Ostertage im Gauli
Von Willy van Laer.
Karfreitag — Mittagsglut im Urbachboden. Acht Gesellen schultern ächzend gewichtige Rucksäcke und schnallen die fellbespannten Bretter an die Füsse. Ein Pferdeschlitten hat die Lasten von Innertkirchen hier heraufgeführt. Nun ist die leichtbeschwingte Herrlichkeit zu Ende; wir müssen selbst die Lastesel spielen.
Ist's nicht, als ob die Trutzgestalten der Engelhörner mit Hohn auf die Menschlein herniederschauen, die sich erdreisten, zu Winterszeit ins Gauli zu wandern? In eine Mäusefalle, wie man uns im Tal versichert hat?
Getrost erklimmen wir in Kehren den östlichen Talhang. Der Schnee hält, trotz der Wärme; in vielen Runsen ist die Hauptmenge längst abgerutscht. Eine Gemsspur führt uns ein gut Stück Weges über manchen Lawinenkegel, der Halde entlang. Schon ist die Sonne für uns hinter die schwarzen Zacken des Teilengrates gesunken, als wir Schrättern erreichen. Nur hoch oben, wo die letzten Wildheuplätzchen in zerklüfteten Fels übergehen, liegt noch warmes Abendlicht; dort erspähen wir ein stattliches Rudel äsender Grattiere. Hinter Alp Schrättern verengt sich das Tal. Das Urbachwasser bricht aus einer Schlucht hervor, die im Winter, vom Fallschnee zugeschüttet, gewöhnlich begehbar ist. Wir kommen leider nicht weit. Offene Wasserstellen nötigen uns zur Umkehr; es bleibt uns nur der Weg über die Lawinenhänge des Hochwang, mit denen heute, nach dem sonnenheissen Tag, nicht zu spassen ist.
Langsam und vorsichtig, die Steilstellen meidend, schrauben wir uns in die Höhe. Da stehen wir vor einer Reihe von Felssätzen; der Sommerweg führt treppenartig durch sie empor. Doch jetzt verbirgt er sich unter tiefem Schnee. Wir versuchen da, wir versuchen dort, glatte Platten weisen uns ab. Anseilen — Skis auf den Rücken schnallen — es gilt zu klettern. Endlich, schon fällt die Nacht herein, findet unser erprobter Leiter einen Durchschlupf. Mühsam klimmt er, Griff für Griff freischarrend, von einer Felsstufe zur andern. Die übrigen Seilpartien hintennach, mühselig im Laternenschein. Endloses Warten dazwischen am jähen Hang, auf schmaler Leiste. Klamme Hände, erstarrende Zehen. Rufe hinauf: Geht's? Kommen wir durch? Ja, es geht, aber es braucht Stunden. Um 11 Uhr erreichen die ersten die « Drei Männchen ». Nun haben wir gewonnenes Spiel, denkt ein jeder — aber wir kennen noch nicht alle Tücken des Gauli. Es gilt, einen langen, felsdurchsetzten Hang zu queren, der, unheimlich hart, uns zum Anlegen der Steigeisen nötigt. Zwei Kameraden, ungenügend mit solchen ausgerüstet, wird 's ungemütlich; sie ziehen vor, lieber Tee zu kochen und zu biwakieren, als den Hals zu riskieren.
Bald giesst jedoch der langersehnte Mond silberne Helle über die nächtliche Einöde, und die Zurückgebliebenen werden — der Weg ist jetzt um vieles leichter — raschestens nachgeholt.
Nun noch die Hütte — wo steckt sie? Die Gruppen sind auseinander-gekommen — die einen suchen höher, die andern mehr gletscherwärts. Da steht sie ja, links unten! Über verharstete Lehnen rutschen wir hinab — es ist ein FelsblockDort oben, das Licht? Wir nähern uns, rufen: es sind Kameraden auf der Suche! So gleiten unsere Skier eine gute Weile durchs Labyrinth der tiefverschneiten Kuppen und Rinnen, der Felsköpfe und Schattenlöcher. Trotz der Müdigkeit sind wir guten Mutes und haben unsere Rucksäcke fast vergessen: Bald muss ja der Morgen dämmern — es ist beinahe 4 Uhr!
Aber schliesslich schwingt sich doch eine Laterne freudig durch die Nacht — der Leiter ist am Ziel und sucht nun rührend in die Kreuz und Quere seine verirrten Schäflein zusammenhinter dem letzten Mann betritt er die Gaulihütte, 415 Uhr!
