Skizzen aus dem Engadin | Club Alpino Svizzero CAS
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Skizzen aus dem Engadin

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Von Arthur Manuel.

Festa da chant.

Ob Engadiner singen können?

Geh, hör sie selbst! Wie bei allen Bergvölkern vermutet man auch bei ihnen, nun — was den Schweizer ausmacht: ch, ngg, ngkk Ja, wenn sie keine Romanen wären. Wenn ihnen das « bun di! » und « buona saira! » nicht als Herzensmelodie über die Lippen käme. Freilich, nicht jeder hört diesen Gruss. Nicht jedem schliesst sich dieser Bergländer innerlich auf. Singen hört ihn fast keiner. Wenn er singt, muss er unter seinesgleichen sein. Und auch dann — singt er nur, wenn er will. Freilich, eines muss man ihnen allen lassen: wenn sie sich einmal zusammentun, wie zum Beispiel grad heut, dann klingt 's!

!'s war auch ein Tag!

Gletscherfirnis schon in der Hahnenfrüh, kaum dass man zum Bette heraus. Der Jodler war einem gewissermassen nur so auf die Zunge gelegt. Nun muss ich aber sofort bekennen, dass ich noch nie einen Engadiner jodeln gehört. Auch das Alphorn kennen sie nicht. Gottseidank! Denn einen Alphornbläser kann man sich heutzutage leider nur noch mit einer gelben Weste vorstellen, die Hirschknöpfe sind in einem Warenhause gekauft. Sei es drum! Die, die ich heut'gehört, haben aus dem Herzen gesungen. Und was das Besondere war: es war eine grosse Weichheit auch in dem kräftigsten Ton.

« Al Otissem. Dieu in tschêl! Giubilami » Wie das klang! Nun, die Wiese, wo sie sangen, war auch danach. Kein Rummelplatz! Ein Kleinod ver-schwiegenster Natur und doch von tausend frohen Menschen belebt. Unten bei Schuls. « Scuol! » wie sie selber es nennen. Von Jungholz umrahmt. Um-armt vom rauschenden Inn. Überstaffelt von den Bergen im Frühlingsschnee. Frühling war 's unter den Leuten selbst! Kinder in Anemonengewand, die Kleinsten als lieblichste Schneeglöckchen geziert. Die Älteren, die scheu schon Errötenden, als Alpenrosenknöpflein geschmückt. Nur das Edelweiss fehlte. Warum? Aus Bescheidenheit nur, denk ich. Doch zum Festplatz zurück! Nein, etwas Bunteres habe ich wirklich noch niemals gesehen. Sogar ein Fisch war da, eine Riesenforelle, gewiss sechs bis acht Meter lang, mit zwei leibhaftigen Buben in ihrem Bauch. Bis auf die wandelnden Beine hatte sie die Burschen gänzlich verdaut. Um sie zu angeln, waren acht erwachsene Fischer vonnot. Fischer, die nach dem Umzug gleich auf die Gesangbühne sprangen. Nur die pfeifenrauchenden Bärentöter, die Schwerenöter, blieben gefühllos neben ihrer ausgestopften Beute auf ihrem Jagdwagen sitzen, liessen sich bewundern und schmauchten ihr Kraut vor sich hin. Sie waren die, sol Mochten sie ihren Stolz haben! Was sonst in dem farbenfrohen Umzug durch die bewimpelte Festgasse zog, zwei Dutzend verflixt hübsche dunkelrote Trachtenmeitschi dabei, das hatte sich nun vor die Festbühne gesetzt, vor der — wie auf erhöhten Stühlen des jüngsten Gerichts — das dreigliedrige Preiskollegium sass. Glaube wohl, das der eine oder andere Sänger bei diesem Anblick ein bisschen ins Tremulieren hineinkam. Doch die Dirigenten — zwanzig bunte Vereinsfahnen waren als seitlicher Speerwald aufgepflanzt — hielten und schwangen mit gesteiften Rücken ihre Stöcklein recht wacker. Sogar ein sangeskritischer Meister hätte an ihnen allen gewiss seine helle Freude gehabt. Ob ihre « Chanzuns » nun von mehr oder weniger berühmten Komponisten stammten! Was tat 's?

