Schweizerische Grönlandexpedition 1938 | Club Alpino Svizzero CAS
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Schweizerische Grönlandexpedition 1938

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Mit 7 Bildern und 1 Kartenskizze.Von Karl Baumann.

Die Expedition und ihre Ziele.

Die turistische Erschliessung der Alpen muss heute als beendigt betrachtet werden. Sogenannte neue « Probleme » sind mehr der Akrobatik als dem Bergsteigen verwandt. Was ist begreiflicher, als dass sich der immer rege Forschungs- und Tatendrang der Jugend neue Ziele setzt?

Schon lange hatte sich der Akademische Alpenclub Zürich mit dem Gedanken einer grösseren ausseralpinen Expedition getragen. Mehrere kleinere Fahrten ( Atlas 1934, Korsika 1937 ) hatten den Club um wertvolle Erfahrungen bereichert. Als daher im Frühjahr 1938 das Zusammentreffen verschiedener glücklicher Umstände die Entsendung einer Expedition nach Grönland ermöglichte, konnte der A.A.C.Z. mit ruhiger Sicherheit auch an eine solche Aufgabe herantreten. In selbstloser Weise opferten unsere alten Herren Zeit, Geld und Arbeitskraft, um die Durchführung der Expedition zu ermöglichen. Ich möchte nicht versäumen, ihnen auch an dieser Stelle den herzlichen Dank aller Teilnehmer auszusprechen.

Männiglich stellt sich Grönland als eine unendlich weite, flache Eiswüste vor. Unsere Absicht, eine alpinistische Expedition dorthin zu senden, begegnete deshalb manchem Kopfschütteln. Aber die geläufige Vorstellung von Grönland ist nur teilweise richtig. Wohl ist diese grösste Insel der Welt zu neun Zehnteln von Eis bedeckt. Aber längs der Küste erstrecken sich vielerorts mächtige Gebirgszüge von durchaus hochalpinem Charakter. Das an diesen Ketten gestaute Inlandeis ergiesst sich durch die Lücken in riesigen, Wildbächen vergleichbaren Gletschern zum Meer. So entstehen Gebirgslandschaften, die in ihrer Grossartigkeit keinen Vergleich zu scheuen brauchen.

Die Entfernung Grönlands von Europa ist, rein kilometermässig betrachtet, nicht sehr bedeutend. Ein gutes Schiff würde von Schottland aus nicht mehr als vier Tage brauchen, um die Gegend von Angmagssalik an der Ostküste zu erreichen. Aber es ist nicht nur die Distanz, die in den arktischen Meeren zählt. Ein gewaltiger Packeisgürtel, der vom inneren Polarbecken kommend längs der Ostküste Grönlands nach Süden treibt, verunmöglicht während neun bis zehn Monaten des Jahres jede Schiffahrt. Und auch in den günstigen Sommermonaten Juli und August ist das Meer selten ganz eisfrei, das ständig wechselnde Packeis bereitet der Navigation immer wieder beträchtliche Schwierigkeiten. Nur besonders stark gebaute Holzschiffe dürfen sich in den Kampf mit dem Polareis wagen.

So ist es erklärlich, dass die Ostküste Grönlands, obwohl Europa zugekehrt, immer noch verhältnismässig wenig erforscht ist. Weite Gebiete sind noch kaum betreten worden. Während die von einer warmen Strömung bespülte und daher viel leichter zugängliche Westküste schon seit über zweihundert Jahren in regelmässiger Verbindung mit Europa steht, gelang es Die Alpen — 1939 — Les Alpes.4 überhaupt erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die vom eisigen Polarstrom gebadete Ostküste zu erreichen. Zu ihrem grössten Erstaunen entdeckten die Forscher an dieser bis dahin völlig unbewohnt und unbewohnbar geglaubten Küste Eskimosiedlungen. Heute lebt auf einer Küstenlänge von gegen tausend Kilometer in kleinen Dörfern ein Eskimostamm von nicht ganz tausend Köpfen. Dank der vorbildlichen Kolonialpolitik der dänischen Regierung ist der Rückgang der Eskimobevölkerung zum Stillstand gekommen, ja in den letzten Jahrzehnten macht sich sogar eine fühlbare Bevölkerungsvermehrung geltend. Infolge der fast hermetischen Abgeschlossenheit des Landes haben sich die Eskimos in Rasse und Lebensweise noch ganz ursprünglich erhalten. Es war für uns eines der schönsten Erlebnisse unserer Expedition, mit diesem liebenswürdig-fröhlichen Völklein in nähere Berührung zu kommen.

Ständige weisse Siedler gibt es an der Ostküste, im Gegensatz zur Westküste, keine. Das Land bietet dem Europäer, will er sich nicht das Leben der Eskimos zu eigen machen, keinerlei Existenzmöglichkeiten. Die einzigen an der Küste lebenden Weissen, dänische Regierungsbeamte, können an den Fingern einer Hand abgezählt werden.

Unsere Expedition zählte sieben Teilnehmer, mit Ausnahme von E. Wyss, der dem A.A.C.B.ern angehört, alles Mitglieder des A.A.C.Z. André Roch, der bekannte Genfer Alpinist und Mitglied der internationalen Himalajaexpedition 1934, überraschte uns als Expeditionsleiter immer wieder durch seine unfehlbare Spürnase in Fels und Eis. Michel Perez, der schon zum dritten Male die Gegend von Angmagssalik besuchte, stellte uns seine reichen Erfahrungen und Kenntnisse von Land und Leuten zur Verfügung. Weitere Teilnehmer waren Otto Coninx, Robert Landolt, Guido Pidermann ( Expeditionsarzt ), E. Wyss-Dunant und Karl Baumann.

