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Piz Scerscen bei Neuschnee

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Mit 2 Bildern ( 28, 29Von Albert Honegger

( Hinwil ZH ) Ein prächtiger Spätsommertag lag über dem Engadin. Wir sassen in den Felsen des Morteratsch-Südwestgrates und ergaben uns der wohligen Wärme der Sonne. An jenem Tag hatten wir Zeit genug zum Faulenzen, und es war schön, den Berg Berg sein zu lassen und die ungewöhnliche Lage unseres « Sperrsitzes » ganz auszukosten. Mit unseren Blicken wanderten wir über Gipfel und Grate und erinnerten uns früherer, glücklicher Fahrten. Während wir am Piz Roseg drüben nur vereinzelte Seilschaften beobachten konnten, sahen wir am weissen Grat des Bernina eine ganze Kette schwarzer Punkte, welche gleich einer Prozession dem Pizzo Bianco zustrebten. Dagegen entdeckten wir in der wilden Nordflanke des Piz Scerscen nicht eine Spur menschlichen Lebens. Immer wieder schauten wir dort Die Alpen - 1953 - Les Alpes1 hinüber. Meine Kameradin wusste um meine Schwäche für den Scerscen, denn schon vor einiger Zeit hatte ich ihr davon erzählt. So kamen wir also einmal mehr auf diesen verlockenden Berg zu sprechen. Wie wir dann eine Stunde später auf dem Gipfel des Piz Morteratsch standen, da wussten wir, dass unsere nächste gemeinsame Fahrt dem Piz Scerscen gelten würde.

Bis zur nächsten Gelegenheit wurde es allerdings September. In der Höhe lag bereits ziemlich Neuschnee. Doch hofften wir, die recht kräftig einsetzende Sonne würde damit nochmals fertig werden. Als wir uns in Pontresina trafen, schien das Wetter noch sicher zu sein. Während des Aufstieges zur Tschiervahütte gefiel mir aber die Sache nicht mehr recht. Immer mehr verlor der Piz Glüschaint von seinem Glanz, und der Chapütschin und die Muongia versteckten sich nach und nach unter der gleichen grauen Kapuze.

Um 1 Uhr morgens hielt ich nach dem Wetter Ausschau. Es herrschte volle Finsternis. Auch um 2 Uhr suchte ich die Sterne vergebens, und um 3 Uhr fiel Schnee. Den folgenden Tag verbrachten wir mit Teetrinken und der Besteigung des Piz d' Aguagliouls. Erfolglos suchten wir das graue Gewölk nach blauen Löchern ab. Die Situation schien hoffnungslos.

Als wir uns an jenem Abend in die Wolldecken wickelten, dachten wir nicht daran, dass wir wenige Stunden später unserem Berge zueilen würden. Da Helga bald heimreisen sollte, hatten wir für den nächsten Tag einen « planmässigen Rückzug Richtung St. Moritz » auf dem Programm. Mit diesem Gedanken schliefen wir ein.

Irgend etwas hatte mich geweckt. Wahrscheinlich war daran die kalte Luft schuld, welche durchs offene Fenster in den Schlafraum strömte. Rasch wollte ich schliessen, aber da traute ich meinen Augen kaum. Am kristallklaren Himmel glitzerten Sterne. Die Wolken waren verschwunden. Die Uhr rückte gegen halb 4. Sollten wir so spät noch aufbrechenWir wussten, dass in der Höhe neuer Schnee lag. Wir wussten aber auch, dass dies für sehr lange Zeit unsere letzte Gelegenheit sein würde für eine Tour auf den Scerscen.

Zuerst folgten wir einer Pfadspur und erreichten dann, über kugeligen Moränenschutt stolpernd, bald den Gletscher. In der Hoffnung, Zeit zu gewinnen und uns ganz auf die Zuverlässigkeit unserer Steigeisen verlassend, erkrampften wir den ersten Eishang in direktem Anstieg. Die auf diese Art gewonnene Zeit verloren wir allerdings wieder im äusserst komplizierten Spaltenlabyrinth unterhalb der Fuorcla da l' Umur. Obwohl wir im Bernina-Führer gelesen hatten, dass der Ostanstieg dieser Fuorcla nicht empfehlenswert sei, wagten wir trotzdem einen Versuch in dieser Richtung. Dabei wurde uns aber zur Gewissheit. dass wir diese Variante niemals mehr wiederholen würden. Der direkte Weg war hier, wie noch mancherorts, nicht der kürzeste Weg gewesen.