« Dalspiz nel cler azur Glüschast tu in splendur, o libertà! » Das war der Grundton. Vom Grabgeleit des jungen für die Freiheit gefallenen « Fähnrich » bis zum letzten Gruss ans Vaterland, das der junge Bursch über den Hügel ruft, wenn er in die Welt zieht. Zum Tal hinaus, das sich so verheissungsvoll nach Süden auftut. Frühling war in der Luft. Lenz. Die Knospen der Birnbäume platzten auf. Der Lärchbaum zitterte vor verhaltener Lust. Das Tal war olivengrün. Und das Herz wurde lind. Die Mädchen trugen schon blosse Arme. Die Anemonen lauschten im Feld. Festa da chantIch habe mich wieder in den Zug gesetzt und bin ins Oberland gefahren. Der gewaltige Piz Linard reckte seine schroffige Felspyramide über das Tal. Die Berge wurden höher und wilder. Die Firne rückten näher zur Talsohle herab. In Wellenform lag weiter oben noch Schnee auf dem Feld. Ein letzter Skiläufer warf seine Bretter in einen Gepäckwagen hinein. Geduld. Geduld: Der Gesang der « Engiadina Bassa » und des « Val Müstair », den ich heute gehört: er wird bald auch die obere Welt des Eises erobern. Auch die Sänger von St. Moritz, Samaden, Zuoz, haben sich dort unten ihre Herzen erwärmt. Wie lang weiss ich nicht. Vielleicht ist eines für immer entbrannt...

« Festa da chant! »

Puntraschigna.

Es gibt Hotelfassaden, die einem italienischen Salate ähnlich sehen, andere, nicht minder moderne, gleichen den Ausstellungstürmen, die man hinter den Scheiben einer mongolischen Konfiserie anstaunen kann: Eiffeltürme aus Nuga, Wodkaflaschen in Form chinesischer Tempel, dazwischen tellergrosse russische Lebkuchen, die an Fladen des Appenzellerländchens erinnern: kunterbunte Hexerei, Farbengesprenkel aus einem abgelebten Parnass: Garagen, die ausgesogenen Ostereiern gleichen: Aussichtstürme vom Bord eines Panzerkreuzers gestohlen. Alles ist allen erlaubt! Sehe jeder, wie er baue, und wer baut, dass er nicht falle...