Ziel unserer Expedition war die alpinistische und wissenschaftliche Erforschung des nördlich Angmagssaliks an der Ostküste Grönlands gelegenen ausgedehnten Berglandes. Diese Aufgabe war für uns Schweizer um so reizvoller, als bereits Prof. de Quervain im Jahre 1912 anlässlich seiner Traversierung des Inlandeises die südliche Grenze dieses grossartigen Gebirgsmassives gestreift und ihm wegen seiner grossen Ähnlichkeit mit den Schweizeralpen den Namen « Schweizerland » gegeben hatte. Es wäre bedauerlich gewesen, wenn auch bei der Erforschung dieses Gebietes fremde Nationen der Schweiz, dem klassischen Land des Alpinismus, den Rang abgelaufen hätten.

Hauptziel der alpinistischen Gruppe der Expedition war die Besteigung des Mont Forel 3360 m, des zweithöchsten Berges Grönlands und wahrscheinlich der Arktis überhaupt. Schon im Jahre 1931 hatte der englische Himalajamann Wager vom Inlandeis her erfolglos die Besteigung dieses Berges versucht. Im Gegensatz zu ihm sollte unsere Expedition, von der Küste ausgehend, das ganze noch kaum betretene Schweizerland durchqueren und den an der Grenze des Inlandeises gelegenen Mont Forel an seiner Südseite erreichen. So würden wir Gelegenheit haben, das ganze, grösstenteils noch unbekannte Schweizerland kennen zu lernen.

Die wissenschaftliche Gruppe hatte ein reiches Arbeitsprogramm Hauptziel war die Bestimmung und Vermessung des höchsten Punktes des grönländischen Inlandeises. Verschiedene Forschungen jüngsten Datums erlaubten Schlüsse darauf zu ziehen, dass er sich nicht allzuweit vom Mont Forel befinden müsse. Es galt, diese Hypothesen auf ihre tatsächliche Richtigkeit zu überprüfen. Daneben sollten Schnee- und Gletscherforschungen, photogrammetrische Aufnahmen und geologische Proben uns ein näheres Bild der Struktur des durchquerten Landes vermitteln. Vitaminuntersuchungen sollten das Problem der Ernährung in der Arktis unter neuen Gesichtspunkten beleuchten. Michel Perez, der Leiter der wissenschaftlichen Arbeiten, wird über diese wissenschaftliche Seite unserer Expedition gesondert Rechenschaft ablegen. Ich kann mich deshalb mit diesem kurzen Abriss unseres Arbeitsprogramms begnügen.

Vorbereitungen und Hinreise.

Die erste und grösste Schwierigkeit, mit der jede Ostgrönland-Expediton zu rechnen hat, ist die Erreichung der Küste. Die Verkehrsmöglichkeiten sind äusserst beschränkt. Einen eigentlichen Fracht- oder gar Turistenverkehr gibt es überhaupt nicht, darf doch das Land erst auf Grund einer besonderen, nur auf diplomatischem Wege zu erlangenden Bewilligung betreten werden. Nur zweimal im Jahre, in der Regel Mitte Juli und Ende August, besucht ein Dampfer, nämlich das dänische Regierungsschiff « Gertrud Rask », die dänische Kolonie Angmagssalik, bringt Post und Lebensmittel, und löst die Beamten ab.

Expeditionen in dieses Gebiet waren bisher regelmässig nur im Zusammenhang mit einer Überwinterung durchgeführt worden. Da wir eine solche wenn immer möglich vermeiden wollten, mussten wir danach trachten, die Küste so frühzeitig zu erreichen, dass bis Ende August, dem letzten Zeitpunkt, an dem mit einiger Wahrscheinlichkeit noch auf die Passierbarkeit der Packeisbarriere gerechnet werden darf, das Expeditionsprogramm durchgeführt werden konnte. Die ideale Lösung dieses schwierigen Problems, das Flugzeug, erwies sich aus verschiedenen Gründen als undurchführbar. Auch die « Gertrud Rask » schied für die Hinreise aus, da sie Angmagssalik erst nach wochenlangem Umweg über Westgrönland anlaufen sollte. Die einzige Möglichkeit, frühzeitig genug nach Ostgrönland zu gelangen, bestand darin, von Island aus die Überfahrt mit einem gemieteten Motorboot zu wagen. Natürlich waren wir dabei in weit höherem Masse von den Launen des Eises abhängig, als wenn wir einen grösseren Polardampfer hätten benützen können.

Die Vorbereitung der Expedition hatte etwa drei Monate in Anspruch genommen. Nicht nur die alpinistische und wissenschaftliche Ausrüstung, sondern auch die gesamten Nahrungsmittel mussten aus Europa mitgeführt werden. Äusserste Gewissenhaftigkeit der Vorbereitung auch im kleinsten Detail war um so mehr geboten, als Mängel der Ausrüstung später unmöglich behoben werden können. Es ist völlig ausgeschlossen, Lücken in Grönland zu ergänzen. Da alles und jedes mitgeführt werden muss, ist es nicht weiter erstaunlich, dass unser Expeditionsgepäck allmählich gewaltige Dimensionen annahm. Nicht weniger als drei Tonnen Kisten und Koffern wurden an Bord unseres Islanddampfers verladen. Viele Ausrüstungsgegenstände und Nahrungsmittel waren uns von Clubfreunden und Industriellen unentgeltlich überlassen worden. Es ist mir eine grosse Freude, diese verständnisvolle Unterstützung, die unsere Expedition in breiten Kreisen gefunden hat, im Namen des A.A.C.Z. herzlich zu verdanken.

