Popocatepetl, der rauchende Berg | Club Alpino Svizzero CAS
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Popocatepetl, der rauchende Berg

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VON ROLF MATHYS ( BERN )

Mit 4 Bildern ( 129-132 ) Ich erinnere mich noch genau, als wir in der Schule die komplizierten Namen der mexikanischen Vulkane auswendig lernen mussten. Damals hätte ich mir jedoch kaum träumen lassen, dass ich ein knappes Dutzend Jahre später die Gelegenheit haben würde, einen dieser hohen Berge zu besteigen. Als ich im Sommer 1959 meine grosse Reise durch Spanien, Kanada, USA, Mexico und die grossen Antillen antrat, hegte ich als begeisterter Alpinist die leise Hoffnung, in fernen Landen einen hohen Gipfel zu besteigen, doch war ich mir voll bewusst, dass mir als Einzelgänger zu diesem Zweck der Zufall zu Hilfe kommen musste - und er kam auch.

Ich sitze gedankenverloren im Flugzeug, das mich von New Orleans, wo ich während fünf Tagen blieb, nach Mexico bringen soll. Mexico, das Land der Gegensätze, wie wird es mich jungen Weltenbummler wohl empfangen? Die Nacht ist schon längst hereingebrochen, als wir über dem Lichtermeer der Fünfmillionenstadt Mexico-Ciudad zur Landung ansetzen. Mit gezücktem Pass schreite ich der Zollhalle zu, wo mir vorerst eine Tasse herrlichen Kaffees in die Hand gedrückt wird. Ein freundlicher Beamter fordert mich auf, ihm die Touristenkarte auszuhändigen und mich zu meinem Gepäck zu begeben. Während sich meine Mitreisenden, alles Amerikaner, der Zollkontrolle unterziehen müssen, kommt ein Uniformierter mit einem breiten Grinsen auf mich zu und sagt: « You no Gringo ( Übername für Amerikaner, die abgesehen vom Geld in Mexico nicht beliebt sind ), you special service. » Mit diesen Worten nimmt er meinen Koffer und führt mich zum nächsten Taxi. Ich verlange, nach dem Hotel Geneva geführt zu werden, doch mein Chauffeur versucht mich sogleich zu überzeugen, dass dasselbe zu teuer und zudem zu weit vom Stadtzentrum entfernt sei. Er empfiehlt mir das Hotel Virreyes, und mit grossem Händeverwerfen zählt er mir sämtliche Vorzüge desselben auf, ja er zeigt mir sogar Prospekte. Schliesslich stoppt er vor dem Hauptportal des in Frage stehenden Hotels, und während ich noch überlege, hat sich schon ein Portier meines Gepäckes be- mächtigt. Alles ging so schnell vor sich, dass ich dabei fast vergass, die Taxe zu bezahlen. Wie sich später zeigte, sollte ich die Wahl nicht bereuen, denn in diesem Hotel fand ich während meines langen Aufenthaltes im Lande der Azteken bleibende Freunde.

Nach einer schlecht durchschlafenen Nacht begebe ich mich am frühen Morgen zur Schweizerischen Gesandtschaft, um mich nach einer Möglichkeit, den Popocatepetl zu besteigen, zu erkundigen. Nach einer kurzweiligen Unterhaltung mit dem Sekretär, H. Disler, verspricht mir dieser, alles in seiner Kraft Liegende zu tun, um mir diese Besteigung zu ermöglichen. Schon anderntags erhalte ich von ihm den Bericht, dass einer seiner Bekannten, der Franzose Roger Du Tilly, mit seinen Kameraden bereit sei, mich am kommenden Wochenende auf den « rauchenden Berg » mitzunehmen und mir soweit möglich auch die Ausrüstung zu beschaffen. Das ist mehr als ich erwartet hatte, und meine Freude ist auch dementsprechend! Wie ich durch den wundervollen Paseo de la Reforma dem Stadtzentrum zuschlendere, tauchen aber auch schon die ersten Bedenken auf. Wird das Wetter wohl halten? Werde ich wohl, nachdem ich für Monate nicht mehr trainiert hatte, den Anforderungen eines Fünftausenders gewachsen sein?

