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Sport im Hochgebirge

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Von Rudolf Campell.

Es sieht heute ganz so aus, als sei der Bergsport zu einer Lebensnot-wendigkeit geworden, als müsse der Körper ohne ihn verkommen. Inwiefern hier die Massenpsychose mitspielt, wieviel die Mode, wieviel die Angst vor einem zu dicken Bauch, wieviel endlich das instinktive Bedürfnis nach körperlicher Leistung oder die Freude an Schönheit und Harmonie beitragen, ist schwer auseinanderzuhalten. Wie sonst mit Vorliebe bewegt sich der Mensch auch hier in Extremen; er ist ja Herdenvieh bis weit hinauf in den Kreis der Intellektuellen.

Wenn es uns in dieser kleinen Studie auch nicht möglich sein wird, den äusserst weitläufigen Komplex des Bergsportes im einzelnen zu behandeln, so interessiert es uns doch, den Stoff einigermassen zu überblicken: Als über alle Zweifel erhaben dürfte heute die Forderung gelten nach systematischer körperlicher Pflege für die Jugend und für alle diejenigen, die an sitzende Lebensweise gebunden sind. Ebenso geläufig ist auch die Erkenntnis vom günstigen Einfluss des Bergklimas und der Höhensonne auf den gesunden und auf den kranken Organismus; wenn auch — trotz gewissen-haftester Forschung — vorläufig noch zuzugeben ist, dass von den wirksamen Faktoren nur ein kleiner Teil als erforscht zu gelten hat, dass über andere Fragen noch Zweifel und massenhaft Hypothesen bestehen, und dass man über weitere Probleme noch ganz im unklaren herumtappt, so beweist doch die tausendfache Erfahrung, dass die Wirkung des Hochgebirges eine viel intensivere ist, als die wenigen bisher sicherstehenden Tatsachen es erklären lassen. Das genügt, um den Schluss zu erlauben: Sportbetätigung ist gesund, Hochgebirgsaufenthalt ist gesund, also ist Sport im Gebirge noch wirksamer als jeder Einzelfakior für sich allein. Fügen wir noch hinzu, dass die Bewegung in der Höhe durch die Schönheit der Natur jedes menschliche Herz erfreut, so ist es nicht schwer, an eine potenzierte Wirkung des Sportes in schöner Hochgebirgslandschaft zu glauben. Schwerer dürfte es allerdings sein, einen über alle Zweifel erhabenen Beweis zu bringen. Es reizt einen, hierin wenigstens einen kleinen Versuch zu wagen.

Die Wirkungen des Sportes im Hochgebirge auf den Körper lassen sich am leichtesten überblicken bei der heranwachsenden Jugend unserer Gebirgs-kurorte, für welche der Sport zur zweiten Natur geworden ist. Dort interessieren diese Probleme nicht nur den Arzt, sondern auch die Eltern und die Erzieher in hohem Masse 1 ). Es ist klar, dass man nicht von den Wirkungen der Sporttätigkeit auf die dauernd im Hochgebirge lebenden Individuen sprechen kann und dabei kurzerhand auch die — nur vorübergehenden — Sportbesucher miteinbeziehen darf. Um berechtigte Schlüsse ziehen zu können, ist es aber notwendig, möglichst viele Fehlerquellen auszuschalten; so studiert man zunächst am besten die gesunde Gebirgsbevölkerung. Über Akklimatisationserscheinungen hat ja die Forschung grosse und wertvolle Werke geliefert, die wir hier nur erwähnen wollen. Wünscht man, sich über die Übel und Gefahren der Bergsteigerei näher zu orientieren, so gibt es meiner Ansicht nach kein besseres Beobachtungsmaterial als die Bergführer, die ihr Leben lang Sommer und Winter bergsteigen und skifahren 2 ).

