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Oktobertage im Rätikon

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Von G. Thomann. Die 3 Türme.

Es ist kein weiter Weg von Tschagguns durch das Gauertal hinauf zur Lindauerhütte 1764 m. In drei Stunden lässt er sich leicht bewältigen. Heiss brannte die Sonne, doch immerhin Ende Oktober; wer weiss, vielleicht gab es Schnee, schon morgen; wir mussten damit rechnen.

Um uns die drei Türme näher zu besehen, kletterten wir auf den Sporerturm. Die Aussicht von da oben lohnt unbedingt diese kleine Anstrengung. Über Schutthalten gelangt man unterhalb der steilen Wände auf den Nordostgrat und über eine kleine Nase in die Nordflanke. Der Aufstieg gestaltet sich heikel. Die schneebedeckten vereisten Griffe verlangen viel Sorgfalt. Doch schliesslich landen wir auf der Spitze, schön in der Sonne. Nun stehen wir wie auf einer Kanzel unmittelbar gegenüber der senkrechten Wand des zweiten und dritten Turmes; und der erste, wie ein riesiger abgesprengter Block, steil überhängend gegen das Tal zu, lässt uns alle Einzelheiten seiner Westwand studieren.

Bald stehen wir nach diesem Abstecher wieder unten bei unsern Säcken und gelangen rasch auf ein weites, steiles Schneefeld, das sich, nur von einem Felsband durchzogen, bis auf den Grat zwischen erstem und zweitem Turm hinzieht. In mühsamer Schneestampferei gelangen wir schliesslich in den Sattel unterhalb des zweiten, und weiter, links haltend, gleich in die Felsen des ersten Turmes. Hier bleibt unser Gepäck. Rasch die Schuhe gewechselt, angeseilt und los. Einen kleinen Kamin hinauf in die Scharte zwischen zwei Grataufsätzen. In luftiger Kletterei hinter dem zweiten durch. Und nun stehen wir in der tiefen Scharte, gerade unterhalb des steilen Aufstieges. In praller Mittagssonne turnen wir dem Grate nach empor. Die scharfen Ecken und Kanten des Kalkgesteins liefern ausgezeichneten Halt für die Kletterschuhe. In kurzer Zeit stehen wir auf dem fast ebenso hohen Vorgipfel. Noch über einen schmalen Grat, und wir haben es geschafft, 2759 m.

Ein prachtvoller Ausblick. Nun verstehen wir, warum diese Fahrt so überaus beliebt ist. Eine einzigartige Rundschau. Kein Leben weit und breit. Nur eine einsame Bergdohle kreist weit unten den Wänden nach. Wohlig strecken wir uns auf den Felsen und gemessen die Ruhe; doch die Sonne mahnt zum Gehen.

Den Abstieg beschlossen wir an der teilweise vereisten Westwand zu versuchen. Durch eine Lücke gelangten wir leicht auf die beinahe schneefreie Blodigplatte, wo wir noch guten Halt fanden. Durch eine glatte Rinne hinunter auf eine geräumiges, hartgefrorenes Schneefeld! Mühsam gruben wir mit unsern Kletterschuhen kleine Stufen und tasteten vorsichtig der glatten Wand nach hinunter. Einen Moment bewunderten wir die leuchtende Spitze der Zimba mit ihren elegant geschwungenen Gräten am Horizont. Steil abfallender Fels am Rande des Schneefeldes. Ein fester Eisenhaken bietet eine Möglichkeit zum Abseilen. Doch wir überquerten das Feld und stiegen in einen engen Felskamin, der uns schliesslich unterhalb der Steilwand auf ein schmales Geröllband brachte. Leicht gelangten wir zu unsern Schuhen.