Ich verzichte diese Woche auf grössere Ausflüge in die Umgebung und sehe mir die Stadt an. Den wundervollen « Zocalo », den zweitgrössten Platz der Welt ( nach dem Roten Platz in Moskau ), die in spanischem Stil erbaute Kathedrale, die vielen Statuen am Paseo de la Reforma, den 250 m hohen Torre Latino-America. Am Abend begebe ich mich jeweils mit einem Bekannten in typische Lokale, um den Mariachiorchestern und Rancheragesängen zu lauschen, die mich vollständig in ihren Bann ziehen. Diese Musik, gespielt mit Gitarren, Geigen und Trompeten, und die fremdartigen, melancholischen Gesänge, von feurigen Mexikanerinnen und Mexikanern mit aller Inbrunst vorgetragen, fesseln mich so, dass ich jeweils erst im Morgengrauen ins Hotel zurückkehre, was zur Folge hat, dass ich kaum einmal vor dem Mittagessen aus den Kissen steige.

Endlich ist er angerückt, der grosse Tag. Aber welch ein Schreck, der Himmel ist grau, tief hängen die Wolken und leeren ihren Inhalt zu meinem grossen Verdruss ohne Unterlass zur Erde nieder. Gestern abend hat mir Roger die Bergschuhe, die mir zum Glück sehr gut passen, sowie Steigeisen, Pickel, Handschuhe und einen Rucksack gebracht. Die übrige Ausrüstung ist mehr als nur mangelhaft Khakihosen und als Windschutz an Stelle eines Anoraks ein alter Plastikregenmantel Doch mein Wille, die Tour erfolgreich mitzumachen, ist dafür um so grösser.

Am Samstagmittag kommen Rogers Freunde, vier nette französische Pfadfinder, mich mit ihrem Wagen abholen, und das Abenteuer kann beginnen. In strömendem Regen fahren wir über eine recht gute Strasse, vorbei an Hügelzügen vulkanischen Ursprungs und durch kleine Bauerndörfer mit armseligen, strohbedeckten Lehmhütten. Nach etwa einer Stunde erreichen wir das malerische Städtchen Amecameca, wo wir uns in einem kleinen Restaurant erfrischen. Dann geht 's weiter. Bald zweigen wir von der asphaltierten Strasse ab, und was nun folgt, würde manchen Autofahrer entsetzen. Die eingeschlagene Strasse verdient eher mit einer Kampf bahn als mit einem Verkehrsweg verglichen zu werden! Wie Betrunkene steuern wir von einer Strassenseite zur andern, um wenigstens die grössten Löcher zu meiden. Nach Passieren der letzten armseligen Dörfer fahren wir durch einen lichten Agavenwald in vielen Windungen steil aufwärts. Bald umhüllt uns dichter Nebel, und langsam bricht die Nacht herein. Nach halbstündiger Fahrt sehen wir auf einer Waldwiese viele Lichter, alles Autos von Anwärtern einer Popocatepetlbesteigung? Auch wir werden angewiesen, unser Vehikel hier stehen zu lassen und das letzte Wegstück zu der auf 3400 m gelegenen Hütte der Vereinigung mexikanischer Alpenclubs zu Fuss zurückzulegen. So stapfen wir denn durch Regen, Morast und tiefschwarze Nacht der ersehnten Hütte zu, welche wir zu unserer Erleichterung schon nach 10 Minuten erreichen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Hier herrscht ein Treiben wie an einem Volksfest. Wohl an die 400 Personen drängen sich um die Hütte herum, und nur Mitgliedern ausländischer Vereine und besonders privilegierten Mexikanern, Soldaten und Offiziellen wird Eintritt gewährt. Fahnen aus allen Teilen der Welt sind zu sehen. Ich werde von meinen Freunden aufgeklärt, dass morgen, am 12. Oktober, der Dia de la Rassa sei, ein nationaler Feiertag, an welchem alle Bergbegeisterten den Popocatepetl besteigen wollen. Wie sie mein enttäuschtes Gesicht sehen, beruhigen sie mich und teilen mir lächelnd mit, dass von den über 400 Unternehmungslustigen wohl keine 50 viel weiter als « Las Cruzes », eine Stelle auf 4800 m Höhe, kämen. Doch äussern sie Bedenken, dass die anwesenden Behördevertreter die Besteigung unter Umständen des schlechten Wetters wegen verbieten. Ziemlich verstimmt über diese Art Bergsteigerei begebe ich mich in die Hütte. Auch da drinnen wimmelt es wie in einem Ameisenhaufen. Einige haben sich, in viele Decken eingehüllt, auf dem Fussboden, in der Nähe des offenen Feuers zum Schlafen hingelegt. Für uns waren im Untergeschoss Holzpritschen reserviert worden. Die Küche des Hauses liefert gratis Kaffee, und ein Reporter der Life bemüht sich, uns beim Schein des Feuers auf die Platte zu bannen. Wie ich mich meinem Schlafplatz zuwende, höre ich von drei benachbarten Pritschen eine Diskussion in Schweizerdeutsch. Ich gehe der Sache gleich auf den Grund und treffe drei Landsleute, die in Toluca arbeiten und zum Dia de la Rassa ebenfalls zum Popocatepetl pilgerten. Bei Schinken, « Zupfe » und Wein verbringen wir einige frohe Stunden, bevor wir uns auf den harten Holzplanken dem Schlaf hingeben.