Unter normalen Umständen hätte uns der nun folgende Felsgrat bestimmt nicht aufgeregt. Jetzt aber lag Schnee auf Platten und Blöcken und machte uns ziemlich Mühe. Nachdem wir uns tüchtig die Finger kaltgeklettert hatten, erblickten wir endlich über einem grossen Felszacken die Eisnase. Hoch über unsern Köpfen schien sie sich im grauen Blau des Himmels aufzulösen. Als gewaltiger Überhang ragte das Eis der linken Seite ins Leere. An der leicht zurückgelehnten rechten Seite hatte sich der Neuschnee grösstenteils halten können.

Ein wenig zaghaft tat ich die ersten paar Schritte. Mit den ersten Metern überwand ich aber auch die anfänglichen Hemmungen. Weiter oben konnte ich dann ein Bein bis zum Knie verklemmen und so, einigermassen gesichert, meine Gefährtin nachkommen lassen. Etliche Meter folgten wir nun diesem Riss, welcher sich aber immer mehr der überhängenden Nasenkante näherte. Knapp vor der Kante verliessen wir den Riss und brachten anschliessend ein langes Stück ohne Hackerei unter uns. Der gefrorene Schnee bot unseren « Ecken- steinern » festen Halt. Das steilste Stück verblieb uns für den Schluss. Es waren dies die obersten 10 Meter, welche ein schönes Mass Handarbeit erforderten. Während ich oben Griffe und Tritte schnitzte, befand sich Helga am unteren Seilende in einer recht ungemütlichen Lage. Um sich vor dem Eishagel zu schützen, hatte sie sich so gut wie möglich eingemummt und glich nun einem Araber im Sandsturm!

Glücklich dem eisigen Schatten des Steilhanges entronnen, setzten wir uns zu kurzer Rast auf der Nasenspitze in den Schnee. Wie wir dann wieder weiterstiegen, da schien mir, ich versänke bei jedem Schritt ein wenig tiefer im aufgeweichten Neuschnee. Aus der anfänglich wohltuenden Wärme des Sonnenscheins entwickelte sich nach und nach eine mörderische Hitze. Die Schritte zählend stampften wir langsam in monotonem Gleichtakt dem Bergschrund entgegen. Nach einigem Suchen fanden wir ein brückenähnliches Gebilde windgepressten Schnees, über welches wir uns auf den oberen Rand des Schlundes hinaufschieben konnten.

Die steile Abdachung des Gipfelgrates erinnerte in ihrer Farbe stark an Bierflaschen-glas. Bei diesem Anblick hätte man beinahe Durst bekommen können. Aber während des hastigen Aufbruchs am Morgen hatten wir ja nichts Flüssiges einzupacken gehabt. So lutschten wir denn nach altbewährtem Rezept Zwetschgensteine. Auf den schattigen Gipfelfelsen lag Pulverschnee in ungeahnten Mengen. Ganze Ladungen des kalten Segens zerstoben auf Kopf und Armen. Wie Maulwürfe wühlten wir uns zwischen Blöcken durch, dem höchsten Punkte entgegen.

Als wir den einsamen Scerscengipfel erreichten, hatte die Sonne den höchsten Stand bereits überschritten. Die Luft war eigenartig warm und fast ruhig. Über der Valle Malenco lag ein zarter Dunsthauch, aus dem märchenhaft weiss der Pizzo Bello hervorschaute. Mahnend tönte ab und zu aus der Südwand unseres Berges das Rauschen eines Schneerutsches. An einen Abstieg durch die Felsen der italienischen Seite war daher nicht zu denken. Auch der sich über die Scharte zum Piz Bernina hinüberziehende Nordostgrat schaute unter solchen Umständen nicht besonders einladend aus. So mussten wir also mit dem Rückweg über die Eisnase vorlieb nehmen.

Gegen 2 Uhr packten wir unsere Siebensachen zusammen und glitten am doppelt genommenen Seil in die Tiefe. Obwohl wir manchmal Mühe hatten, im brüchigen Fels einen zuverlässigen Abseilblock zu finden, kamen wir auf diese Art gut vorwärts. Beim letzten derartigen Manöver, wir standen nur einige Meter über dem Bergschrund, wollte das Seil nicht mehr mitkommen. Alle Kniffe und Tricks zur Befreiung des « Fadens » blieben ohne Erfolg. Erst nachdem ich mich 10 Meter über den Eishang hinaufgehangelt hatte, konnten wir es aus der Verklemmung schwingen. Von der Oberlippe des gähnenden Bergschrundes aus gewannen wir dann mit einem Riesenhupf wieder sichereren Boden unter die Füsse.