Die Höhen des zweiten und dritten Turmes bieten keine Schwierigkeiten, und da uns die Zeit reichte, beschlossen wir, auch sie rasch zu besuchen. Dann interessierte uns auch der Blick gegen die Drusenfluh, die uns der dritte Turm vorhin verborgen hatte. Über Schnee und kurze Schutthalden gelangten wir bald auf die erste Grathöhe und im Laufschritt zum Steinmann des zweiten Turmes, 2800 m. Lachend blickten wir hinüber auf den dunklen Klotz des ersten, der sich scharf aus dem hellen Schneefeld erhebt. Die trotzig zum Tal über geneigte Wand, wie mit dem Messer geschnitten ragt sie auf, direkt vor der Sulzfluh.

Über den Grat zurück steigen wir durch ein neues Schneefeld auf die runde Kuppe des dritten und höchsten der Türme, 2828 m. Langsam wächst hinter der Gipfelkante der furchtbar zerrissene Ostgrat der Drusenfluh aus der Tiefe. Eine kalte Bise hatte sich erhoben, und nicht lange hielten wir es aus beim kleinen Steinmann. Rings glänzten die weissen Gipfel bis in weite Fernen, doch nun schon mit tiefen Abendschatten.

Sulzfluh durch die Südostwand.

Es hatte geschneit über Nacht, nicht viel, aber genug, um alles einzudecken. Wir beschlossen, dennoch die Sulzfluh zu besuchen, und zwar über die Südostwand, auf dem Wege Stockars. Und wir hegten im stillen die Hoffnung, bis Mittag die Südwände wieder sauber und trocken zu finden.

Der Weg zum Drusentor führte uns vorerst bis unterhalb des ersten Turms. Dann aber zweigten wir nach links in eine verschneite, gegen den engen Pass ansteigende Mulde. Schon von weitem erkennen wir den schmalen Steig, eingeschnitten im scharfen Kamm. Beinah an der tiefsten Stelle zwängten wir uns durch. Steil stürzt vom Turm der Grat hinunter, in fantastischen Sprüngen, zähneweisend, und setzt sich nach links hinauf fort zur Sulzfluh.

Die Sonne hatte ihr Werk bereits begonnen, als wir die Höhen überschritten. Die weiten Geröllhalden, die den Südfuss der ganzen Kette von den Steilwänden bis weit hinunter in die Alpenweiden bilden, traten bereits unter ihrer weissen Decke wieder hervor. Nach kurzem Abstieg folgten wir einer Gemsspur nach Osten. Quer durch die Steinfelder führte sie uns unterhalb der ungeheuren Wand entlang. Ein vorspringender Rücken am Weg bot den richtigen Aussichtspunkt, um sie in ihrer ganzen Ausdehnung zu erkennen: von den Kirchlispitzen her über Drusenfluh, Türme und Sulzfluh schliesst sie als eine 400 m hohe Mauer das Tal ab. Nur an zwei Stellen unterbrochen: Schweizertor und Drusentor.

Hinter dem Rücken empfing uns ein neues langes Schuttfeld. Mühsam arbeiteten wir uns auch hier durch und studierten eifrig den Fels über uns. Der Einstieg ist nicht ganz klar zu finden bei P. 2426. Ein dunkler Kamin führt am Ende einer Rippe ein Stück hinauf und endet in Geröllbändern. Weit oben schimmerten die schwarzen, glatten Gipfelwände; dort hinauf galt es. Der Gipfel selber liess sich nicht erkennen. Wir stiegen in einer schwach ausgeprägten Rinne senkrecht empor. Gemsspuren wiesen den Weg. Immer wieder wunderten wir uns, dass die Grattiere bis da hinauf gelangen, und wir hatten es bald heraus, dass wir am besten ihren Zeichen folgten. Der Fels ist brüchig, jeder Tritt voll Schutt. Hin und wieder fielen Steine. Immer stolzer erhoben sich Madrisa, Madrishorn und uns gegenüber die Scheienfluh.