Morgens 4 Uhr werde ich von meinen französischen Freunden aus den Träumen gerüttelt. Nach einer Tasse heissen Kaffees treten wir fröstelnd in die zu unserer Freude sternklare Nacht hinaus. Das Bild, das sich unseren Augen bietet, mahnt mich eher an den Start zu einem Orientierungslauf als an eine Bergtour. In einer langen Reihe stehen Männlein und Weiblein schön hintereinander, bis sie von einem Offiziellen irgendeiner mir unbekannten Vereinigung oder Behörde die Erlaubnis erhalten, den mühsamen Aufstieg in Angriff zu nehmen. Andere Länder, andere Sitten! Wir müssen uns dieser Prozedur zum Glück nicht unterziehen, denn durch die weitsichtige Organisation meiner Freunde ist es möglich, sogleich abzumarschieren. Es ist 5 Uhr. Bald lassen wir die letzten Bäume hinter uns. Aber zu meinem grossen Ärger zieht vor uns eine unendlich lange Menschenschlange den Hang hinauf. Ich sporne meine Freunde zu einem sehr scharfen Tempo an, um bald einmal an die Spitze zu gelangen. Trotz der weichen, schwarzen, vom gestrigen Regen noch nassen Lavaerde gewinnen wir sehr rasch an Höhe. Der Weg führt immer links schräg den Hang hinauf. Ab und zu versperren einige Lavablöcke den Weg, wie eine Geröllhalde in unseren Alpen. Kurz vor 7 Uhr erreichen wir « Las Cruzes », schalten eine erste Rast ein und erleben hier das Erwachen des neuen Tages. Las Cruzes hat seinen Namen von den vielen Kreuzen, die hier aufgepflanzt wurden und wahrscheinlich an die vielen Opfer erinnern, die der Berg im Laufe der Jahre gefordert hat. Die Aussicht ist herrlich! Tief unter uns erstreckt sich eine grüne Ebene ins Unendliche. Einzig im Osten verwehrt uns die wuchtige Flanke des 5286 m hohen Ixtaczihuatl ( Weisse Frau ) die Fernsicht. Langsam färbt sich der Himmel rot, doch leider nicht für lange, denn schon ziehen dichte Nebelschwaden heran und drohen uns einzuhüllen. Ein eisig kalter, sehr heftiger Wind bringt unsere Zähne zum Klappern. Hier, auf 4800 m Höhe, also Mont Blanc-Höhe, beginnt auch der Ewige Schnee, welchen uns der Wind ausgiebig ins Gesicht peitscht. Die lange Kolonne der vielen Bergbegeisterten nähert sich unserem Rastplatz, und ich mahne meine Freunde zu sofortigem Auf- bruch. Auf das Anschnallen der Steigeisen können wir verzichten, da die Schneeverhältnisse ausgezeichnet sind. Eine dicke, gut haftende Pulverschneedecke liegt auf dem sonst hier anzutreffenden Blankeis. Durch die immer steiler und steiler werdende Nordostflanke stapfen wir unermüdlich in direkter Fallinie dem Kraterrand zu. Der Nebel hat uns inzwischen wieder ganz eingehüllt. Alles ist weiss, wo man auch hinschaut, nichts als eine weisse Masse. Wir müssen uns wohl ca. auf einer Höhe von 5100 m befinden, als drei meiner Freunde erklären, sie könnten nicht mehr weitersteigen. So treten sie denn den Abstieg an und versprechen Pierre, der als einziger gewillt ist, die Tour fortzusetzen, und mir, bei der Hütte auf uns zu warten. Zu zweit spuren wir weiter in das graue Ungewisse hinauf. Bald verpestet ein starker Schwefelgeruch die Luft, und einige Augenblicke später reichen wir uns auf dem Kraterrand die Hände. Roger Du Tilly und der französische Botschafter, Monsieur Perrin, sind schon oben und begrüssen uns mit einer willkommenen Tasse heissen Tees. Die beiden waren Tags zuvor aufgestiegen und haben die Nacht in luftiger Höhe in einem Zeltbiwak verbracht. Ganz allein mache ich mich auf den Weg, dem Kraterrand entlang, um den höchsten Punkt, den 5452 m hohen Pico Mayor, zu erklimmen Es ist genau 9.30 Uhr. Von der Hütte in 4½ Stunden zum Gipfel. Ich kann es kaum fassen! Jetzt kann ich mich eines Schuldgefühls nicht erwehren, wenn ich an die drei Kameraden denke, die unten an der Flanke umkehrten. Das scharfe Tempo war für diese erst neunzehnjährigen und eigentlich bergungewohnten Burschen zuviel.