Am 29. Juni schiffen wir uns in Kopenhagen auf der überfüllten « Dron-ning Alexandrine » nach Reykjavik, der Hauptstadt Islands, ein. Zur Überfahrt nach Grönland erwartet uns hier ein schnittiges, von der isländischen Regierung in zuvorkommender Weise zur Verfügung gestelltes Polizeiboot. Die Eisverhältnisse vor Angmagssalik sind aber leider so schlecht, dass an ein Durchkommen mit dem kleinen 65-Tonnen-Boot nicht zu denken ist. So bleibt uns zunächst nichts anderes übrig, als zuzuwarten.

Wir benützen die erzwungene Ruhepause zur nochmaligen Durchsicht unserer Ausrüstung. Das gesamte Material wird in zwei Teile geteilt: einerseits Material und Proviant für den Aufenthalt an der Küste, anderseits die Ausrüstung für die eigentliche Expedition, die Schlittenreise ins Innere Grönlands. Während bei der ersten Gruppe Gewicht und Volumen keine grosse Rolle spielen, da alles mit Booten transportiert werden kann, müssen wir beim eigentlichen Expeditionsgepäck mit jedem Kilogramm rechnen.

Alles, was wir für die Schlittenreise ins Innere Grönlands benötigen, wird in 40 leichten, nach unseren genauen Angaben gebauten Schlittenkistchen verstaut. Die Masse dieser Holzkistchen sind so gehalten, dass sie genau auf unsere Aluminiumschlitten passen. Das erleichtert das Auf- und Abpacken später ungemein. Zwanzig Kistchen wurden von der allgemeinen und persönlichen Ausrüstung, dem Filmmaterial, Werkzeugen, wissenschaftlichen Instrumenten usw. in Anspruch genommen Die restlichen zwanzig Kistchen enthielten die Nahrungsmittel. Zum besseren Schutz gegen Nässe und Schnee wurden alle Nahrungsmittelkistchen mit einer verlöteten Blechdose ausgekleidet. So konnten wir später selbst mitten auf Gletschern Nahrungs-mitteldepots unbedenklich wochenlang sich selbst überlassen.

Unsere Nahrungsrationen waren nach den Erfahrungen früherer Grönlandexpeditionen zusammengestellt worden. Jedes Nahrungsmittelkistchen enthielt alles für die Ernährung eines Mannes während zwanzig Tagen Notwendige, so dass uns im ganzen 400 Tagesrationen zur Verfügung standen. Pro Mann und Tag waren unsere Rationen berechnet auf:

Pemmikan200 g Hafer- oder Reisflocken.. 80 g Butter113 g Schokolade ( Suchard )... 150 g Zucker115 g Kakao 60 g Biskuit 65 g Maggi-Erbsmehl 50 g Tee 10 g Guigoz-Pulvermilch 30 g Diese Zusammenstellung bewährte sich im grossen ganzen recht gut. Morgens reichte es zu zwei Tassen Kakao mit Flocken, tagsüber dienten als Zwischenverpflegung Schokolade, Biskuit, Zucker und Butter, und abends " ;-: ' V1*'labten wir uns an einer dicken Suppe aus Erbsmehl und Pemmikan ( Präparat aus getrocknetem und fein zerriebenem Fleisch mit starkem Fettzusatz ). Der für europäische Gaumen reichlich ungewohnte Pemmikan wollte uns anfänglich nicht recht munden, bald aber schätzten wir die ausserordentlich nahrhafte Suppe nach Gebühr. Auf langen, strengen Bergfahrten erwies sich die für Schlittenetappen berechnete Zwischenverpflegung als zu knapp. Wir gaben an solchen Tagen jeweils etwas mehr aus, und schnürten dafür an Ruhetagen den Gürtel enger.

Mehrere Tage waren während der Packarbeiten verstrichen. Leider hatte das Packeis vor Grönlands Küste immer noch kein Einsehen. Unser stürmisches Drängen, nun endlich trotzdem loszufahren, zügelte der erfahrene Perez immer wieder mit dem weisen Spruch: « Eis ist Eis. » Seine Berechtigung, die wir Neulinge anfänglich kritisch belächelten, sollten wir im Laufe der Expedition noch zur Genüge erfahren.

Die Ungeduld der Wartezeit verkürzten wir uns mit Ausflügen auf der grünen Insel Island. Unser Aufenthalt war von einem ganz ungewöhnlichen Wetterglück begünstigt. Acht Tage lang strahlte die Sonne aus wolkenlosem Himmel. Die Besteigung des 1446 m hohen Snaefelsjökull, eines halbinsel-förmig ins Meer vorgelagerten, vergletscherten alten Vulkans, bildete den Höhepunkt unseres Aufenthaltes. Wundervoll heben sich die leicht geschwungenen weissen Konturen des kegelförmigen Berges vom leuchtenden Blau des Meeres ab, das sich in einem Umkreis von mehr als 330° erstreckt. Ungehemmt schweift der Blick nach allen Seiten ins Unendliche.

Die schlechten Eisverhältnisse drohen unsere Pläne über den Haufen zu werfen. Wenn wir nur endlich die lächerlichen vierhundert Kilometer, die uns noch von Grönland trennen, hinter uns hätten. Aber zu guter Letzt schlägt, was zuerst rabenschwarzes Pech schien, noch zu unserem Vorteil aus. Die « Gertrud Rask » bricht im Eise vor Angmagssalik die Schraube und wird nach Reykjavik abgeschleppt. Ein paar Telegramme, und der rasch wieder instand gestellte Polardampfer nimmt uns auf und führt uns nach Grönland.

