Über den Errgletscher auf den Piz d'Err | Club Alpino Svizzero CAS
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Über den Errgletscher auf den Piz d'Err

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Von Ed. Imhof ( Sektion Prätigau ).

Es führen allerlei Wege auf den Piz d' Err. Wer sich dafür interessiert, findet ihre Darstellung zum Teil schon in Gr. Studers „ Über Eis und Schnee ", III, pag. 97, IV, pag. 369, dann in größerer Vollständigkeit in meinem „ Itinerarium für die Albulagruppe ", pag. 107 ff. Dort schließt der betreffende Passus pag. 124: „ So haben wir also der Wege genug auf den Piz d' Err und seine Genossen, und immer einer ist schöner und interessanter als der andere. Es sind freilich noch nicht alle wirklich ausgeführt worden, was aber nicht ihre Unmöglichkeit beweist, da die Errgruppe nicht zu den vielbereisten gehört. In der Litteratur sind z.B. die Routen über die Alp Mulix ( und den Ostgrat ), über den Ca-stellins ( und Nordgrat ), über den Errgletscher ( Nordflanke ) und über den Piz délias Calderas zum Piz d' Err noch nicht dargestellt. Von diesen vieren dürfte diejenige über den Errgletscher die schwierigste, aber auch die interessanteste sein... Hoffen wir, daß dieser Aufstieg in der gegenwärtigen Exkursionsperiode ausgeführt und im Jahrbuch des S.A.C. dargestellt werde. " Es ist begreiflich, daß ich mit einer gewissen Spannung der Ausfüllung dieser touristischen Lücken entgegensah, hatte ich doch die Möglichkeit aller vier Routen behauptet. Meine Hoffnung hat sich erfüllt, alle vier Routen sind nun begangen worden. Die erste freudige Kunde diesbezüglich brachte mir ein Brief von Herrn Lavater-Wegmann ( Sektion Uto ), worin er mir seinen am 23. August 1893 bewerkstelligten Übergang vom Piz d' Err zum Piz délias Calderas mitteilte und skizzierte.x ) Die drei andern Lücken auszufüllen war mir selber beschieden. Über die Route vom Mulixthal über den Ostgrat zum Piz d' Err habe ich bereits im Jahrbuch S.A.C. XXX, pag. 38, berichtet als von einem Stück jener prächtigen Wanderung „ Über den Errgrat von Bergün zum Julierhospiz ", die mir am 24. Juli 1894 in Verbindung mit den Freunden A. Ludwig,Siehe Näheres darüber im Jahrbuch des S.A.C. XXIX, pag. 310.

W.. Zwicky und Führer P. Mettier gelungen war und auf der wir auch die Lavater-Wegmannschç Route vom Piz d' Err zum Piz délias Calderas wiederholen konnten. Über die Lösung der zwei „ letzten Probleme " am Piz d' Err, also über die Routen über den Errgletscher und über den Castellinsgrat, sollen die folgenden Zeilen berichten. An der Möglichkeit dieser beiden Routen hatte ich längst nicht mehr gezweifelt, obwohl sie mir von einigen Seiten entschieden bestritten worden war. Aber mit der bloß behaupteten Möglichkeit war es natürlich auch nicht gethan, dieselbe mußte durch die That erwiesen werden. Freund Ludwig war für das Projekt bald gewonnen; ja, als dasselbe hinter andern Plänen vorläufig etwas zurücktrat, ergriff er die Initiative dafür und wollte keine weitere Verschiebung desselben mehr zulassen.