Um nicht zu wiederholen, wollen wir heute die Einflüsse des Bergsportes auf den menschlichen Körper nicht weiter verfolgen, sondern versuchen, die psychologischen Faktoren in ein etwas helleres Licht zu versetzen. Trotzdem Bergsteigerei und Skisport eine relativ kurze Geschichte haben, ist es bei uns zur auffallenden Tatsache geworden, dass sich alle Volksschichten dafür interessieren. Wenigstens hierin sind die Anhänger verschiedener Parteien, ja sogar grundverschiedener Lebensanschauungen einig. Mit einer prinzipiellen Gegnerschaft hat man heute kaum mehr zu kämpfen. In allen Ländern zählen die Alpenvereinigungen und Skiverbände Hunderttausende von Mitgliedern: Karten, Kurse, Bücher, Schriften, Hütten, auch Vergünstigungen aller Art sorgen für weitere Popularisierung der schönen Sache. Ja, selbst auf internationalem Boden, wo heute das Gewirr grösser ist als je, verträgt man sich in alpinen Fragen sehr gut. Wie ist wohl das zu verstehen? Droben in der erhabenen Bergnatur sind eigenartigerweise auch Leute mit grundverschiedenen Lebensanschauungen gute Freunde, nicht selten besteigen sie am gleichen Seil die Berge.Vor der einzigartigen Schönheit und Grosse der Bergwelt vergisst eben der Mensch seine Kleinlichkeit, seine Steckenpferde, er wird grosszügig; er wird herausgehoben aus dem Alltäglichen; das macht ihn besser und gerechter. Wie nötig wäre es gerade heute, diesem Rätsel etwas näher auf die Spur zu kommen! Wie viele fast unerklärliche Taten des Menschen lassen sich nur erklären aus dem örtlichen und geistigen Milieu, in dem er momentan lebt.

Das heutige Stadtleben, besonders in Industriegegenden, hat beim Menschen ein starkes Bedürfnis gross werden lassen, mit der unverdorbenen Natur wieder näher in Berührung zu kommen. Er ist müde vom täglichen Trubel, vom Stadtlärm, vom zehrenden Geschäftsgebaren, von der gehetzten Arbeitsweise, vom ermüdenden Gesellschaftsleben, von Trinkereien und Fressereien ohne Ende; er verlangt nach ursprünglicher Einfachheit und Natürlichkeit. Wo Soll er sie in Mitteleuropa noch finden: Versammlungen, Theater, Konzerte, Fussballmatche, Vorträge, Rennen, Tram, Auto, Lärm, Hass, Parteipolitik, Konkurrenz, Kohlenstaub, Benzindampf und Gestank, Lichtreklame, Telegramm, Telephon, Menschenknäuel, wo er hinsieht! Wo ist da Natur? Überall nur Hetze ohne Ende. Die Seen sind voller Leute, die Wälder wimmeln von Spaziergängern, in den Häusern nur Radio und Menschenlärm: Da flüchtet, wer nur kann, und geht in die Berge. Siehe, dort ist Platz für alle. Je höher der Mensch steigt, desto einsamer wird er; und verlässt er die tägliche Route, so ist er allein mit der Natur. Wie wohl wird es ihm dabei! Er ruht aus trotz stärkster körperlicher Leistung; sein Kopf wird klar, die Gedanken ordnen sich wie von selbst. Der Mensch, der sich enorm wichtig vorkam im Kreise seiner wimmelnden und winselnden Mitmenschen, sieht sich plötzlich allein einer überwältigenden Natur gegenüber. Gefahren, Sturm, Lawinen helfen, ihn zur gesunden Besinnung zu bringen. Er sieht, wie klein und unwichtig er ist im Verhältnis zum Weltall, wie nebensächlich in dieser Verbindung aller Zank und Streit der Parteien ist, wie lächerlich unsere Rechthaberei und Selbstüberhebung.