Die Überfahrt ist von gutem Wetter und ruhiger See begünstigt. Schon am dritten Tag erblicken wir die Küste Grönlands. Bereits zeigt sich auch am Horizont als dünner weisser Strich das gefürchtete Packeis. Bald stecken wir drin. Dumpf dröhnend fährt der eisengepanzerte Kiel unseres Dampfers auf die Schollen auf. Die Eisverhältnisse haben sich in den letzten Tagen glücklicherweise stark gebessert; es ist immer so viel freies Wasser vorhanden, dass die Packeisschollen leicht zur Seite gepufft werden können. So handelt es sich denn mehr um ein neckisches Spiel, denn um einen Kampf mit dem Eis.

Lange stehen wir am Bug und verfolgen die Arbeit unseres Schiffes. Ein eisiger Windhauch bläst uns durch Mark und Bein. In eherner Ruhe säumt das dunkle Küstengebirge den Horizont. Ringsum erstreckt sich in der grünlich-gläsernen Helligkeit der Polarnacht in grenzenloser Weite und Einsamkeit das Packeis. Auf dem tintenschwarzen Meer tanzen schemenhaft die bleichen Eisschollen. Leichte Nebel wallen und erhöhen den Eindruck der Weltabgeschiedenheit, den alles hier atmet. Weit, weit entfernt sind wir von allem, was bisher unser Leben erfüllte. Nicht Tage, nein Ewigkeiten trennen uns von Europa. Die Arktis hat uns in ihren Bann gezogen.

An der Küste.

Am 15. Juli frühmorgens fährt die « Gertrud Rask » in den natürlichen Hafen von Angmagssalik ein, umschwärmt von einer grossen Kayakflottille. Nach dem langen Winter bildet die Ankunft des ersten Schiffes ein wahres Volksfest für Weisse und Eskimos. Klein und gross drängt sich an Bord. Mit grossem Hallo wird der den Eskimos von früher her bekannte Perez empfangen. Freundlich lachen die Eskimos uns zu und geben uns die Hand. Ihre äussere Erscheinung und ihr Gehaben muten uns zunächst sehr fremdartig an. Bald sollten wir in ihnen ausgezeichnete Kameraden und liebenswürdige Menschen kennen und schätzen lernen.

Mitten im Grünen an einem Wiesenhang liegt die dänische Kolonie: wenige kleine rotbraune Holzhäuser, ein Kirchlein und eine Funkstation mit mächtigen Antennentürmen. Hier leben fern der Welt die wenigen Weissen, die die Eskimos des Angmagssalikdistrikts zu betreuen haben: der Kolonie-inspektor, der Funker, eine Krankenschwester und eine Lehrerin.

Wir sind erstaunt über die reiche Vegetation, die wir vorfinden. Von weitem hatte das schwarzbraune Land einen kahlen, unwirtlichen Eindruck gemacht. Nun müssen wir diese Vorstellung berichtigen. Wenn auch das Gras nicht so saftig grün ist wie bei uns, so leuchten uns doch überall Blumen wie Löwenzahn und blaue Glocken entgegen.

Was der arktische Sommer an Dauer zu wünschen übrig lässt, das ersetzt er durch intensive Sonnenstrahlung. Es gibt in den Sommermonaten Juni, Juli und August überhaupt keine Nacht. Abends nach 11 Uhr verschwindet die Sonne am Horizont, um schon gegen 2 Uhr morgens wieder aufzutauchen. Sogar um Mitternacht ist es so hell, dass man ohne Licht lesen oder feinste Arbeiten verrichten kann.

Nach kurzem, geschäftigem Aufenthalt verlassen wir noch am gleichen Tage Angmagssalik. Eines der beiden Motorboote der Kolonie führt uns zum Ausgangspunkt unserer Schlittenreise, dem bedeutend nördlicher gelegenen Sioralikfjord. Märchenhaft schön ist diese Fahrt. Lange, lange Fjorde geben immer neue Durchblicke frei. Steile Berge, gekrönt von funkelnden Firnen erheben sich überall. Eisberge spiegeln sich im klarblauen Wasser. Wir bedauern keineswegs, dass uns unser schwer beladener Anhänger zu langsamer Fahrt nötigt. Immer neue, immer schönere Landschaftsbilder erfreuen unser Auge.

Nach fünfzehnstündiger Fahrt gehen wir am Ende des Sioralikfjordes an Land. Angesichts des von Eisbergen übersähten Fjordes bauen wir dicht am Ufer des Meeres in landschaftlich grossartiger Umgebung unser Basislager auf. Ein fröhliches Lagerleben entfaltet sich. Wir sind Könige, Alleinherrscher in diesem Reich, über vier Marschstunden ist die nächste Eskimosiedlung entfernt. Mit selbstgejagten Polarhühnern bereichern wir uns den Speisezettel. Das Rauschen der Wellen und das Krachen der Eisberge singen uns in den Schlaf.

Die Karte hat uns einen kleinen Streich gespielt. Ganz nahe unserm Lager befindet sich die Mündung eines breiten Tales. Ein Meeresarm sollte sich dort bis zur Zunge unseres Anstiegsgletschers erstrecken. Anstatt dessen sind Meer und Gletscherende von einem von Wasserläufen durchzogenen, von Moränen gegliederten, über sechs Kilometer langen Geschiebe- und Gerölldelta getrennt.

Die ganze Expeditionsausrüstung müssen wir über das unwegsame Gelände tragen. Da alle Eskimos beim Auslad der « Gertrud Rask » beschäftigt sind, muss der ganze Transport von den Expeditionsteilnehmern bewältigt werden. Unschätzbare Dienste leisten uns dabei unsere hohen Gummistiefel und die praktischen Tragräfe. Ein-, zwei-, dreimal im Tag pendeln wir mit schweren Lasten zwischen Lager und Gletscherende hin und her. Das weglose, rutschige Geröll erschwert die Arbeit, ein tiefer, reissender Gletscherbach bildet ein ernsthaftes Hindernis. Der Transport aller Lasten im Gewichte von mehr als tausend Kilogramm beansprucht eine volle Woche. Er bildet ein ausgezeichnetes Training für die strengen Marschleistungen der ersten Schlittenetappen.