Am 13. August 1896 waren wir auf Umwegen, die dem Piz Michel galten, aber des Wetters wegen trotz der bereits erreichten bedeutenden Höhe nicht zum Ziele führten, nach Bergün gekommen. Der 14. wurde eineu Trainierungs- und Rekognoszierungstour von der Fuorcla Bever- Crapalv bis zur Fuorcla da Mulix gewidmet, die Freund Ludwig im vorhergehenden Artikel geschildert hat. Außer der interessanten -Gratwanderung hatte uns dieser Tag auch eine gute und beruhigende Einsicht in die bestehenden Schnee- und Lawinenverhältnisse gebracht. Größere, gefahrdrohende Lawinen waren für den folgenden Tag keine mehr zu fürchten. Auch den Weg zum und über den Gletscher konnten wir uns genau zurechtlegen und in seinen einzelnen Teilen verfolgen. Und zwar erschien es uns als das Geratenste, mitten durch den Gletscher hinaufzusteigen, weil sich da von einem augenscheinlich nicht schwer zu erreichenden Gletscherplateau eine Rippe durch die obern zwei Drittel des steilen Gletscherhanges emporzieht. Diese Rippe war zwar ebenfalls in Schnee und Eis gehüllt, aber doch ragten da. und dort einzelne Felsstücke uni Schuttbänder aus derselben hervor, die genügend Stand und Griff gewähren und auch vor allfälligen Lawinennachzüglern schützen mußten. Arbeit wird 's zwar kosten da hinauf, das ist gewiß, aber es wird gehen. Größere Schwierigkeiten und ernsthafte Gefahren sind kaum zu fürchten. überdies scheinen verschiedene Varianten möglich zu sein, und im schlimmsten Fall bleibt immer noch der Rückzug offen.

Mit diesem Bericht kommen wir am Abend nach Bergün zurück und bestimmen Peter Mettier, gleich am nächsten Tag ( 15. August ) die Tour mit uns auszufahren. Er hatte zwar verschiedene Bedenken wegen Felsabstürzen, drohenden Seraks, unübersteiglichen Gletscherklüften, kurz er war nicht so ganz im Strumpf und hätte die Sache lieber noch etwas verschoben. Er war eben erst von einer langen und ermüdenden Tour über den Piz Kasch ins Engadin und von da zu Fuß über den Albulapaß zurückgekehrt und darum nicht sonderlich aufgelegt zu einer nach war kurzem kursem Schlaf anzutretenden großen und voraussichtlich anstrengenden Über den Errgletscher auf den Piz d' Err.3f Tour. Allein wir beharrten auf der sofortigen Ausführung derselben und ließen uns durch Mettiers Ausflüchte kein x für ein u machen, kannten unsern Freund auch gut genug, um zu wissen, was wir ihm zutrauen durften. Wir wußten wohl, warum wir keine Verschiebung wollten. Mit dem Wetter des letzten Sommers war nicht zu spaßen. Waren die Aussichten einmal ordentlich, so galt es, sie sogleich auszunützen, sonst war 's dann für 2-3 Wochen oder noch länger geschehen. Der eben verflossen Tag war schön gewesen, der folgende versprach, es auch zu sein. Wer aber hätte uns für einen dritten garantiert? Also nur kein Verschieben nicht. Und so gab denn Mettier nach. Die Folge hat nn » auch Recht gegeben. Der 15. August war noch schön, dann aber folgtest eine Reihe von Regentagen, an denen rein nichts auszurichten war. Ja schon am Abend des 15. August stellte der unvermeidliche Regen sieb wieder ein, der gleich nach unserer Rückkehr in Strömen niederzugießpa begann. Hätten wir die Tour damals auch nur um einen Tag verschieben wollen, so wäre sie für dieses Jahr überhaupt unterblieben, denn allzulange konnten wir das Wetter in Bergün nicht abwarten, da noch andere Projekte vorlagen und die Ferien sich nicht strecken lassen.