Auf dem flachen Firn unten versanken wir im total durchweichten Schnee bis zu den Knien. Um 3 Uhr standen wir wieder über der Eisnase. Die Stufen vom Morgen waren weggeschmolzen, und feucht glänzte der jäh abfallende Firn in der Hitze des Nachmittags. Vom äussersten Rande der Nasenspitze aus wollten wir abseilen. Das Herrichten eines anständigen Abseilpflockes kostete mich eine Menge der nun immer kostbarer werdenden Zeit. Da sich die Abseilerei mit einem 30-Meter-Seil unter den gegebenen Verhältnissen nicht lohnte, entschlossen wir uns, für den Rest des Hanges Stufen zu hacken. Nur langsam gelangten wir tiefer. Es zeigten sich Schwierigkeiten, welche wir im Aufstieg kaum geahnt hatten. So hätte mich zum Beispiel ein Miniatur-Überhang von ungefähr 1,50 Meter Höhe beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht, weil ich mit den Steigeisen im oberen Rande hängen blieb. Das Hauptübel war aber der tropfnasse Schnee, der wie zähes Pflaster an den weniger steilen Stellen klebte. Das Eis war spröde geworden, und Schmelzwasserbächlein rieselten über den Hang und fanden den Weg in die Schuhe und die Ärmel. Manchmal plätscherte wie ein Wasserfall eine Portion « Müder » in die Tiefe.

Im Zeitraffertempo wichen die Minuten und schienen zu Sekunden geschrumpft. Nach fast dreistündigem « Vorsichtein » und « Gleichgewichten » war es für uns eine Erholung, endlich wieder Fels unter Händen und Fussen zu haben. Die Sonne hatte den Grat stark vom Schnee befreit. Da es aber schon wieder spürbar kälter wurde, bildete sich bereits an verschiedenen Orten Eis.

Während wir über das eiskalte Gestein glitten, röteten sich die Hängegletscher am Piz Roseg. Immer näher rückte die glutrote Sonnenkugel dem zackigen Horizonte im Westen. Eine unbeschreibliche Melodie der Farben offenbarte sich den müden Augen. In meinem Rucksack lagen zwei schussbereite Kameras. Für dieses Mal musste ich aber auf eine Aufnahme verzichten, denn wenn wir den Grat noch bei Tageslicht verlassen wollten, durfte keine Minute verloren gehen. Unmerklich verstummte das Jauchzen der hellen Farben, die violetten Schatten aus dem Tale stiegen sachte höher, und leise nur reflektierten die Gletscher noch das stahlgraue Licht des vergangenen Tages.

Auf der Fuorcla da l' Umur versuchten wir eine Kerze anzuzünden. Es blieb aber beim Versuch, denn das Schmelzwasser hatte auch unseren Zündhölzern arg zugesetzt. Dann warteten wir lange auf den Mond. Wir hatten wirklich Pech. Der Mond hielt sich hinter dem Piz Roseg versteckt, und nur der Firn des Corvatsch leuchtete silbern über dem Tal. Durchnässt wie wir waren, durften wir nicht an ein Biwak denken. Als die Kälte unerträglich wurde, setzten wir unseren Abstieg ohne Beleuchtung fort. An kohlschwarzen Schrunden vorbei tasteten wir uns über das Eis des Tschiervagletschers.

Bis wir uns in der kugeligen Topographie der grossen Seitenmoräne zurechtfanden, polterten noch etliche Ladungen losen Schuttes in die Randklüfte. Um Mitternacht standen wir wieder vor der Hütte auf der Moräne. Eiskalt lag die kristallklare Nacht über dem gewaltigen Gebirgszirkus von Tschierva, und am Himmel glitzerten Sterne.

Jahre sind seither verstrichen. Inzwischen haben wir allerhand erlebt und gelernt, und ich glaube nicht, dass wir eine ähnliche Tour unter den gegebenen Verhältnissen jemals wiederholen würden. Unaufhaltsam rollt das Rad der Zeit, und langsam nähert man sich dem Alter, in dem man dazu neigt, derartige Unternehmungen als Tollkühnheit oder Kalberei zu verdammen. Damals aber waren wir glücklich, die Fahrt trotz allem ausgeführt zu haben. Und unvergesslich haben sich jene erlebnisreichen Stunden eingeprägt im goldenen Schatze der Erinnerungen.

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