Ein heisser Tee ist rasch gebraut und genossen — und dann stürzt der Schlaf über unsre in mollige Decken gewickelten, müden Körper. Drei Stunden guten Schlafs, das genügt für junge, kräftige Kerls, denkt wohl der Leiter, als er uns nach 8 Uhr aus dem Lager trommelt.
Unser fünf beherzigen die Ermunterung — drei bleiben unerweckbar.
1030 Uhr. Wir schlängeln uns durch steile Schneerinnen die 150 Meter zum Gletscher hinunter, auf welchem wir dann eine gleichmässig steigende Spur anlegen. Fünf Viertelstunden brauchen wir, nur um die Höhe der Hütte wieder zu erreichen. Wolkenlos wölbt sich die Himmelsglocke über die Schale des Gauligletschers. Ein Amphitheater von gleissenden Gipfeln erhebt sich rundum, in der Mitte unser heutiges Ziel, das Ewigschneehorn.
Am Grünbergligletscher trennen wir uns. Der Leiter geht mit einem Seilgefährten den morgigen Anstieg auskundschaften, während wir gipfelwärts streben. Doch sollten wir ihn nicht erreichen. Auf 3000 m angelangt, sehen wir die Bergschatten schon wie bedenklich lange Nasen über den Firn kriechen — immer tiefer —, und da für heute unser Bedürfnis nach Nachtmärschen gestillt ist, entschliessen wir uns zur Umkehr. Weit unten auf dem Gletscher — zwei winzige Pünktlein — gleiten auch unsere Kameraden hüttenwärts.
Erst lavieren wir vorsichtig um einige kleinere Schründe — dann aber gibt 's eine sausende Fahrt in Schwüngen und Schüssen zum Tiefgrund hinunter — und die Gletscherzunge, im Nu erreicht, bietet zum harmonischen Ausklang noch manchem schön gezirkelten Bogen Raum. Recht sauer wird uns allerdings der steile Anstieg zur Hütte. Da haben sorgliche Geister schon ein währschaftes z'Abig bereitgestellt, das allen trefflich mundet. Früh legen wir uns zur Ruh, denn morgen wird ein strenger TagTagwache um 2 Uhr — lautet der Befehl. Doch der Mensch denkt — und Gott lenkt. Um die zweite Morgenstunde wirbeln feine Flocken herunter — mit Sorgenfalten auf der Stirn drehen wir uns aufs andere Ohr. Um 4 Uhr schneit 's nicht mehr, aber rosa Föhnwölkchen treiben mit unschuldiger Miene am Firmament. Warm ist 's vor der Hütte, viel zu warm — und talauswärts schiebt sich unheilverkündend eine düstere Wolkenwand heran.
Wir beschliessen, das Wettrennen aufzunehmen — zu versuchen, nach obenhinaus zu entwischen, gelüstet es doch keinen, bei Föhnlage das Urbachtal zu durchfahren.
Eilig protzen wir auf, erstellen Hüttenordnung und wenden uns, diesmal ohne abzusteigen, direkt der Kammliegg zu. Hoch über uns auf luftigem Grat hüpfen in muntern Sprüngen zwei Gemslein und begleiten uns ein Stück Weges. Westwärts leicht absteigend, gewinnen wir den Gletscher. Noch hat sich das Wetter nicht verschlimmert; das einzig Beunruhigende bilden die Nebelschwaden, die durch die Lücken des westlichen Felsgürtels zuweilen ins Gaulibecken herüberwallen. Ein heisser Anstieg, im obern Teil am Seil, ruft einer ausgiebigen Rast unterhalb der Wetterlimmi. Dann eine letzte Kraftprobe: es gilt, auf 3400 m die Rosenegg zu erreichen. Durch dünnen Nebel brennt die Mittagssonne unbarmherzig hernieder und entfacht im Verein mit der von allen Seiten wirkenden Strahlung eine wahre Backofenglut.
Zweifach erleichtert atmen wir deshalb auf der Passhöhe auf: ein kühlender Lufthauch weht uns entgegen — und der Blick in die Tiefe des Grindelwaldgletschers zeigt uns nicht den befürchteten Stocknebel, sondern mächtig bewegte Wogen, die sich bald hier, bald dort zu erhabenem Durchblick lüften.