Frühmorgens 4 Uhr 10 Min., eine Stunde später, als eigentlich beabsichtigt war, wird also aufgebrochen und frisch ausgezogen dem Albula- paß zu. Bald ist das Maiensäßdörfchen Naz erreicht, und hinein geht 's auf steileren, aber guten Pfaden ins Mulixthal, dem schäumenden Bach entlang durch würzigen Wald. Schon um 6 Uhr kommen wir an den zerfallenen Hütten der Alp Mulix ( 2000 m ) vorbei und lassen nun die Waldregion und die untere Thalstufe von Mulix hinter uns. Auf die enge Waldschlucht folgt eine weitere und sanfter ansteigende Thalmulde mit nur noch vereinzelten Bäumen ( Tannen, Lärchen und Arven ), magern, steinbe8äeten Weiden, Blockfeldern und an den Gehängen emporsteigenden Schutthalden, ein rauhes, typisch ausgebildetes Hochthal, umrahmt von einem schönen Gipfelkranz. In gemächlicherem Tempo durchschreiten wir es längs der Ava da Mulix und gelangen so an die mächtige Felsenschwelle „ la Crappa ", die es im Hintergrund in weitem Bogen umzieht und in deren Mitte der wilde Bergstrom schäumend und brausend her- unterdonnert. Nach Überwindung dieser Schwelle auf der lin, ;`Westlichen Seite der Bachrunse haben wir die dritte, oberste Thalstufe Aur la Crappa " erreicht und damit eine Höhe von 2500 Meter. Hfe; Wir schon im Schnee, zwar nicht im „ ewigen " Schnee, aber im s13 f der letzten Tage, der die ganze flache Thalmulde und die südlichen Schutthalden bedeckt, während das weniger steile nördliche Getótogei die Sonnenseite, schon wieder ziemlich frei davon ist. Wir hab'die Wahl, hier auf schneefreiem Boden oder dort auf geebneter Schneebahn weiterzugehen. Ludwig und Mettier wählen den erstem, ich, um den Schnee zu erproben, den letztern Weg, doch ohne uns aus den Augetfi Heren, ausgenommen die Slrefîke, wo die große Moräne am untern linken Rand des bald folgeMteai öktschers zwischen uns tritt am obera Ende dieser Moräne, wo der Gletscher eine kleine Ebene bildet und wo einige größere Steine bequeme Sitzplätze bieten, vereinigen wir uns wieder und machen einen haibötttadigen Halt ( 73/4 Uhr bis 8J/4 Ohr ). Dann geht es in weitern 40 Minuten über den steilen, schneebedeckten Gletscher hin« auf zur Fuorcla da Mulix ( 2897™ ) längs den Spuren, die wir von unserm gestrigen Abstieg zurückgelassen haben. Der Schnee war gut und ermöglichte uns darum trotz der beträchtlichen Steilheit ein ziemlich rasches Tjtid leichtes Fortkommen.

In der Paßlücke verweilen wir nur so lange, als es nötig ist, um Mettier die gestern ausgekundschaftete Anstiegslinie durch den Errgietscher hinauf zu zeigen. Da er unsern Ansichten beipflichtet, so kann der Marsch bald wieder fortgesetzt werden. Über steile Trümmer- und Rasenhänge eilen wir hinunter in den Hintergrund der Val d' Err, biegen unter Punkt 2563 links um und erreichen über Firn und Lawinenschnee, die hier auf dem Schuttboden lagern, den Gletscher in einer Höhe von etwas über 2500 Meter.

Jetzt erst beginnt für uns das Neue, „ das Problem ". Bis jetzt konnte jeder frei gehen wie er wollte, nun aber muß eine feste Marschordnung eingehalten werden. Auf unsern Wunsch willigt Mettier ein, uns einmal die Ftihrerrolle zu tiberlassen, selbst auf das Risiko hin, gelegentlich etwas angeführt zu werden. Also tritt er in die Mitte, Ludwig ans Ende und ich an die Spitze der Marschkolonne. Anfänglich macht sich die Sache noch ganz leicht: ein mäßig geneigter Firn- und Eishang wird in rechts aufsteigendem Bogen tra versiert und bringt uns unvermerkt schon ordentlich in die Höhe. Dann folgt ein steiles, breites JSiscouloir, zum Teil mit blankem Eis, zum Teil tiberfirnt, das stufenschlagend durchquert werden muß und wohl Behutsamkeit und sichern Stand erfordert, sonst aber keine Schwierigkeiten bereitet. Jenseits angelangt, müssen wir uns an einem steilen Hang mit tiefem, weichem Schnee emporarbeiten und gelangen dann auf ein ziemlich breites Gletscherplateau. Damit schwand auch der letzte Zweifel am Gelingen des Unternehmens, denn das eben passierte Eiscouloir und der aus diesem aufsteigende Abbruch des Plateaus waren die einzigen Stellen, die wir bisher nicht mit voller Sicherheit hatten beurteilen können. Nun ist aber die Pròbe glücklich und über Erwarten leicht bestanden, und wir haben mit dem Plateau bereits über ein Drittel tfes ganzen Gletscherhangs überwunden. Was nun folgt, steigt allerdings sehr steil und hoch vor uns auf, sieht aber nicht abschreckend aus, und die gestern schon entdeckte Rippe mit ihren aus der Firn- und Eishülle heraustretenden Felspartien und Schuttstreifen verspricht einen sichern Weg-durch das Eis hinauf. Wir beschließen, gleich weiterzugehen und erst weiter oben unter einem vorragenden Felsen Mittagsrast zu machen« „ A L .i H..