Die Erbauer von Puntraschigna haben glücklicherweise nicht alle diese Möglichkeiten gehabt. Die Hotelstadt, die sich an die alte Sarazenenstrasse gestellt — Saratz ist noch immer das älteste Hotelmeistergeschlecht —, wurde von zwei übermächtigen, rein naturhaften Faktoren bedingt: die Passstrasse und die selbst im Hochsommer gepuderte Schneespitze des Languard, der sich wie ein himmelborender Zeigefinger Gottes über dem Pontresinerdorfe direkt in den unergründlichen Himmel erhebt: diesen Himmel von grau bis tief grün, den ein Hauch der venetianischen Lüfte umweht: der Aussichtsturm des Engadins, der die Dolomiten, den Po und jene verdämmerten Streifen beherrscht, hinter denen zu gewissen stürmischen Zeiten die Adria zischt: immer wieder zieht es die Pontresiner hinauf: von tausendjährigem Heimweh erfasst, von ungestillter Begierde erfüllt: sie werden ihn niemals über-bauen, ihren Berg: von der Spitze des Languard gleicht ihr Dorf dem Silberfaden einer Spinne, der sich wie eine verlorene Kette auf die Strasse des Berninaweges gelegt. Rechts schimmern Dächer, links flimmern Ziegel: die Sonne steht senkrecht über der Stadt: die drei Kirchen, zwei gewaltige Hotel-türme und einen wirklichen Sarazenenturm hat, den sie den « Spanier » nennen, neben dem frommen Totenkirchlein Santa Maria nimmt er sich in seinem grauen Gemäuer wie ein unbekehrbarer Heidenfürst aus: dem Pass zugekehrt, das Dorf tief im Rücken. Steigt man von der Schneepuderspitze des Languard den granitenen Bergpfad über Alpen und Weiden und duftenden Tann wieder auf die frische funkelnde asphaltglitzernde Dorfstrasse hinab, die sich als wunderbare Gerade aus dem Gemäuer der obersten Häuser direkt bis vor den Turm des grauen Schlosshotels wirft, das sein Löwenhaupt gegen die sich öffnende engadinische Talschaft hebt, zu gewissen Stunden in der täuschenden Naturfarbe des hinter ihm sich türmenden Berges: nun, dann wird man freilich den Vergleich der verlorenen Silberkette verlassen — oder ihn symbolisch umzudeuten versuchen: die Schaufenster von Juwelieren, erstklassigen, wenn auch bescheidenen Sportgeschäften, von Reisebureaux, Shops of antic Art ( venetianische Vasen flimmern hervor ), von Banken und tipp-toppen Likörflaschen schimmern versucherisch in das verwöhnteste Auge, das sich hier, rühmenswertes Lob, nur an Echtem ergötzt. Und das ist es denn auch, dieses Echte, Ungefirnisste, dass man als wahre Wohltat an diesem lang-leibigen schlanken Hoteldorfe empfindet: der Luxus, der während der Sommerwochen abends auf der Dorfstrasse promeniert, hat bis jetzt den Adel weitgereister Geschlechter bewahrt: kein italienischer Salat und auch nichts aus einer mongolischen Konfiserie: bescheidene Vornehmheit verwöhnter und gerade darum einfacher Menschen: wer mit allzuvielen Hutschachteln erscheint, dem — oder der — wird sogar vom Hotelburschen scheel über die Achsel gesehen. Letzten Endes bleibt Pontresina ein Bergsteigerdorf: das dort am Fusse des Languard, den die gefeixten Bergführer Ölberg nennen: den Wegweiser in die Gletscher des tausendfaltigen Berninamassivs. Wer in dessen Schluchten, Wäldern und Tälern nicht Einfachheit lernt: der mag das Waldkonzert dirigieren, das jeden Vormittag den Erholungsbedürftigen und den Spätaufstehern spielt, unter denen es sogar manchmal einige weltberühmte Kapellmeister geben soll: die Chance, sich vor diesen eine lebenslängliche Blamage zu holen, ist also sehr gross. Genug jetzt davon!

Auch die Tennisplätze, die im Winter zu flimmernden Eisspiegeln werden — einige Sarazenen sind als wahre Eiskünstler bekannt —, bieten Gelegenheit zum Ausgleiten genug. Grosstuerei bestraft sich nirgends wie hier. Engländer mit langen sarkastischen Gesichtern laufen als Hüter der Ordnung seit Jahrzehnten in tadellos geschnittenen unauffälligen Knickerbockers herum. « Puntraschigna », der äusserte Vorposten des Orients, hat diese Briten seit jeher über die Golflinks in der Ebene gelockt, durch die zwei Bahnen — die biedere rätische und der Goldkäfer der Bernina — das durch keine Reise in die Brüche zu bringende englische Leder aus der Tiefe herauf rollen. Season for season. Der vornehme bescheidene Deutsche wird von ihnen mit welt-männischer Reserve als Bruder begrüsst. Oder soll man, um den Bund der Völker zu erleben, den Sarazenenturm nach Konstantinopel verpflanzen?...

Mahnend erhebt sich der Zeigefinger des ewigen Dorfhüters Languard!

Blick in die Weite, Ewigkeitsblick, ist sein Name zu deutschPuntraschigna hat seine Geste bis heute verstanden: der Gehorsam gegen sich selbst erhielt dieses Bergsteigerdorf immer vornehm und gross. Das Luxusautomobil, das in lauschigen Gassenwinkeln neben silbersprudelnden Dorfbrunnen parkiert, ändert hier nichts: die Gäste, die es im Fluge nach Venetien trägt, werden sich an Puntraschigna erinnern: es ist die letzte Station vor dem ewigen Schnee. Als letztes Wappen glänzt vom ältesten Hotel ein kleines engadinisches Steinböcklein auf: die Vorderbeine hoch in der Luft... Punkt.

Morteratsch.