Welch eine hehre Gipfelschau! Zur Linken weckt der trutzige Nordgrat des Berglistockes, zur Rechten die Wetterhorngruppe alte Erinnerungen. Jetzt liegt für Augenblicke die Eiskaskade des Grindelwaldfirns sichtbar unter uns — nun löst sich hoch oben aus silbernen Schwaden der grandiose Aufschwung des Andersongrates — im Nu enthüllen sich die dräuenden Wände des Gross Schreckhorns — wahrlich, ein Furcht gebietendes, ein packendes Schauspiel! Schon entschwindet der Steinkoloss wieder — ein lieblicheres Bild öffnet sich: in märchenhafter Ferne die Gipfel des Jungfraugebietes über dem Grindelwald-Fiescherfirn.
Mit den Augen all die Schönheit trinkend, hält wohl jeder von uns im Herzen eine stille Osterandacht. Denn bedeutet es nicht Auferstehung auch für uns, die Mühsal hinter uns gelassen und uns zu dieser Gott- oder Naturverbundenheit — wie jeder will — emporgeschwungen zu haben, dem so innigen Gefühl, das dem wahren Bergsteiger auf hohem Ziel Lohn ist und Kraft spendet zu neuem Kampf?
Die Zeit drängt. Just wird die Firnflanke für unsre Abfahrt sichtig. Mit oder ohne Felle zirkeln wir, nicht ohne etliche Stürze im breiig aufgeweichten Schnee, südwärts die 400 m hinunter, gleiten auf schöner Spur längs der Westflanke des Berglistocks vorbei und erreichen ohne nennenswerte Schwierigkeiten in 250 m Gegensteigung den Lauteraarsattel.
Die Jochhöhe ist vereist und mahnt zur Vorsicht. Wieder öffnet sich uns ein imposanter Tiefblick: nach Südosten winden sich gleich einer ungeheuren Schlange — zwischen den Felsmauern der Lauteraarhörner im Süden und der Gipfelkette des Gauligebietes im Norden — der Lauteraarfirn, der Lauteraargletscher und der Unteraargletscher. Die Nebel sind verschwunden — ein kalter Wind setzt plötzlich ein und lässt uns abwärts streben.
Wir wählen das südliche, schmälere Couloir zum Abstieg, der sich mit Steigeisen und Seilsicherung gut bewerkstelligen lässt. Da unsere Letzten aber recht viel Zeit ( und Worte ) benötigen, schickt der Leiter uns zwei Vordersten voraus, um Suppe zu kochen. Nach ein paar hundert Meter Seilfahrt liegt vor uns ein gutverschneiter, spaltenloser Firn! Wir lösen uns vom Seil und fahren los. Doch — « ...Kaum gedacht, kaum gedacht, Wird der Lust ein End gemacht... » Der Schnee ist ungleichmässig; kleine Harstbretter wechseln mit weichem Flugschnee. Mein Kamerad setzt zu einem Stemmbogen an, Bleibt beim Nachziehen an einer Harstplatte hängen — stürzt — und verstaucht sich das Knie. Der Unfall ist um so fataler und bedauerlicher, als er sich auf 3000 m Höhe und 15 km von der Grimsel, der nächsten bewohnten Stätte, ereignete. Jetzt zeigt sich der Mut und die Energie des rechten Bergmannes: ein Schluck Cognac — Zähne zusammengebissen — und — los! Wir sind dennoch die ersten unterhalb der Lauteraarhütte, wo dem Verunglückten für heute eine letzte Pein wartet: eine steile Schnee- und Felsrinne muss unter Aufbietung seiner ganzen Kraft erklommen werden, 120 m hinauf, 20 m hinunter. Dann ist die Hütte unser.
Rasch folgen inzwischen die Gefährten nach. Unser unermüdlicher Proviantmeister lässt sich 's nicht nehmen, wie immer der erste beim Feuermachen und Schneeschmelzen zu sein, und bald löst eine vortreffliche Bouillon mit Ei bei den müden Mannen eine wahre Begeisterung aus! Dann werden die Säcke noch ganz gehörig ihres essbaren Inhaltes entledigt, dazu Fluten von Tee vertilgt.
Mitten ins Schmausen bringt der Koch die Nachricht: Auf dem Gletscher wird gerufen! Wir vors Haus, rufen wieder. Kein Licht ist sichtbar — doch von zwei verschiedenen Stellen tönt Antwort! Zum Glück sind es nicht Notsignale — wir brauchen nicht auszurücken. Unser Leiter dringt zum Couloir vor und hilft einer Kolonne den mühsamen Aufstieg finden. Es ist die Vorhut einer Innerschweizer Skifahrergruppe, der, von der Dossenhütte kommend, die Steilflanke des Lauteraarjochs gehörig zu schaffen gemacht hat. Nach anderthalb Stunden erst treffen ihre Kameraden ein, und wir, die gerne schlafen möchten, müssen ungewollt einen wenig sympathischen Wortwechsel über Zusammenhalten und Davonlaufen in den Bergen mitanhören, bis wir schliesslich selbst energisch um Ruhe bitten.