Über den Errgletscher auf den Piz d' Err.4i Mühsam und schweißtriefend durchwaten wir die dicke, weiche Schneedecke, die auf dem Plateau liegt, bis wir auf die allmählich steiler werdenden Hänge kommen, wo der Schnee dünner und härter ist. Zuvor zwingt uns aber ein weiter, nicht zu umgehender Eisschrund, ans Seil zu gehen, was bisher nicht nötig gewesen war, und das wir auch gleich nach Überwindung des Schrundes wieder ablegten. Ohne alle Schwierigkeiten geht 's dann auf der vorerwähnten Rippe in die Höhe bis zu dem zur Mittagsrast ausersehenen Felsen. In richtigem Instinkt will Ludwig unter dem Felsen bleiben, der eine vortreffliche Spaltecke für allfällige Lawinen bildet. Allein ein leises Murmeln neben demselben kündigt uns ein willkommenes Wässerlein an, das dort unter Eis und Schutt vergraben liegt. Mettier gräbt es mit dem Pickel nicht ohne Mühe aus, und so lagerten wir uns denn an demselben neben statt unter dem Felsen. Jeder machte sich auf den im Eis eingeklemmten Steinen einen Sitz zurecht und breitete seinen Proviant vor sich aus, indes der Becher mit kühlem Trank von Mund zu Munde ging. Aber „ mit des Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten, und das Unglück schreitet schnell ". Auf einmal ertönt ein unheimliches Rauschen über und hinter uns, und im gleichen Moment werden wir mit kopfgroßen Schneeballen bombardiert. Ein Ruf, ein Sprung! und geborgen kauern Ludwig und Mettier unter dem Felsen, während eine Lawine an uns vorbeizieht und Quelle, Proviant und Rucksäcke teils begräbt, teils mit sich reißt. Ich saß zufällig außerhalb der Lawinenbahn und konnte darum auf meinem Posten bleiben. Doch erhielt ich von den Schneeballen auch mein redlich Teil. Die Sache war übrigens nicht schlimm, mehr ergötzlich als gefährlich. Sobald wir die Lawine nicht mehr nur hörten, sondern an uns vorbeirauschen sahen, erkannten wir sie als einen ziemlich harmlosen Schneestrom, der uns kaum hätte mitreißen können, auch wenn wir mittendrin gestanden wären. Er kam auch bald zur Ruhe. Doch fanden wir für gut, nun alle drei unter dem schützenden Felsen zu lagern. Aber zuvor mußten unsere Habseligkeiten soweit möglich aufgesucht und geborgen werden, und das war, da wir alles wiederfinden konnten, mit viel Spaß verbunden. Ein Stück lag hier, das andere dort, teils auf, teils unter dem Schnee, ganz oder teilweise begraben. Am schlimmsten hatte die Lawine Mettier mitgespielt, dessen Fleischvorräte spurlos verschwunden waren. Einen Blick nach dem Grabe seiner Habe sendet er betrübt zurück. Doch sieh ', was winkt dort unten aus dem Schnee? Ein leibhaftiges, geringeltes Schweineschwänzchen. Drauf losgestürzt und nachgegraben! Und richtig kommt ein Stück nach dem andern zum Vorschein, bis ihm auch nicht eines fehlet. Triumphierend kehrt er unter den Stein zurück und weist nun im Vollgefühl seines Reichtums die Brosamen zurück, die von der „ Herren " Tische gefallen waren. Auch die Quelle wird wieder ausgegraben. Und nun kann der doppelt ver- diente Schmaus angehen, 4er auch doppelt genossen wird. Es war ein prächtiges Mahl da oben in der halben Höhe des Gletschers. Keine Hoteltafel käme dagegen auf.Um 12 Uhr treten wir wieder an. Die Rippe wird nun immer steiler und steiler, der Firn je länger je weicher und die daraus hervorragenden Felspartien seltener. Aber wir arbeiten uns unverdrossen durch und gewinnen trotz des scheinbar schleichenden Ganges doch merklich an Höhe. Zuletzt geht die Rippe, die allmählich zu einer äußerst steilen Firnkante geworden war, aus, indem sie sich an die Felsen unter Punk! 8170 anlehnt. Wir sind genötigt, rechts auszuweichen und durch die abschüssige, ebenfalls in tiefen Schnee gehüllte Flanke schräg aufwärts zu waten. Zum Glück hatten wir es hier nicht mit losem Neuschnee, der längst abgerutscht war, zu thun, sondern mit von der Sonne aufgeweichtem Winterêchnee, der fest auflag und uns guten Halt gab. Die Traverse war darum wohl mühsam, aber bei einiger Übung und Standfestigkeit nicht gefährlich. Auch War sie nicht sehr lang. Bald kamen wir, ungefähr beim d des Namens Pias d' Err der Exkursionskarte Oberengadin, auf weniger steile Schneehalden und damit aus dem eigentlichen Steilgletscher heraus. Es erforderte zwar immer noch viel Mühe, durch die weichen Schneemassen, in die wir jetzt knietief einsanken, emporzusteigen, denn wenn auch die Steilheit sich verminderte, so wich dafür der vor uns liegende Firnrticken scheinbar ebensoviel zurück, als wir vordrangen. Aber dio Freude über den gewissen Sieg half über diese bei Hochtouren nun einmal oft unvermeidlichen Mühen hinweg. Endlieh wurde der angestrebte Rücken etwa unter dem z des Namens Piz d' Err erreicht. Wenige Minuten später, gerade um 1 Uhr, waren wir am Fuß des Gipfelfelsens, der uns keine Schwierigkeiten mehr machen konnte« Lauter Jubel verkündete den Sieg.