« Und wenn ich zwölf Sprachen spräche, so wäre ich hier ein Analphabet! » Dies das Geständnis des Wirts, der das internationalste aller Gletscher-restaurants betreut, der junge Herr von Morteratsch, dem man nur wünschen möchte, dass er statt der in der Schweiz für einen Hotelier noch immer fast obligatorischen schwarzweiss gestreiften Hose den kurzen « Kniewix » eines Bayern oder Österreichers trüge. Hat sich doch sogar der alte Kaiser Franzi nicht geschämt, Kniehosen zu tragen! Wir sind nun aber einmal in der Schweiz, und die Schweiz ist für die Engländer, die Amerikaner, die Japaner, diewas sage ich. « Wenn einer zwölf Sprachen spricht. » Deutsch ist natürlich noch immer die Sprache, die man am Gletscherrande am besten versteht. Da, im Nebengebäude, haben sich eben zwanzig junge deutsche « Exkursanten » zwischen die Bretter genistet. Was für Prachtskerle! Was für junges herrliches Blut! Blut, das schon morgens in aller Herrgottsfrühe sein Morgenstahlbad will. Hinaus in den Schnee! Der Exkursionsleiter, ein silberfrischer Professor, der den Kaukasus und hundert andere grossartige Welten gesehen, turnt mit. Brust heraus! Knie durch! Atem in die Lungen einziehn! Hernach das Frühstück. Und dann? Dann — mit der unvermeidlichen grünen Büchse — auf die Jagd nach der Gletscherflora, die auf den Moränenhügeln gedeiht!

Diesen Hügeln vor Morteratsch. Am Fuss der Bernina, am Fuss des Palü! Ist es noch nötig, auf dieses ungeheure Massiv hinzuweisen? Neulich haben es die Filmer getan. Sie, die die « weisse Hölle » gefilmt. Es gibt aber andere, die nicht die « Hölle », sondern die Gletschersonne filmen. Nicht den Sturz in die Gletscher, sondern den strahlenden Aufstieg auf die « silberne Bernina », den noch keiner bereut. Wer einmal oben war — und Tausende haben den Aufstieg unter bewährter Führung gewagt —, der wird dieses grösste Engadinererlebnis niemals vergessen. Er erzählt wenig davon. Es leuchtet ihm aber in die späten Jahre hinein... Wisst ihr aber, wo man dieses Erlebnis zuerst und am stärksten geniesst? Dort, dort hinten in Morteratsch, jenem Gletscherrestaurant, am ersten grossen Knie der Berninabahn, die den Alpinisten von St. Moritz oder dem nahen Pontresina herführt. Automobile werden hier keine geparkt. Dieses letzte Reservat « unberührter Natur » ist dem Morteratschplatze geblieben. Bleib'es noch lange! So lange wie das uralte Ledersofa, auf dem man seit Bergsteigerszeit die heil oder zerschunden von den Gletschern heruntergetragenen Gliedern ausstreckt. Wer spürt sie hier noch, wenn er — vielleicht nach stundenlangem Schneegestampf — in das tiefe weiche Leder versinkt? Einen leichten wundervollen Veltliner vor sich? Hier kann einer Weltbrüderschaft trinken: russisch, japanisch, chinesisch, Hawai! Der Deutsche aber setzt sich hinter einen Postkartenberg oder schlägt einen silbernen Stocknagel ein. « Morteratsch! » raunt der Gletscher. Wer wirklich dort hinten war, kann aller Stocknägel entbehren.

Sturz ins Bergeil.

Kein querulanteres Schauspiel als dieser Sturz ins Bergell. Dieser Gleitsturz aus der Eiswelt des Oberengadins zu den blühenden Kirschbäumen der Bregaglia hinab. Überstürzter hat die Natur nie gehandelt als damals, wie sie diesen Bergellerkessel erschuf: das Treppenhaus des Südens zur Eiswelt der Gletscher. Endlich, nach Jahrtausenden, kam dann noch der zähe menschliche Geist, der einen dreiachsigen vierzigplätzigen Turistenwagen erfand, der einen in einem weichgepolsterten Lederstuhl spielend über alle Fährnisse des Tals in die Tiefe oder in die Höhe kurbelt. Gottseidank, dass es kein Lift! Gerade diese verwegenen Kurven der Malojerstrasse, die einen blitzartigen Wechsel des Panoramas vermitteln, machen den prickelnden Reiz dieses Naturerlebnisses aus.