Nach einer kurzen Gipfelrast kehre ich zu meinen Kameraden zum Biwakplatz zurück. Bei beissender Kälte warten wir anderthalb Stunden vergeblich auf eine Aufhellung, um die Aussicht geniessen und einige Bilder machen zu können. Schliesslich entscheiden wir uns, gemeinsam den Abstieg anzutreten. Wir begegnen noch einigen Unentwegten, doch die gestrige Prognose meiner Freunde scheint sich zu bestätigen, denn es sind kaum mehr als 50 oder 60 Personen, die ihre mitgebrachten Flaggen auf dem Kraterrand hissen können. Die Abfahrt mit dem Pickel durch den weichen Schnee, die steile Flanke hinunter, ist ein wahrer Genuss, und im Handumdrehen sind wir bei Las Cruzes angelangt, wo wir zugleich auch aus dem Nebel herauskommen Wir schalten eine längere Rast ein und schlendern dann gemütlich der Hütte zu, wo uns ein kräftiger Imbiss erwartet, den uns unsere drei Kameraden bereitet haben. Hier vernehmen wir auch die traurige Botschaft, dass am Morgen, während wir oben am Kraterrand sassen, zwei einer mexikanischen Rettungsmannschaft angehörende Männer in einem Couloir der Nordostflanke, kurz unterhalb Las Cruzes, in einen Eisschlag gerieten und ihr Leben verloren.

Bald sind unsere Utensilien im Kofferraum des Wagens verstaut, und wir fahren wieder dem Flachland zu. Immer tiefer geht es, und bald erfreuen uns die wärmende Sonne und blauer Himmel. Nur der Gipfel unseres Berges hüllt sich immer noch in dichte Wolken. Durch lichte Wäldchen und Bananenhaine, vorbei an Kaktushecken und Magueyfeldern - aus dem Saft der Magueypflanze wird der Pulque, ein populärer mexikanischer Schnaps, hergestellt - fahren wir dem subtropischen Ferienort Cuernavaca zu. Je näher wir dem Städtchen kommen, desto reicher wird die Vegetation. Blumen und blühende Bäume in allen Farben, Orange, Rot, Blau, Violett, welch eine Augenweide! In Cuernavaca, einem reizenden kleinen Städtchen, besitzt Pierres Vater ein Ferienhaus mit einem wundervollen Schwimmbad, wo wir uns ausgiebig erfrischen, bevor wir uns bei einbrechender Dunkelheit auf die Autobahn und über einen 3000 m hohen Bergpass zurück nach Mexico-City begeben, wo wir abends 8 Uhi ein wenig müde, aber zufrieden und glücklich eintreffen.

Welch wundervolles Land! Am Morgen auf 5450 m Höhe frieren, am Nachmittag bei tropischer Hitze schwimmen und hernach einen milden Abend in Mexico-City auf 2500 m Höhe geniessen zu können, das ist einmalig.

Noch lange werde ich in Dankbarkeit an diese, trotz dem schlechten Wetter sehr schöne Bergfahrt und besonders an meine französischen Freunde, welche mir dieselbe ermöglicht haben, zurückdenken. Zu meinen ersehnten Bildern kam ich später bei einem andern Ausflug in die Gegend des Popocatepetl doch noch.

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