Wir hatten den Gletscher glücklich Überwunden und in einer ziemlich geraden Linie, ungefähr von Nordosten nach Südwesten ansteigend, überschritten, und zwar fast ohne Stufen schlagen und ohne am Seil gehen zu müssen. In einer frühem Morgenstunde wäre der Aufstieg offenbar noch leichter gewesen, besonders im obern Teil, weil dann der Schnee fester gewesen wäre. Umgekehrt mag ei wohl vorkommen, daß unsere Route weit mehr Schwierigkeiten bietet, als wir vorfanden, wenn etwa der oben erwähnte Schrund weniger gut oder gar nicht überbrückt ist, oder wenn manche Stellen unseres Weges blankes Eis oder harten Firn aufweisen und dann langes Stufenschlagen erfordern. Aber unmöglich wäre die Sache deswegen immer noch nicht. Auch anderswo muß man ja solche Dinge in Kauf nehmen, ja sie gehören mancherorts, wenn sie nicht gar zu mißlich werden, zur Poesie des Bergsteigens.

Nach nur ganz kurzer Rast stiege** wir vollends zur Spitze- hinauf, und zwar diesmal, um dem weichen Schnee zu entgehen, nicht, wie ge- wohnlich, in links gewundener Spirale über die Schnee- und Schuttflächen der Süd- und Südwestseite, sondern direkt über die felsige Ostkante. Das ist zwar etwas schwieriger, als der gewöhnliche Weg, und erfordert einiges Klettern, geht aber doch ganz gut. Um 1 Uhr 25 Min. waren wir oben.

Wir hatten also von Bergün bis auf den Gipfel 9V4 Stunden ge- braucht, und zwar etwa 8 Stunden für den Marsch und 11U Stunden für die Rasten. Die horizontale Entfernung ist eben sehr beträchtlich, und die Höhendifferenz beträgt etwas über 2000 Meter, wozu noch eine große Gegensteigung kommt, indem man von der Fuorcla da Mulix etwa 400 Meter in die Val d' Err absteigen muß, so daß man im ganzen 2400-2500 Meter zu steigen hat. Speciell für das Hauptstück der Besteigung, den etwa 600 Meter hoch ansteigenden Errgletscher ( von 2600 m bis 3200 m cirka ) benötigten wir 2112 Stunden Marschzeit, von der Höhe des Gletschers bis auf den Gipfel etwa 35 Minuten, wovon 25 Minuten für den Gipfelfelsen selber.