Einen Prachtsmorgen benützen wir zu einem Ausflug auf den den Sioralikfjord beherrschenden, direkt hinter unserem Lager aufsteigenden Berg. Der leichte, 1200 m hohe Gipfel belohnt uns durch eine unvergleichliche Aussicht. In dem tiefblauen, von weissen Eisbergen gesprenkelten Fjord spiegeln sich wundersam die dunklen Silhouetten der Berge und die weissen Schäfchenwolken. Über sanfte, allmählich verflachende Höhenzüge schweift der Blick hinaus zur weissen Packeisbank, die sich kaum vom unendlichen Horizont des offenen Meeres abhebt. Endlich gewinnen wir auch Einblick ins « Schweizerland ». Stolze Felstürme, luftige Nadeln und Gräte, gewaltige Wände fesseln unsern Blick. Unzählige Ketten erstrecken sich, eine kühner als die andere, bis zum fernen Horizont. Riesige Gletscher ziehen majestätisch ihre Bahn. Ganz, ganz ferne entdecken wir mächtige, eisgepanzerte Recken: unser Ziel, die Forelgruppe.

Unterwegs zum Mont Forel.

Wir haben die Absicht, zunächst möglichst rasch und ohne uns unterwegs unnötig aufzuhalten, zum Hauptziel unserer Expedition, dem Mont Forel, vorzustossen. Während der ersten Etappen, wo wir dank der vielen Hundeschlitten verhältnismässig leichte Lasten haben ( jeder Schlitten etwa 150 kg ), müssen wir alles daran setzen, rasch vorzudringen. Durch die Anlage von Depots wird der Rückweg gesichert. Nach der Besteigung des Mont Forel dringt die Inlandeisgruppe noch weiter in nordwestlicher Richtung auf der Suche nach der höchsten Region des Inlandeises vor, während die alpinistische Gruppe während des etappenweisen Rückzuges die schönsten Berggruppen besteigt und erforscht. Später wieder vereinigt, kehren die beiden Gruppen gemeinsam zur Küste zurück. Im Basislager müssen wir spätestens am 25. August eintreffen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, das einzige Schiff, die « Gertrud Rask », zu verpassen. Es steht uns also für die eigentliche Expedition etwas mehr als ein Monat zur Verfügung.

Als Marschroute dienen uns die Gletscher. Da wegen der Gefahr der Eiskalbung die ganz grossen, direkt vom Forel herkommenden und in die grossen Fjorde ( Sermilik und Sermiligak ) mündenden Eisströme nicht benützt werden können, sind wir genötigt, uns auf kleineren, für schweizerische Begriffe aber immerhin schon sehr ansehnlichen Gletschern quer durch das ganze Gebirgsland hindurchzuschlängeln. Viele Umwege und Höhenverluste müssen dabei in Kauf genommen werden.

Vorzügliche Dienste leistete uns die erst kürzlich veröffentlichte, ausschliesslich von Flugzeugen aus aufgenommene Karte dieses Gebietes. Ohne sie wäre die Orientierung in dem vielfach sehr unübersichtlichen Gelände eine schwierige Sache gewesen. Wenn die Karte auch wegen ihres Maßstabes 1: 250,000 keine Auskunft über Einzelheiten geben kann, so vermittelt sie im grossen und ganzen doch ein durchaus zutreffendes Bild von der Geländegestaltung.

Unentbehrliches Transportmittel auf den grossen grönländischen Gletschern ist der Hundeschlitten. Er erst ermöglicht das Eindringen und längere Verweilen in dem völlig unbewohnten und keinerlei Existenzmöglichkeiten bietenden Innern Grönlands. Die etwa zwei Meter langen, niedrigen, aus Holz gebauten Grönländerschlitten werden von einer fächerförmig vorgespannten Hundemeute von meist sieben Hunden gezogen. Der Schlittenführer geht hinter dem Schlitten her und treibt die Hunde durch lebhafte Zurufe oder mittels einer langen Peitsche an. Bei guten Verhältnissen und leichten Lasten kann er sich auch gestatten, aufzusitzen.

Es ist unglaublich, was die kleinen, weissen Eskimohunde leisten. Man würde das den mageren, unscheinbaren Tieren nie zutrauen. Einen über hundert Kilogramm schweren Schlitten ziehen sie ebensolang und ebensoweit, als wir Skiläufer mit ganz leichten Rucksäcken gerade noch zu gehen vermögen. Sind die Verhältnisse gut, so legen sie ein solches Tempo vor, dass ein Skiläufer nicht folgen kann. Dabei sind sie von äusserster Anspruchslosigkeit. In den kalten Nächten, in Schneesturm und Regen liegen sie ohne jeden Schutz im Freien. Als einzige Nahrung erhalten sie pro Tag etwa 500 Gramm Hundepemmikan, ein unserem Menschenpemmikan zum Verwechseln ähnliches Produkt. Ist kein Wasser vorhanden, so löschen sie ihren Durst mit Schnee.

Wie bei vielen Naturvölkern ist das Verhältnis zwischen Mensch und Haustier ein ausgezeichnetes. Nie sieht man Tierquälereien oder rohe Behandlung der Hunde. Sein Gespann ist der Stolz jedes Eskimos. Trotz ihrem rauhen, halbwilden Leben sind die Hunde von grösster Anhänglichkeit und Zutraulichkeit und für die geringste Liebkosung empfänglich. Für die gute Behandlung zeigen sie sich durch Einsatzbereitschaft und Gehorsam bis zum Letzten erkenntlich. Sie ziehen, bis sie vor Müdigkeit umfallen.