Die Höhe war erklommen, wir standen nun unmittelbar unterhalb des Gipfels; doch über uns drohten glatte Wände. Es tropfte, kleine Steine fuhren von oben, Eisstücke... Nach Westen öffnete sich nun ein breites Geröllband horizontal unter der Wand hin. Auf diesem « Strässli » überquerten wir die Südflanke in halber Höhe, bis sich weiter vorn ein Aufstieg bot. Doch nun hiess es aufpassen! Oft brachen kleine Schuttlawinen unter unsern vorsichtigen Tritten los, und tief unten hörten wir sie aufschlagen. Nur langsam kamen wir voran. Und immer noch folgten wir den Gemsspuren, unsern Wegweisern.

Die Wand nimmt ein Ende, eine weite Schuttrinne öffnet sich und führt hinan bis auf den Grat. Bald standen auch wir da oben und wateten das letzte Stück in tiefem Schnee zum Gipfel hinüber. Prachtvoll leuchteten die verschneiten Spitzen ringsum. Verschwunden die Felsen; Schnee und Eis, so weit das Auge reichte. Nichts zerreisst die unberührte Stille. Der Gegensatz ist so stark: die Kletterei in der durchsonnten Wand und jetzt die Schau in eine ruhige Winterlandschaft. Doch wir mussten von hinnen.

Der kleine Gletscher war nicht zu erkennen; tief unter Neuschnee lag er begraben. Mühsam arbeiteten wir uns durch bis zum Rande des Rachens. Immer steiler wurde die breite Rinne, und plötzlich standen wir auf Eis, Harsch. In sausender Fahrt dem Tale zu. Ein letzter Ausblick über die Felsen. Drüben, schon im Schatten, sahen wir den wohlbekannten Talkessel mit dem tiefen, alten Föhrenwald, und wenig weiter oben die Hütte. Kein Leben; blau schlafendes Land. Und darüber, schon wieder in stolzer Höhe, wachen die Türme.

Drusenfluh durch das Verborgene Kar.

An einem strahlend kalten Morgen brachen wir auf. Wieder war Schnee gefallen, und das ganze Tal leuchtete in blau und weiss. Bald zweigten wir vom Wege ab und stiegen durch die unbetretenen Hänge zum Gletscherbruch des Eistobeis empor. Hierher dringt die Sonne nur wenige Stunden im Tag. Eine beissende Kälte empfing uns; Windstösse jagten den Schnee in hellen Wolken von Gräten und Kämmen. Wir hüllten uns fester ein und stapften langsam dem Eisbruche zu.

Erst jetzt fiel uns der grosse Reichtum an Wild so richtig auf. Wir hatten vorher schon Rehe und Gemsen erblickt. Nun trafen wir bei jedem Schritt auf Wildspuren, und die grosse Zahl sich jagender und kreuzender Fährten liess uns die interessantesten Verfolgungen ersinnen.

Gleich unterhalb des Bruches verliessen wir das Eis. Über Felsplatten und Schneebänder kamen wir mühsam in eine Rinne, die eher das Bild eines Bachbettes bot. Im Sommer mag es eine angenehme Kletterei sein. Jetzt aber liessen sich Griffe und Tritte nur ahnen, und längst waren die Hände vom ewigen Schneewischen steif und unbeweglich. Oft standen wir still, die Fäuste in den Hosen vergraben, und schauten sehnsüchtig nach den sonnebeschienenen Felsen weiter oben; doch immer höher krochen die Schatten. Vielleicht gelang es noch, sie zu erwischen zu kurzer Rast; in einer Stunde musste die ganze Flanke schon im Schatten liegen. Wieder verschloss eine kleine Wand die Rinne. Das Bachbett war gut sichtbar, ein schöner Wasserfall muss hier einst geplätschert haben. Rasch hinüber, und weiter oben erhaschten wir noch eine Viertelstunde Mittagsonne. Wir wärmten uns und wollten essen, doch meiner kalten Hand entwischte die Büchse Sardinen, und schätternd hüpfte sie über die Felsen hinunter, und beinahe wäre das Brot gefolgt.