Punkto Aussicht habe ich am Piz d' Err immer Glück gehabt, und dieses blieb mir auch diesmal treu. Herrlich, herrlich ist 's da oben! Doch will ich die Aussicht nicht noch einmal beschreiben, nachdem ich es vor zwei Jahren im Jahrbuch S.A.C. XXX, pag. 45, mit einiger Ausführlichkeit gethan habe. Nur mag ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht werden, daß sich hier mit einem weiten Gebirgspanorama ein schöner Blick ins Thal verbindet, indem man fast das ganze Oberhalbstein zu Füßen hat und hier neun Dörfer unterscheidet: Sur, Tinzen, a Savognin, Conters, und den letztern gegenüber, auf den sanften Gehängen der linken Thalseite, die ganze Perlenschnur von Reams und Präsans bis hinaus nach Stürvis mit zahlreichen Kirchen und Kapellen, dazu hoch oben, zwischen Piz Curvèr und Piz Toissa, die in katholischen Landen Graubündens berühmte Wallfahrtskirche Ziteil, nach der Sage auf den besondern Wunsch der heiligen Jungfrau hier erbaut. Diese hatte ihren Wunsch einem Hirten geoffenbart und die Baustelle durch drei Blutstropfen bezeichnet. Der Bau wurde begonnen, aber etwas zu weit unten« Hier hatte das Baumaterial keine Ruhe. An einem schönen Morgen fand man es an die bezeichnete Stelle hinaufgerückt und baute dann auch dort. Auch für Nichtkatholiken ist es der Mühe wert, einmal da hinauf zu pilgern und etwa den Piz Curvèr oder den Piz Toissa zu besteigen. Es ist vom Oberhalbstein aus eine leichte und schöne Tour, und man kann den Abstieg ins Schams oder über Obermutten nach der Burgruine Hohenrätien und Thusis oder in den Schyn hinunter nehmen. Doch wer die Örtlichkeit und die Sage nicht kennt, läßt vielleicht Ziteil unbemerkt und vertieft sich um so mehr in den prächtigen Thalkessel des Faller-bodens mit seinem grünen Wiesenplan, seinen zerstreuten Hütten und Hüttengruppen und dem darüber mächtig aufsteigenden Piz Piatta, wohl der stolzesten Gestalt des ganzen Errpanoramas. Zu den Glanzpunkten -des letztern gehört natürlich auch die Berninagruppe und die nächste Umgebung des Piz d' Err selber mit ihren schimmernden Gletschern, obwohl auch der Blick in weitere Fernen bis zu den Walliser und Berner Riesen und vom Tödi bis zum Ortler und Adamello viel Interessantes bietet.

Nachdem noch eine Gesteinsprobe zurechtgeschlagen und eingepackt war, wurde der Abstieg angetreten. Derselbe sollte ebenfalls auf neuem oder doch in der Litteratur nirgends dargestelltem Wege erfolgen, nämlich auf dem Nord- und Nordwestgrat gegen den Castellins. Erst ging 's ein Stück weit über die westliche Firnflanke der Gipfelpyramide hinunter, dann nördlich abbiegend auf den ziemlich breiten Firnrückendes Nordgrates. Rechts geht dieser in den Errgletscher über, links bricht er in steilen, mächtigen Wanden, stellenweise fast senkrecht, ins Oberhalbstein ab, wo man tief unter sich die grünen Terrassen der rechten Thalseite sieht. Dieser Westkante entlang schreiten wir nach Norden, direkt auf'Punkt 3140 zu. Erst am Ende dieses Rückens giebt es etwas Arbeit, indem wir durch ein enges und steiles Schnee- und Eiscouloir hinunter müssen. Für diese Strecke binden wir uns ans Sei ), Mettier voran » Möglichst an die rechtsseitigen Felswände angeschmiegt, wo einiger Halt für Hände und Füße zu finden ist, klettern und gleiten wir, den Rücken gegen den Berg, langsam und vorsichtig hinunter. So erreichen wir bald wieder festern Boden am Westabhang des Punktes 3140, von wo wir leicht in die Lücke zwischen diesem Punkt und dem Castellina gelangen. Damit war das Hauptstück des Abstiegs, soweit es Neuheit und allfällrge Schwierigkeiten betrifft, gethan. Es mag sein, daß das erwähnte Couloir zu Zeiten schwieriger ist, als wir es antrafen, dann nämlich, wann es mit Glatteis austapeziert ist. Da es aber nicht sehr lang ist, so wäre das Stufenschlagen weder ein sehr zeitraubendes, noch ein sehr mühsames Geschäft. Wir kamen infolge des dem Eis aufliegenden Schnees und mit teilweiser Hülfe der griff bietenden rechtsseitigen Felsen ohne Stufen durch.