Das grönländische Sommerklima zwingt dazu, nachts zu reisen und tagsüber zu schlafen. Die Temperatur an der Küste entspricht ungefähr unserem Klima auf 2000 m Höhe. Die Sonnenstrahlung ist aber auch in höheren Lagen so stark, dass sich die Gletscheroberfläche am Tage in ein Labyrinth von Bächen und Sümpfen verwandelt, in dem Hunde und Schlitten stecken bleiben. Nachts dagegen bietet der hart gefrorene Schnee eine ideale Piste.

Wir brechen regelmässig gegen 10 Uhr abends auf und marschieren die ganze Nacht, bis der Schnee gegen 8 Uhr morgens anfängt weich zu werden. Dann bauen wir unsere kleine Zeltstadt auf und legen uns in der strahlenden Sonne aufs Ohr.

Die Vorstellung von dem eisig kalten Grönland ist zum mindesten für die wenigen Sommermonate falsch. Wir litten sehr wenig unter der Kälte. Dank unserer guten Daunenschlafsäcke hatten wir in den niedrigen Zelten so warm, dass wir fast immer ohne weiteren Kälteschutz nur im Pijama oder Trainingsanzug schliefen. Tagsüber konnte es unter der starken Sonnenstrahlung in den Zelten sogar unerträglich heiss werden. Auf Bergturen hatten wir im allgemeinen eher wärmer, als man es in den Alpen auf Vier-tausenderfahrten gewohnt ist. Am kältesten war es bei schönem klaren Wetter. Bei Schlechtwetterperioden sank die Temperatur nie sehr viel unter den Nullpunkt, wenn wir auch mehrere massive Neuschneefälle zu verzeichnen hatten.

Über unsere Bekleidung ist wenig zu sagen. Im grossen ganzen entsprach sie der in den Alpen üblichen. Von Polarforscherpelzjacken keine Rede. Die Kombination eines kräftigen wollenen Turenkleides mit leichten Windanzügen als besonderem Kälteschutz bewährte sich ausgezeichnet. Für Märsche und Besteigungen dienten gut genagelte, reichlich grosse Bergschuhe. Die ideale Fussbekleidung für das Lager, zugleich auch die einzige grönländische Besonderheit unserer Bekleidung, bildeten wasserdichte Seehundsfellstiefel, das gebräuchliche Schuhwerk der Eskimos Immer wieder freuten wir uns auf den Moment, wo wir unsere schweren Bergschuhe mit diesen warmen, weichen und molligen « Kamiks » vertauschen konnten.

Am Abend des 22. Juli, genau eine Woche nach unserer Ankunft in Angmagssalik, treten wir die Reise ins Innere an. Es gilt, die über hundertfünfzig Kilometer Gletscher, die uns vom Mont Forel trennen, zu überwinden.

Eine stattliche Kolonne schiebt sich langsam die steile, vereiste Gletscherzunge hinan. Acht Schlitten, vierundfünfzig Hunde, sieben Schweizer und sieben Eskimos zählt unsere Expedition. Grosse Bewunderung erregen unter den Eskimos die Prunkstücke unserer Ausrüstung: die zwei in der Schweiz gebauten, etwa dreieinhalb Meter langen Aluminiumschlitten. Sie werden uns während der ganzen Reise getreulich begleiten. Die übrigen Schlitten, die Gespanne und die Eskimoschlittenführer sind uns durch Vermittlung der dänischen Kolonialverwaltung mietweise überlassen worden. Sie stehen uns leider nur für wenige Tage zur Verfügung, da die Eskimos baldmöglichst wieder an die Küste zurückkehren müssen, um die gute Jagdzeit auszunützen.

Die erste Etappe geht glatt vonstatten. Über weite Gletscher dringen wir in die vielgestaltige Gebirgswelt des « Schweizerlandes » ein. Ein Ski- lauf er geht an der Spitze, dann folgen die Schlitten und zwischen und nach ihnen die übrigen Expeditionsmitglieder, alle auf Ski. Der Spitzenmann trägt die Verantwortung für den besten Weg, da die Hunde sich sklavisch an die einmal gezogene Spur halten. Manchmal ist dieser beste Weg auf den ordentlich zerrissenen Gletschern gar nicht leicht zu finden.

Leider stellt sich uns schon am zweiten Tag ein unvorhergesehenes Hindernis entgegen. Ein nach dem Kartenbild gangbarer Gletscherpass entpuppt sich als über hundert Meter hohes, abschüssiges Fels- und Schneecouloir. Mit den Schlitten hier durchzukommen, daran ist nicht zu denken. Wir müssen eine andere Route wählen, die uns zur Überwindung eines über zweihundert Meter hohen vereisten Steilhanges zwingt.

Glücklicherweise sind wir für solche Fälle ausgerüstet. An den sicher verankerten Ski werden Rollen befestigt und mittels unserer Bergseile und kräftiger Teerschnur eine Art Drahtseilbahn eingerichtet. Unsere anfänglichen Versuche, die Schlitten, ohne unseren Standort zu verändern, allein mit der Kraft der Arme hochzuziehen, scheitern. Die nötige, grosse Zugkraft bringen wir nur auf, wenn wir uns zu viert oder fünft vom Hang abstossend ins Seil legen und abwärts marschieren. Langsam, langsam kriechen die Schlitten den Hang hinauf, während wir am andern Ende des Seiles der Tiefe zu wandern. Unzählige Male wiederholt sich dieses Spiel. Endlich, an der Kopfstation des dritten « Funis », haben wir die Schlitten wieder auf halbwegs ebenem Gelände. Ein ganzer Tag und eine ganze Nacht angestrengtester Arbeit haben uns kaum einen Kilometer vorwärts gebracht.