Geschlafen hat keiner von uns sonderlich gut in jener Nacht. Während den Verletzten sein Knie plagte, froren die andern oder fieberten mit ihren sonnverbrannten Köpfen.
Am Morgen schneit 's in dichten Flocken. Seile, Steigeisen, Schaufeln, und was sonst wir zur Erleichterung der Säcke bei den Skis und am Gletscher gelassen haben, liegen schon 10 cm unterm Neuschnee. Die Fahrt den Unteraargletscher hinab ist fein. Mit aller Vorsicht bahnt unser Leiter — der Brave ist immer voran, wo 's brenzlig wird — den Weg. Wir Nachfolgenden können mit flotterem Tempo in seiner Spur hinuntergleiten. Zu beiden Seiten lösen sich allmählich die Moränen, dann die frischverzuckerten Hänge aus dem Nebel. Das Schneegestöber lässt nach, da und dort huschen Schneerutsche fast lautlos über das plattige Gefels. Wir hoffen, in mühelosem Langlauf über den Grimselsee eilen zu können; zu unserer Enttäuschung finden wir ihn jedoch fast gänzlich ausgelaufen. Die meterdicke Eisschicht, die ihn bedeckte, hängt in fantastischen Schollen über jedem Felsblock — ein Chaos von Miniaturgletscherchen —, zwischen denen wir uns durchschlängeln.
Unerwartet taucht der Nollen aus dem dampfenden Dunst, die Giganten-mauer der Talsperre ist in ihrer vollen Höhe sichtbar und die kläglichen Reste des alten, ertrunkenen Hospizes. Ein bissiger Wind springt auf, während wir eilig am verharsteten Nollen emporsteigen. 1030 Uhr ist 's, als wir das gastliche Heim des Winterwarts betreten.
Eine Stunde lassen wir 's uns wohl sein. Dann schnallen wir zum letztenmal die Bretter an, die uns so « unverbrüchliche » Treue gewahrt haben, und gleiten in abwechslungsreicher, flüssiger Fahrt talaus. Bald liegen die Steilhalden des Sommerlochs — wir haben sie nicht ohne Misstrauen betreten — hinter uns. Die Strasse, deren Spur wir meist folgen, liegt noch unter tiefen Schneemassen begraben, kaum, dass da und dort die Randsteine hervorgucken.
Oberhalb der grossen Handeckschleife lässt uns ein dumpfes Grollen aufhorchen. Gegenüber, am westlichen Talhang, hat sich hoch oben an den Wänden des Ärlenhorns eine Neuschneelawine gelöst. Gleich tosenden Wassern rauscht sie von einem Fluhsatz zum andern, gleitet dann, sich zerteilend, durch die vielen Steinschlagrinnen hinunter und staut sich in mächtiger Rauchwolke oberhalb des Talgrundes.
Um 1 Uhr sammeln sich die acht Gesellen ( auch unser Unglücksrabe ist tapfer mitgefahren ) vor dem Handeckwerk. Liebenswürdig hat der Oberingenieur angeordnet, dass wir es besichtigen können, den Ort, wo die gesamten zusammengestauten Kräfte der Grimselwasser ihre praktische Auswertung finden: die Verwandlung in elektrische Energie. Wir sehen das untere Ende des gewaltigen Druckleitungsrohres. Von ihm gelangt das vom Gelmersee herniederstürzende Wasser durch die Verteilerrohre auf die Turbinen, welche die zentralen Teile der riesenhaften Generatoren zur sausenden Rotation bringen. Der hier entstehende Strom wird in Transformatoren von ähnlichen Ausmassen hochgespannt, zur Fernleitung an die Verbrauchsstellen im Tiefland.
Dies ganze Werk zu schauen, nötigt uns zur Bewunderung vor der Kühnheit menschlichen Geistes, wennschon wir als Laien Zweck und Mechanismus der Hunderte von Schalthebeln und Registrierapparaten nicht begreifen.
In Meiringen trennen sich unsere Wege. Zwei Kameraden wollen anderntags der Grossen Scheidegg und Grindelwald zusteuern. Wir aber ziehen heimwärts, mit dem freudigen Bewusstsein, wieder einmal Herrliches erlebt zu haben und für viele Tage noch Bergsonne und Bergkraft in uns zu fühlen.