Die Castellinsfurke, in der wir nun standen, ist tief und scharf in verschiedenartige Schiefer eingeschnitten, während der Gipfel des Piz d' Err aus einem grünen, halb gneis-, halb granitartigen Gestein besteht, das aber wegen seiner ziemlich schiefrigen Struktur doch mehr an Gneis als an Granit erinnert. Von hier aus standen uns verschiedene Wege zur Verfügung. Der schönste und leichteste hätte uns über mäßig steile Hänge links hinunter in eine ziemlich flache Thalmulde, dann über Punkt 2128, links am Piz Colm vorbei, zur Alp Sumnegn ( 1872 m ) und von da durch einen prächtigen Waldweg hinunter zur Windeck, am Ausgang des Errthais, und auf der Thalstraße nach Tinzen geführt. Dieser Weg hätte noch verschiedene Varianten ermöglicht, die aber hier nicht weiter erörtert werden sollen, da man sie auf der Karte leicht nachsehen kann. Wir hätten auch die Gratwanderung über den benachbarten, nur wenig über uns sich erhebenden, aber ziemlich zerrissenen Castellins ( 3008 m ) und selbst bis zur Furtschella ( 2402 m ) fortsetzen können, um dann von dieser oder schon vom Castellins in die Ochsenalp ( Colm da Boys, 2337 m ) abzusteigen, von wo wieder ein ordentlicher Weg über die Alp Demat ( 1848 m ) nach Tinzen hinaus führt. Aber unser Ziel war Bergün, und darum stiegen wir östlich hinunter ins Errthal, um von da wieder über die Mulixfurke zu gehen. Wir wußten zwar und konnten es auch deutlich genug sehen, daß dieser Weg unschöner und unangenehmer ist, als die oben angedeuteten; aber es war der einzige, auf dem wir heute noch Bergün erreichen konnten. Also stiegen wir rechts ab durch eine lange und steile, halb mit Schnee erfüllte Schuttrinne. Große Strecken konnten wir stehend zu Thal fahren, und zwar nicht nur oben im Schnee, sondern auch weiter unten im feinen, beweglichen Schieferschutt. Ganze Ströme von Schnee und Schutt rauschten hinter uns her und kamen erst weit unten wieder zur Ruhe. Dieser Abstieg war nicht schwierig, aber auch keineswegs angenehm. Aber wenn wir gehofft hatten, unten am Ausgang der Rinne in besseres Terrain zu kommen, so hatten wir uns gründlich getäuscht. In der Absicht, nicht allzuviel an Höhe zu verlieren, ließen wir uns verleiten, zu frühe rechts umzubiegen, um in weitem Bogen um den Thalhintergrund der Mulixfurke zuzusteuern. So kamen wir aus dem Regen in die Traufe, aus dem Schutt in die endlosen Moränenhalden unter dem Errgletscher, die ungleich größer sind, als sie scheinen und als man nach der Karte meinen sollte. Diese Moränen bestehen aus großblockigem, teils hart zusammengebackenem, teils losem Gesteinsmaterial und sind dazu von zahlreichen, tief eingeschnittenen, teils trockenen, teils Wasser führenden Rinnen durchfurcht, in die man oft ab- und aufsteigen muß. Manche Partien waren so hart gefroren, daß selbst mit den stärksten Pickelhieben kein Halt zu gewinnen war. Das war ein abscheulicher, geradezu fürchterlicher Marsch, ja in den immer wiederkehrenden Rinnen stellenweise ein recht mühsames, Hände und Kleider zerreißendes Kriechen auf allen vieren. Und das wollte nur kein Ende nehmen. Immer wieder glaubte man, endlich den letzten Schuttwall vor sich zu haben, aber immer wieder war man getäuscht, immer wieder tauchten neue Wälle auf. Wir kamen da weit auseinander, indem jeder die nach seiner Meinung beste Route zu verfolgen trachtete. Mettier hielt sich möglichst in der Höhe, um einige Schneeflecken benutzen zu können; Ludwig kam immer mehr links ab und in immer tiefere Lagen, bis er endlich frischweg durch die Moräne hinunterstieg, um dieselbe unten zu umgehen; ich blieb in der Mitte und suchte sie geradeaus zu durchqueren. So kam es, daß oft längere Zeit keiner mehr die andern sehen oder hören konnte. Ludwig scheint noch den besten Strich erwischt -:Ä Ed. Imhof.

