die frisch verschneiten Berner vom Wildhorn bis zur Grimsel, in der Tiefe Visp und Stalden und auf den sonnigen Talhängen die dunkeln, eng beisammen-stehenden Hüttchen von Törbel und Visperterminen. Rechts von uns zieht die tiefe Furche des Saastales bis zum Monte Moro, und darüber glänzen die weissen Firnen der Weissmiesgruppe in der Mittagssonne. Aber am eindruckvollsten ist doch der wuchtige Aufbau der Bergkette westlich von uns. Mit sanfter Kammlinie fängt sie beim Augstbordhorn an, biegt etwas westlich zum Schwarzhorn ab, das aber heute ein weisses Kleid trägt, erhebt sich in unzähligen Zacken und Spitzen immer höher und höher bis zu den Wänden der Barrhörner, um schliesslich mit beispiellos kühnem Schwung sich aufzubäumen zu dem alles beherrschenden Weisshorn. Selbst das stolze Brunegghorn ist bescheiden geworden und duckt sich vor seinem gewaltigen Nachbar, Worte sind zu armselig, diese winterliche Pracht des Hochgebirges zu schildern; aber empfinden kann sie der, dessen Auge noch offen ist für solche Schönheit. Allerdings der Philister hinter dem Biertisch, der Parteibüffel und politische Streber, der wird sie nie empfinden; was weiss der von unsern Freuden und Erlebnissen, von Wintersonne und Höhenluft!
Nun rüsten wir uns zur Abfahrt. Schon zieht der Erste scharfe Kurven zwischen den knorrigen Stämmen des lichten Arvenwaldes. Hei, wie das stiebt! Wir folgen nach; die Körper gleiten hin und her, weichen hier einem Felsblock aus, ziehen dort einen Bogen um einen Baum. Jeder fährt nach Temperament und Skitechnik. Die beiden Ledigen unverantwortlich kühn und rassig, die zwei Familienväter vorsichtig und abwägend. Zuletzt eine sausende Schussfahrt, und schon sind wir wieder bei der Hannigalpkapelle. Hier gönnen wir uns einen kurzen Atemhalt, dann hurtig hinab in den Wald. Im untern Teil, wo der Weg benützt werden muss, wird die Fahrt etwas heikel, da die Bahn durch die Schüttler tief ausgefurcht ist. Unser väterlicher Leiter findet es für angezeigt, sich wieder seinen restlos zuverlässigen Gummisohlen anzuvertrauen. Unten am Waldrand biegen wir rechts ab und gleiten in schönem Auslauf zur Eggenkapelle, von wo aus das Dorf in zehn Minuten erreicht ist.
Nur zu schnell eilten die paar schönen Ferientage vorüber. Vom Morgen bis am Abend durchstreiften wir die Gegend und stöberten manch schönen Hang und listigen Sprunghügel auf. In fröhlichen Abendsitzen bei Hackbrett und Handorgel schlossen wir mit den Dorfbewohnern gute Freundschaft; unser Jüngster gab den Dorfschönen sogar Unterricht in Telemark und Christiania.
Beinahe wurde uns der Abschied schwer, als uns die Arbeit wieder nach Bern rief.
Wolkenloser Himmel strahlt über dem Weisshorn. Wir fahren über Niedergrächen nach St. Nikiaus zu Tal. Noch einmal wandert unser Blick hinauf zur Weisshorngruppe. Seht, die Hochgipfel haben heute beflaggt! Ein scharfer Nordwest lässt lange Schneefahnen von allen Graten in den blauen Himmel flattern.
Lebt wohl! Wir kommen wieder.Otto Stettler.