Damit sind die Schwierigkeiten noch nicht zu Ende. Ein unangenehmer Bergschrund nötigt zu grösster Vorsicht, und die Umgehung eines Felsspornes kostet uns um ein Haar einen Schlitten. Der Führer verliert bei der heiklen Querung die Herrschaft über sein Gefährt. Mit rasender Geschwindigkeit saust der herrenlose Schlitten geradenwegs auf einen riesigen Gletscherbruch zu. Schon sehen wir ihn in gähnenden Schrunden verschwinden, da gelingt es im letzten Moment den verzweifelt seitwärts ziehenden Hunden, ihn herumzuwerfen und auf einem ebenen Plätzchen zum Stehen zu bringen. Unter dem fröhlichen Geschmunzel seiner Kollegen nimmt der Glückspilz von Schlittenführer sein heil antrabendes Gespann wieder zuhanden.

Nach diesem aufregenden Zwischenfall haben wir für einmal das hindernisreiche Gelände hinter uns. Soweit wir zu sehen vermögen, erstreckt sich in schwachem Gefälle ein flacher, spaltenloser Gletscher. Endlich können wir einmal die Freuden des Skijörings auskosten. Die Hunde laufen wie toll, kaum setzt sich ein Gespann in Bewegung, so heulen die andern Meuten auf und sind kaum mehr zu halten. In sausendem Tempo geht es hinter den Schlitten davon. Der beinhart gefrorene Schnee knirscht unter den Stahlkanten. Auf der holperigen Gletscheroberfläche werden wir geschüttelt und gerüttelt, dass es eine Art hat. Eisiger Zugwind pfeift um Nase und Ohren und lässt die Hände erstarren. Was tut 's? Es geht vorwärts, vorwärts in unbekannte Weiten 1 Berge um Berge, Gletscher um Gletscher ziehen vorbei. Wir durchqueren ein wunderbares Gebirgsland. Je weiter wir uns vom Meer entfernen, desto höher werden die Gebirge, desto kühner die Formen. Dass wir riesige Gletscher vorfinden würden, hatten wir erwartet. Die Schönheit, Kühnheit und Vielfältigkeit der Berge aber übertraf unsere kühnsten Erwartungen. Jede neue Wendung öffnet unsern staunenden Blicken eine Bergwelt von immer wieder neuer und gesteigerter Grossartigkeit.

Wenn auch die Berge hier sich an Höhe nicht mit den Schweizeralpen messen können, so doch an Kühnheit und Schönheit der Formen. Infolge der nördlichen Breite reicht die Vergletscherung viel tiefer als bei uns. Bereits auf 1000 m Meereshöhe drängt sich der Vergleich mit Landschaftsbildern auf, wie sie sich uns zum Beispiel am Konkordiaplatz bieten. Ein Bergland von ungeheurem Reichtum wartete und wartet noch heute des Erschliessers.

Zu unserm Bedauern ist die Herrlichkeit des Skijörings nicht von Dauer. Wir zweigen auf einen ansteigenden Gletscher ab und müssen die Schlitten ziehen lassen. Bald sind die galoppierenden Hunde unsern Blicken entschwunden. Das Gehen auf dem stark verblasenen, unverschämt höckerigen und buckligen Schnee ist unverhältnismässig anstrengend. Die Knöchel beginnen zu schmerzen, jeder Schritt wird zum Problem. Nur die Rücksicht auf versteckte Spalten hindert uns, die Ski auszuziehen und zu tragen.

Stunde um Stunde vergeht. Kilometer um Kilometer legen wir hinter uns. Endlos dehnen sich die Gletscher. Schon längst ist der Zeitpunkt, an dem die Schlitten für gewöhnlich Halt machen, vorbei, und noch immer sind keine Zelte in Sicht. Heisser und heisser brennt die Sonne, unbarmherzig strahlen die blendend weissen Schneeflächen.

Endlich gegen Mittag erreichen wir in einer fast unerträglichen Backofenhitze das inzwischen von den Schlittenleuten bei P. 1410 aufgestellte Lager, und damit den Endpunkt der heutigen, über 45 km langen Etappe. Nur mühsam rutscht der klebrige Pemmikan die ausgedörrten Kehlen hinunter. All unsere Gedanken kreisen um einen Punkt: die Schlafsäcke. Mit dem beruhigenden Gefühl, dem Mont Forel ein gutes Stück näher gerückt zu sein, sinken wir im strahlenden Mittagssonnenglast in traumlosen Schlaf.

Leider verlassen uns nun die Eskimos und gehen mit ihren sechs Schlitten zur Küste zurück. Nur einer, Larsai, bleibt uns treu und führt als guter Kamerad während der ganzen Schlittenreise einen unserer Aluminiumschlitten, während der zweite von Perez betreut wird.

Wir haben erst die Hälfte des Weges zum Forel zurückgelegt und hätten eigentlich mit den vielen Schlitten bedeutend weiter kommen sollen. Alles irgendwie Entbehrliche muss deshalb in einem grossen Depot am Ort der Trennung zurückgelassen werden. Trotzdem hat von nun an jeder unserer beiden Schlitten eine Belastung von mehr als 300 kg zu tragen. Es ist ein glänzendes Zeugnis für die Qualität schweizerischer Arbeit, dass sie trotz dieser unerhörten Überbelastung ( sie waren nur auf 120 kg berechnet ) und schwerstem Gelände bis zum Schlüsse durchhielten.