zu haben, wenigstens kam er zuerst am Fuße der Fuorcla an, obwohl er ein ordentliches Stück Weges wieder aufsteigen mußte. Ich rückte bald nach, hatte aber ebenfalls an Höhe verloren; zuletzt kam Mettier an, nicht minder strapaziert, als wir, und ebenfalls halb tot vor Anstrengung und vor Zorn ob der impertinenten Moräne, die uns fast lVa- Stunden gekostet hatte.

Wir mußten in längerer Rast und im Proviantsack neue Kräfte suchen für den nun bevorstehenden steilen Aufstieg von noch etwa 300 Meter zur Fuorcla da Mulix. An Stoff zu munterer Unterhaltung fehlte es dabei auch nicht, hatte doch jeder seine besondern Abenteuer erlebt auf dem Moränenweg. Dazu kam, daß wir den ganzen Weg über den Gletscher hinauf zum Piz d' Err und von da über den Nordgrat zur Castel- linsfurke und zurück zu unserm Rastplatz überblicken konnten. So war denn ein halbes Stündchen bald verflossen ( 41/*—4 Uhr ). Der darauf folgende Aufstieg zur Furke machte uns weniger Mühe, als wir gedacht hatten. Schon 51/* Uhr waren wir oben. Ein flüchtiger Blick noch auf Gletscher und Gipfel und unsere ganze Marschroute, und fort geht 's auf wohlbekannten Pfaden der Heimat zu. Um 6112 Uhr passieren wir die Mulixhtitte, 20 Minuten später Naz und um 8 Uhr kehren wir ein in Mettiers gastliches Haus, wo dessen treffliche Frau uns ein tüchtiges Nachtessen bereit hielt.

Jetzt lebt die Tour uns in schönster Erinnerung, die auch durch den Martergang in der Errmoräne nicht getrübt wird. Für eine Wiederholung derselben möchte ich aber empfehlen, die Tour von der Alp Err aus zu unternehmen, wo man bei bescheidenen Ansprüchen wohl einmal übernachten kann. Man hat dann einen viel höhern Ausgangspunkt ( 1964 m statt 1364 m ) und einen um mehrere Stunden kürzern Weg. Auch wird man von der Castellinsfurke in der Regel über die Alp Sumnegn nach Tinzen oder Roffna absteigen, was kürzer und angenehmer ist, als der weite Weg nach Bergün. Selbst die Rundreise von Tinzen durch das Errthal und über den Errgletscher auf den Piz d' Err und über die Alp Sumnegn zurück, oder umgekehrt, wäre kürzer und leichter, als unser Weg, und ließe sich also in einem Tage machen. Eine Wiederholung unseres Aufstiegs von Bergün aus hat übrigens bereits stattgefunden, und zwar durch Herrn Dr. Ernst Haffter ( Sektion Rhätia ) in Begleitung Mettiers. Also vivat sequens.

II.

Freie Fahrten.

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