Hier öffnet sich das ganze Geheimnis des verborgenen Kars. Eine weite, steile Schneehalde, rings von steilen Wänden umgeben. Nur eine kleine Wand trennt uns davon; und darüber, weit oben, der schwarze Gipfelbau mit dem Steinmann. Deutlich erkennt man die wilden Zacken des Ostgrates, ein hohes Felsmassiv verbirgt uns sein unteres Ende. Weit unten im blauen Schatten unsere Spuren im Eistobel, und über dem Gletscherbruch steigen steil die Wände zum dritten Turm empor. Nun verstehen wir den Namen: Verborgenes Kar. Man erblickt es erst, wenn man es betritt.

Rasch kamen wir über die steilen Platten hinweg und stapften im Schnee. Die Halde war bedeutend steiler, als wir von unten geglaubt, und oft sanken wir bis über die Knie ein. Abwechselnd spurend gewannen wir langsam an Höhe. Das ganze Feld ist ringsum eingeschlossen, und steile Wände verbergen jeden Fernblick. Prachtvoll leuchteten die gelben und roten Felsen des Gelben Eck, und ziemlich in der Richtung des Gipfels zeigte sich jetzt eine dunkle Höhle weit oben. Noch mehr links wieder rotes Gestein und ein dunkler Kamin, der aber erst in halber Höhe beginnt. Dort schien es uns möglich, die Wand zu zwingen, wenn es gelang, bis zu jener Stelle vorzudringen.

Wenig weiter oben stiegen wir mit Steigeisen in den vereisten Fels. Mein Freund verschwand hinter einem Vorsprung, man hörte nur mehr das harte Anschlagen des Pickels: doch bald kam er zurück. « So geht es nicht gut! » Wir griffen zu den Kletterschuhen und schlichen auf schmalem Bande wie Katzen quer durch die Platten hinüber zum untern Ende des roten Kamins. Rundes, ausgewaschenes Gestein, alles voll Schnee und Eis. Im Sommer muss hier wohl ein Wasser fliessen.

Die Hauptarbeit war getan, als wir den sehr anstrengenden Kamin unter uns hatten. Nach kurzer Zeit standen wir auf dem Ostgrat. Noch trennten uns zwei Grattürme vom Steinmann. Wir umgingen beide und betraten bald den Gipfel. Es war schon spät am Nachmittag.

5 Uhr, noch eine Stunde Tag. Wir suchten den Abstieg. Durch eine steile Rinne in der Südwand kamen wir auf einen tieferen Vorgipfel. Weit unten liegt der Westgrat, den wir zum Rückweg benützen wollten. Irgendwo führt ein Band durch die Südwand hinunter, doch wo? Wir versuchten eine Rinne nach der andern, doch stets kehrten wir hoffnungslos zurück. Tiefer sank die Sonne, und noch immer standen wir da oben.

Endlich fanden wir zwischen zwei riesigen Köpfen hinunter, und nun öffnete sich ein schmales Geröllband zum Grat hinüber. Die Sonne näherte sich beängstigend dem Horizonte. Eine wilde Jagd begann. Wir verliessen den Grat bei P. 2633 und folgten einer alten, verwehten Spur quer durch tiefe Schneefelder nach Norden. Ein steiles Felsband, ein paar grosse Blöcke. Weiter, hinunter.

Nun standen wir unten im Imhofsattel. Die Sonne war verschwunden. Ein gelbroter Vollmond stieg hinter dem Gipfel empor. Undeutlich weit unten der Einschnitt des Öfenpasses. Wir gerieten in eine Rinne, die gerade hinunter führt, dann aber in einem Felsband ausläuft. Die Spur war längst verloren. Der Mond verschwand hinter der Bergkante. Wir kletterten im Dunkeln ins Ungewisse hinab, suchend, tastend, uns nur zögernd dem schwarzen Fels anvertrauend. Und nicht weit unter uns winkte ein Schneefeld. Nun war das harte Spiel gewonnen.

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