Aber auch wer die Strasse zum hundertsten oder gar tausendsten Male genommen, wer den Sturz aus dem Eis ins Tal der olivgrünen Lärchen nicht mehr mit der erschütternden Gewalt ersten Staunens erlebt: dem bleibt immer noch eins: der Blick auf den Führer. Er, er allein ist Schauspiel genug. Der Mann mit der Hand, das Wesen, dessen ganze Energie sich in die Finger und Arme gelegt: der Kraftwagendirigent, der das Schicksal von dreissig bis fünfzig Menschen in einem einzigen Fingerdruck hat. Aber siehe da: man vertraut sich ihm an. Die Ruhe, die seine kurzgedrungene Führergestalt ausströmt, wirkt wie ein Kraftfeld tief befriedigend nach hinten. Und, sich einmal gänzlich in der Hand eines andern wissend — ihm volles Vertrauen zu schenken — macht das nicht den grössten Triumph jedes wahren Abenteuers aus? Hier bin ich, mach was du willst. Der Postwagenführer sitzt an der Kurbel — und schweigtAuch der Reisende schweigt. Jetzt, im Frühjahr, fährt meist nur einheimisches Volk, das Volk der Bregaglia, das Volk des Engadins, das in den klangvollen Kadenzen der romanischen Sprache nicht in fremde Talschaften eilt. Der Pass bildet keine Grenze, Kirschbäume und Gletscher gehören in die gleiche Gemarch. Mancher Bergellerbauer hat einen Acker im hochalpinen Fextale stehen. Mancher Fexer presst im Süden unten seinen eigenen Tropfen Nostrano. Ist es so zum Verwundern, dass dieses Volk auf einer ewigen Wanderung ist? Äcker und Wiesen, Kastanienbäume und wilder Arvenbestand: alles gehört dem Volk an der Treppe, die vom Eis zu den Kirschbäumen führt. Von einem Maler auf die Bretter gestellt würde die Landschaft zu Kitsch. Aus sich selber genossen aber sprüht sie unvergleichliches Leben!

Zweimeterhohe Schneeränder neben trockener staubfreier Strasse. Dies für diejenigen, deren höchste Lust, die Welt auf Gummireifen zusehen.

Den immer seltener werdenden Fusswanderer, den Pilger, der von Norden nach Italien zieht, mag die erste hochgelegene Kirchenruine entzücken, an deren Gemäuer die bunteste Sonntagswäsche von zwanzig junggeselligen Strassen-ausbesserern hängt, die jetzt mit nackten Füssen in der Alpwiese liegen. Der Bädekermensch wird seine Reisebibel bei jeder Strassenkehre nach einem neuen oder alten Kastelle aufschlagen: er ist der einzige, den man hier prellt! Die Natur ist rascher als er, so rasch und wild wie der Bach, der vor einigen Jahren die untere Talschaft verwüstet, Wiesen mit Felsen übersäht, Brücken wie Spielzeug von ihren Pfeilern forthob.Ich springe aus dem Wagen. Der erste Hauptfleck des Tales ist erreicht. Kostümiertes, mittelalterliches Volk steht auf der Strasse. Im Saale eines mächtigen Gasthauses wird ein Stück der intrigenreichen Geschichte dieser Talschaft gespielt. Vom Volke selbst: das sich immer wieder in sich selber erlebt: jetzt, wo oben noch der hohe Schnee liegt und unten der Kirschbaum blüht: jetzt hat man Zeit sich zu sammeln. Bald setzt der Fremdenstrom ein, und der Einheimische weiss kaum mehr, wo er seinen Nostrano hernimmt. Ich selber habe mich jetzt mit ein paar anderen « Einsamen » zusammen in ein kleines uraltes Bergellstübchen gesetzt: auf einen geschnitzten Stuhl vor einen geschnitzten Tisch: eiserne Harnische an den Wänden, in der Hand aber das duftende Brot, das man als Zugabe zum herrlichsten bergellischen Risotto geniesst.

O Bregaglia!