Der arme Mensch könnte verzweifeln im Gefühl seiner Nichtigkeit. Eigenartigerweise aber tut er es nicht. Er wird ruhig und glücklich. Der Ungläubige staunt über die Erhabenheit des Naturgeschehens, er erkennt daran, dass da grössere Mächte im Spiele sind als die Alltäglichkeiten der Menschen; er fühlt in sich die Kraft der Gottheit, der er sich gerne unterwirft, und wird dabei voll Zuversicht.

Und wenn unser Bergsteiger abends zu Tal steigt, ist er wie geklärt. Voller Eindrücke von Grosse und Schönheit versucht er Harmonie in sein Leben und in sein Handeln zu bringen. Er sieht seine Aufgabe und den beschränkten Zweck seiner Person. Diesen Zweck zu erfüllen ist Pflicht, und seine Pflicht zu tun nimmt er sich vor, als die Pflicht vor der göttlichen Allmacht, die ihn heute umgeben hat: Nicht aus Ehrgeiz, nicht aus Geldsucht, nicht aus Furcht oder Verzweiflung, sondern aus dem Bestreben heraus, seelische Ruhe und harmonisches Handeln wiederzufinden. Denn nur auf solcher Basis wird er Zufriedenheit erlangen.

In einer kleinen Studie, Wirkung der Zufriedenheit auf die menschliche Leistungsfähigkeit, hatte ich 1932 auf ganz interessante Zusammenhänge hinweisen können. Eine freudige Geistesverfassung fördert die aktive Produktivität unseres Geistes; eine derartige seelische Situation wird zweifellos beeinflusst durch äussere Faktoren, dazu gehört wohl auch das Betrachten einer grandiosen Hochgebirgslandschaft. Ein Spruch sagt zwar: « Dem Unzufriedenen gehört die Welt! » Mag sein, dass er in seiner Unzufriedenheit schliesslich die ganze Macht erobert. Was hat er davon, wenn ihm die Zufriedenheit fehlt?

