Sonnenstunden auf dem Salbitschyn-Südgrat
Von Kaspar Wolf
( Basel ) Sonnentrunken und faul wie Eidechsen lagen wir auf den warmen Felsen des Salbitzahnes. Vormittag war 's, noch reichten die Schatten nach Westen. Zeit genug, um zu himmelstürmen. Oder liegen zu bleiben.
Wir jedenfalls lagen fest vor Anker. Unser Tatendrang war müde, der Körper voller Trägheit, die Fingerhaut dünngeschabt. Einmal liegenbleiben, lange liegenbleiben! Und schauen, wie es andere tun.
So hingestreckt sahen wir gerade noch den Schlussteil des Südgrates sich weit oben im Himmel verlieren. Man musste den Rucksack unter den Nacken schieben, um den zwei Felsgängern gegenüber auf ihrem schweren Himmelsweg folgen zu können.
Es waren blutjunge, sympathische Franzosen; zweifellos Aiguille-Katzen. Sie hatten die Gewohnheiten der grossen Könner, trotz ihrer Jugend: den Hüttenabend verbrachten sie still für sich plaudernd bei Kaffee und Zigaretten; über ihr Ziel äusserten sie sich bescheiden und ausweichend: am Südgrat wollten sie sich versuchen; sie leisteten sich den Spass, bis 7 Uhr auszuschlafen, frühstückten gemächlich an der Sonne vor der Hütte, und waren um 9 am Einstieg, als die warmen Felsen zum Handanlegen einluden.
Die glückliche Konstellation verschiedener Umstände liess uns dem Bergsteigen eine neue und überraschend genussreiche Seite abgewinnen: das Zuschauen. Bisher hatten wir das Erlebnis in der eigenen Tat und im geruhsamen Beschauen gesucht. Doch der für den Augenblick gestillte Tatendurst, unser einzigartiger Ausguck, wie eine Loge dem Schauplatz des dramatischen Geschehens gegenüber gelegen, Akteure dort drüben, die als Meister ihres Faches zu erkennen waren, all dies drängte uns unversehens in die sanfte Rolle des Zuschauens. Und wie dankbar fügten wir uns bald dem Gebot der Stunde, dankbar nicht nur für das Dargebotene, dankbar ganz allgemein dem « Berggeist », dem freundlichen und gewaltigen, sanften und schrecklichen, fordernden und schenkenden, dem Spender aller Bergfreuden.
Der Südgrat griff hart trennend in den Sonnenglast. Herrlicher Licht-jubel auf der einen, finsterste Schattengrüfte auf der anderen Seite.Ver-bindend und trennend zugleich die Kante, der einzig mögliche Menschenweg, dem zu folgen man unerbittlich gezwungen ist oder, falls ein Ausweichen in die Licht- oder Schattenseite unumgänglich ist, zu dem man sich wieder zurückfinden muss. Es war ein berauschendes Spiel mit schicksalhaften Symbolen des menschlichen Lebens, was die beiden Kletterer vollführten. Hartnäckig mochte der Führende den Weiterweg auf den rötlich leuchtenden Pranken der Sonnenflanke suchen; schliesslich musste er klein beigeben und sich mit einem Fuss, mit beiden Füssen, mit ganzem Körper und mit voller Seele der bösen Seite anvertrauen. Ein aufregendes Schauspiel für uns, wie der zweite vom sonnigen Port aus sicherte, wie das hell leuchtende Seil von ihm weg zur trennenden Kante führte und dann für den Zuschauer zu existieren aufhörte, nur eine Ahnung vom unsichtbaren Kampf im Schattenreich andeutend. Und dann — dann war der Durchbruch gelungen! Ein Kopf tauchte plötzlich weiter oben ins Lichtmeer, dem bald der ganze Körper folgte. Dann stand der Mensch wieder prächtig frei und aufrecht auf der Lichtseite des schwierigen Weges. Er blickte glücklich, sich kurz erholend, in die offene Runde, grüsste mit weiter Gebärde die beiden Faulenzer tief unten, musterte kritisch den Weiterweg und holte schliesslich gemächlich das Seil ein. Der Gefährte hatte leichtes Spiel. Mochte der Weg in die Finsternis führen. Es galt lediglich, dem sicher weisenden Seil zu folgen, diesem Gängelband zwischen dem Suchenden und dem Festverankerten.