An den Bächen stehen die Fischer und halten ihre meterlangen Ruten in der Hand. Es ist nicht die schlechteste Forelle, die einem hier in die Schüssel springt. Gletscherfisch in der Zubereitung des Südens... Sì, sì.

Filmer auf Eis.

Filmer sind Teufelskerle!

« Heil! Heil !» reissen sie zwanzig Knatterpistolen aus dem Gürtel — mitten auf der Dorfstrasse — und krachen ihre Schüsse gegen die Fenster eines Engadinerhotels hinauf, in dem seit einigen Tagen, im elegantesten aller Rennwagen angefahren, ihre Atelierkönigin wohnt, die braune Gletscherschlange, die, die Puderquaste in der Hand, für die echt filmartig indianische Huldigung dankt. Die Burschen, ihre ergebenen Leinwandtrabanten, alles Kerle von Fleisch und Blut, ziehen jetzt los: eine wilde Bande, die einen zwanzigplätzigen riesigen Saurer erobert, Hüte schwenkt, nochmals in die Luft hinausknattert und dann abdonnert auf jenem Wagen, der sie auf Gummireifen bis an den Rand des Gletschers hinführt. Was die Kerle da hinten filmen und was ihre indianische Schlange, die als elegante Ball-königin diesen Abend noch im Hotel verbringt: ich werde es nicht ausplaudern. Ausplauschen wäre Verrat! Verrat an den Burschen, die sich schwebend am Seil in abgrundtiefe Spalten hinabsacken lassen. Verrat an der braunen Haut ihres ersten weiblichen Stars, die, von Fackelschein umgeben, da hinten sich irgendwo als Eisbraut abkurbeln lässt. Auf jeden Fall wird da einmal auf einem richtigen wirklichen hunderttausendjährigen Gletscher, leibhaftig und beinahe tödlich geschossen: alles ist echt, kolossal: die Fackeln aus Pech, die Kulissen aus Eis, die Gletscherseile, die ein wirklicher Engadinerbergführer auf ihre Hanffestigkeit prüft: echt sogar das Benzin oder Tropenöl, das der Flieger, der Sturzflieger, auspufft, der in tollkühnem Schuss Lebensmittel in den Kulminationspunkt des Eisdramas spuckt: all das ist echt, natürlich, grossartig, wahr: all das wird schon im nächsten Herbst Millionen Grossstädter in allen Städten unseres Planeten entzücken. Filmer sind Teufelskerle! Nur der Teufel selbst.

Er hat sich in die braune Haut der Eisbraut verkrochen. Alle ihre Burschen sind unsterblich in sie verliebt: doch kein einziger lockt ihn hervor: sie ist kalt, sie lächelt: sie hat für jeden nur eine Fingerspitze bereit. Für diese Fingerspitze aber, bei Gott, lassen sich ihre Trabanten in die wirklichen abgründigen Gletscherspalten hinab. Ohne diesen Enthusiasmus nützt alles Eiskurbeln nichts!

Filmer sind Pioniere der Zeit!

Hollywood?

Nein, ein Gletscherdorf im Engadin. « Der König der Bernina » — in Amerika auf Leinwand gedreht — ist ein Pappendeckel, ein weisses Watten-bündel dagegen...

Es ist wieder ruhig geworden am Gletscher. Ein Filmer, ein kleiner schwarzer Punkt, ein Stäubchen? das für den Gletscher eine Mücke bedeutet, ist in einer Pulverlawine geblieben. Er lächelte noch, als sie den Schnee von ihm bliesen. Es war das Lächeln, das der grossen Verführerin galt: der Gletscherschlange aus Eis, die für jeden eine Fingerspitze persönlicher Dankbarkeit hat. Sie selber ist in einem Theatermantel, in einem herrlich geheizten Rennwagen über alle Pässe nach Süden gefahren. Nur die Filmer, verwundert, berauscht, standen noch lange auf Eis. Ihren toten Kameraden hat man vor der Eiskirche des Gletscherdorfes begraben. Wenn der Frühling kommt — und er kommt bald — wird man einen Kurbelkasten als Grabstein errichten.

Profan? « Die Filmer auf Eis », ist auf dem Kasten zu lesen.

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