Von P. 1410 führt uns eine lange Abfahrt hinunter auf den riesigen Midgaardgletscher. Die kürzeste Gletscherverbindung erweist sich wegen allzu starker Verschrundung als unmöglich, so dass wir genötigt sind, einen bedeutend tiefer unten auf den Midgaard mündenden Gletscher zu benützen.

Im oberen Teil ist er recht gut gangbar, nahe der Einmündung folgt jedoch eine trotz nur massiger Neigung unheimlich stark von Spalten zerrissene Zone. Alle paar Meter gähnen heimtückische, zum Überfluss noch von unzuverlässigen Schneebrücken verhüllte Löcher. Mehrmals entgehen unsere Schlitten nur mit knapper Not einem fatalen Sturz. Wie durch ein Wunder bleiben sie immer wieder im letzten Moment am Rande der kirchturmtiefen Spalten hängen. Die Hunde machen sich schon längst nichts mehr aus den Spalten. Geduldig warten sie auf ihren Retter, der sie an der Leine wieder heraufhisst.

Im allgemeinen haben wir die Beobachtung gemacht, dass die Gletscher in Grönland bei den schweizerischen ähnlichen Gefällsverhältnissen viel stärker zerklüftet sind. Das dürfte wohl mit der grösseren Fliessgeschwindigkeit zusammenhängen. Dass sie trotzdem im grossen ganzen ohne allzu grosse Schwierigkeiten begehbar sind, erklärt sich aus ihren durchschnittlich sehr flachen Längsprofilen. Hat man aber einmal das Pech, einen Gletscher begehen zu müssen, der den schweizerischen Verhältnissen ähnliche Neigungs-brüche aufweist, so werden die Schwierigkeiten sofort beträchtlich, die Verschrundung enorm.

Der Midgaardgletscher, den wir auf etwa 600 m Meereshöhe betreten, erweist sich als eine harte Nuss. Die vollkommen ausgeaperte Gletscheroberfläche ist derart von Bächen durchzogen und Wasserlöchern durchsetzt, in tausendfältigen Brechungen in Buckel, Höcker und Rippen aufgesplittert, dass uns für unsere armen schwerbeladenen Schlitten angst und bange wird. Immer wieder bleiben sie hängen, fahren in Löchern fest oder kippen um. Die Hunde zerschneiden sich an den messerscharfen Eiskanten die Pfoten und bluten zum Erbarmen. Kaum dass wir ihr Martyrium mit selbstverfertigten Leinwandpantoffeln etwas mildern können. Oft müssen wir die gleiche Strecke zweimal mit halber Last fahren, wenn wir überhaupt noch vorwärts kommen wollen. Mehrmals zwingen uns Moränen oder grössere Bäche, abzuladen und Schlitten und Lasten zu tragen. Nur ganz langsam rücken wir vor, 15 km kosten uns zwei volle Tage.

Alles hat ein Ende, sogar der schlimme Midgaard. Nach Tagen härtester Arbeit erreichen wir die Schneegrenze, und damit bessere Verhältnisse. Das ungebärdige Eis weicht dem gefügigen Schnee. Keine Pässe, keine Gegensteigungen und aperen Gletscher sind mehr zu erwarten. Geradenwegs führt nun unser Weg auf gemächlich ansteigenden riesigen Gletschern hinein ins Herz des « Schweizerlandes » und weiter an die Grenze des Inlandeises, zum Mont Forel.

Tagelang ziehen wir über hindernislose, weite Gletscher. Zweimal schlagen wir unsere Zelte auf der riesigen Gletscherschale des Fem-Stjernen auf. Fünf gewaltige Eisströme münden sternförmig in diese Gletscher-drehscheibe allergrössten Formates ein, deren Durchmesser gegen 50 km beträgt. Ein Kranz ausgesuchter Berggestalten hält die Wache. Allen voran fesselt der P. 2580, eine Pyramide von aussergewöhnlicher Reinheit der Linienführung und Erhabenheit der Gestalt, unsere Blicke. Wir merken ihn uns für den Rückweg vor.

Am 1. August erreichen wir bei günstigen Verhältnissen in einer langen Etappe den Südfuss des Mont Forel. Damit ist der erste Teil unserer Expedition, der Schlittenvorstoss ins Innere, zu einem vorläufigen Abschluss gelangt. In zehntägiger Reise haben wir von der Küste aus eine Strecke von 175 km mit 5600 m Höhenunterschied, davon 3800 m Steigung, zurückgelegt.

Auf den grossen Steinblöcken einer aperen Felsrippe richten wir uns zu längerem Verbleib häuslich ein. Warm leuchtet der ockerbraune Gneis der zu unserem Rücken aufsteigenden Wände in der strahlenden Vormittagssonne. Eng an den Fuss der Riesenmauer des Mont Forel angeschmiegt ist unsere kleine Zeltstadt nur ein winziger Punkt in menschenleerer Öde. Ringsum, wohin wir auch nur unsere Blicke wenden, erheben sich Zinnen und Gräte, Nadeln und Dome, gleissen Firne und Eisabbrüche. Düstere, abweisende Wände schiessen unvermittelt aus weiten, weissen Gletschern empor.

Kein Mensch hat je seinen Fuss in diese Bergwelt gesetzt, alles ist jungfräulich unberührt. Wie freuen wir uns auf den morgigen Tag, an dem endlich Hundeleinen und Ski ruhen dürfen und wir mit Eispickel und Steigeisen den lockenden Eisriesen zu Leibe gehen können. Weit offen stehen uns die Tore zu diesem Bergsteigerparadies.Schluss folgt. )

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