Die beiden Burschen gingen ausgezeichnet. Die französische Kletterschule war unverkennbar. Kein bedächtiges Anpacken und stufenweises, gleichmässiges Hochklimmen, wie es uns Schweizern liegt. Es verriet etwas vom Temperament der Franzosen an und für sich, von ihrer Eleganz und ihrer Unbekümmertheit, was die beiden dort weit oben demonstrierten. Sie suchten kurz, griffen mit beiden Händen fest zu, und eins, zwei schnellte sich der Körper hoch, die Hüften weit vom Fels, die Füsse prachtvoll abgestemmt, nahe den Händen. Sofort griffen diese höher, sofort folgten die Füsse. Tritte schienen kaum nötig, nur Griffe. Fehlten solche oben, dann halfen nicht minder kühne Untergriffe, die nicht nur Kraft, sondern auch meisterhaften Gleichgewichtssinn erfordern. An besonders schweren Stellen stockte die Bewegung oft minutenlang. Für uns schien eine unbewegliche Fliege an praller Wand zu kleben. Plötzlich war das nötige Griffsystem erkundet, und blitzschnell schob sich der Körper drei, vier Meter höher. Bei schrägen Rissen an senkrechter Wand, nicht selten am Südgrat, glaubten wir durch die halbgeschlossenen Augenlider eine behende Spinne zu sehen, wie sie, ihren Faden nachziehend, hurtig aufwärtskrabbelte.
Es ist müssig, über Vor- und Nachteile der Klettertechnik zu diskutieren. Unserer Art gemäss suchen wir eher die ausgeglichene Vorwärtsbewegung, die Welschen eher das Sprunghafte, Kapriziöse.
Auf der Plattform vor der schweren Schlüsselstelle entschwanden die beiden unseren Blicken. Ich dachte an Rast und schloss die Augen. Doch sofort weckte mich mein Freund. Der Berggeist griff ureigenst in das Geschehen ein. Es spukte. Sonnenstrahlen schössen durch eine Felslücke unterhalb der Schlüsselstelle und brannten einen grossen Lichtflecken auf die riesige Schattenwand. Und auf diesem Lichtflecken bewegten sich zwei überdimensionierte, sonderbare Schattengestalten. Was die Plattform uns vorenthielt, offenbarte uns das Schattenspiel:
der schwierige Einstieg der beiden Burschen in die Schlüsselwand. Es war für uns Sonnenbetäubte eine grandiose Vision des Bergirrationalen, ein Film zugleich des dritten Drama-aktes, des tragischen Höhepunktes. Zuerst gespenstische, ruckhafte Vor- und Rückwärtsbewegungen, hierauf minutelanges, geducktes Verharren — ein unbeweglicher Schattenfleck auf unserer seltsamen Sonnenleinwand — dann stürzte der Fleck urplötzlich aufwärts, verschwand im Schattenreich — und auf der Sonnenkante tauchte unsere Spinne quicklebendig wieder auf, krabbelte und zuckte und stieg... so gespannt folgten wir diesem Spuk, dass wir den Atem anhielten, dass selbst die Natur gleichsam den Atem anhielt, bis man schliesslich das Einklinken des Karabiners in den sichernden Haken zu vernehmen glaubte. Durch! Ein wilder Jauchzer rollte das Gemäuer hinunter. Ein Bravo stieg hinauf.
Als ich später erwachte- und geblendet nach oben blinzelte, überschritten die zwei, winzig klein, den Gratgipfel. Das Ziel war erreicht. Die Sonne stand kaum auf Scheitelhöhe.
Um uns wurde es nun still.
Wir schlössen die Augen erneut und träumten. Hatten zwei andere diesen Himmelsweg erstürmt, oder wir zwei? Bunte Bilder unserer Seele, Erlebtes und Geschautes in wirrer Folge, leuchteten auf.
Die Schatten reichten weit nach Osten, als wir uns endlich auf den Weg machten.