Was neben der Seelennot heute die Menschen am meisten plagt, sind vielleicht nicht so sehr die körperlichen Leiden, gegen die die Medizin grösstenteils Erleichterung schafft, sondern die Nervosität. Sie betrifft vor allem die geistigen Arbeiter: Vor lauter Anregung und Aufregung des Geistes vergessen sie leicht, dass ihr Körper nicht vernachlässigt werden darf. Denn daraus entsteht mit der Zeit eine Disharmonie, die sich rächt in Form von innerer Unruhe, Schlaflosigkeit, Verdriesslichkeit, Abnahme der geistigen Leistung, davon: Depression, Insuffizienzgefühl und anderes mehr. Dass die durch Nichtgebrauch entstandene Körperschwäche dabei noch erschwerend ins Gewicht fallen wird, brauche ich nicht besonders zu betonen. Wenn man in solchen Situationen auch versuchen kann, mit allen möglichen Pillen, Pulvern, Tropfen, Spritzen, Wasserkuren, Massagen usw. die Heilung zu erstreben, so darf hier wohl behauptet werden, dass körperliche Tätigkeit im schönen Hochgebirge hier den allerbesten Erfolg verspricht. Unser Gehirn darf verglichen werden mit einer elektrischen Batterie, die durch einen Motor immer wieder geladen werden muss; es bedarf der körperlichen Tätigkeit, wenn der Geist nicht an Frische und Spannkraft verlieren soll. Und wenn diese Bewegung in anregender Form und in allerschönster Umgebung zustande kommt, so wird die gesuchte Erholung von doppelter Intensität und grösserer Dauer sein. Es ist wohl kein Zufall, wenn Hunderte der tüchtigsten Geistesarbeiter jährlich ihre Ferien im Hochgebirge verbringen. Sie sitzen dabei nicht gemütlich auf einer Bank, um auszuruhen, sondern strengen ihren Körper nach Kräften an, wandern, steigen, fahren Ski und klettern sogar. Es kommt ihnen dabei nicht auf Erstbesteigungen und Rekordfahrten an. Sie wollen durch körperliche Übung das verlorengegangene Gleichgewicht wieder finden. Gelingt es, so haben sie Befriedigung an der Leistung; das Selbstvertrauen auf den eigenen Körper ist wieder gewonnen und die innere Ruhe folgt von selbst. Gleich schlafen sie besser, sie essen und verdauen besser und denken auch wieder klarer und schärfer. Der Zweck ist erreicht. Der Mensch ist glücklich, dank den Bergen und dem Sport den verlorenen Richtungspunkt wiedergefunden zu haben. Die Berge tragen aber keine Schuld, wenn der Herr Professor am Tage nach seiner Heimkehr von neuem beginnt, gegen die Natur zu sündigen. Es ist schwer, logisch zu bleiben, wenn 's einen selbst betrifft 1 Wir dürfen hier nicht abbrechen, bevor wir nicht auch vom erzieherischen und charakterbildenden Wert des einzigartigen Bergsportes für die Jugend gesprochen haben. Welche Entbehrungen, welche Ausdauer bis zum äussersten Können, welche Sorgfalt und welche Willensstärke verlangt oft diese Betätigung von allen Beteiligten! Und wozu all das? Lediglich für ein Ideal: Streben nach dem Schönen, streben nach dem Schwierigen. Dann ist alles vorbei, und von neuem geht 's ans Werk: Entschluss—grosse Leistung zugleich von Körper und Verstand — Erreichen des Zieles — Befriedigung ohne materielle Belohnung. Solche Schulung der Persönlichkeit ist wert, dass sie richtig erkannt und erzieherisch ausgenutzt werde. Der feste Wille, für ein rein ideales Ziel die ganze Persönlichkeit einzusetzen, ist für die Schulung eines jeden Menschen von ganz ausserordentlichem Wert: Nicht Flatter-haftigkeit, Bequemlichkeit, Unaufmerksamkeit, fortwährendes Zielwechseln, sondern im Gegenteil: Zielarbeit in einer als richtig befundenen Richtung muss stets unser Bestreben sein. Und ist ein Ziel erreicht, dann bereitet man sich mit gleicher Sorgfalt und Energie vor, ein zweites anzupacken. So ist 's in den Alpen mit Berggipfeln, so soll 's im Leben sein mit den Lebenszielen. Von grosser erzieherischer Bedeutung für den angehenden Alpinisten ist die Einfachheit der Lebensführung, die durch die Bergsteigerei bedingt wird. Vorteilhaft ist ausserdem, dass er sieht, wie hier Klassenunterschiede schwinden, ohne dass auch nur einer der Beteiligten Schaden nähme.

Das Grösste von allem aber bleibt die Alpinistentreue. Wenn eine Partie auszieht, selbst für schwierigste Unternehmungen, so wissen alle Teilnehmer: wir sind verbunden auf Leben und Tod. Die Erfahrung zeigt tatsächlich, dass die Treue unter echten Bergkameraden so weit geht wie sonst selten im Leben. Die Glieder einer guten Seilschaft wissen, dass sie sich auf ihre Freunde Unbedingt verlassen können; dieses Gefühl gibt ihnen nicht selten die Kraft, gemeinsam ganz unerhörte Leistungen zu vollbringen, die sonst nicht möglich wären.

Die grösste Pflicht jeder ernsthaften Bergsteigerschaft ist, gesund wieder nach Hause zurückkehren. Das bedingt, dass jeder sich fortwährend bewusst sei seiner ganzen Verantwortung für die anderen und für sich. Ein Fehltritt während einer zwölf stündigen Besteigung genügt, um alles in Frage zu stellen. Man rechne aus, welche Sorgfalt und Selbstbeherrschung dabei nötig ist, dann wird man ohne weiteres zustimmen, wenn ich sage, dass die Schulung des Alpinisten auch eine vorzügliche Schulung fürs Leben bedeutet.

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