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Vom Werden und Vergehen der alpinen Rasendecke

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Von Dr. Ernst Furrer, Affoltern b. Zürich ( Sektion Winterthur ).

Mit photographischen Aufnahmen des Verfassers.

Alles fliesst.

Heraklit.

Alles ist in Entwicklung begriffen — das etwa ist die sinngemäße Übertragung des Ausspruchs, den der jonische Weise mit seltenem Weitblick getan hat. Mehr denn zwei Jahrtausende mußten verstreichen, bis ihn die Naturwissenschafter zu ihrem Leitsatz erhoben und anfingen, die Gegenstände ihrer Forschung entwicklungs- geschichtlich zu betrachten. Erst im Laufe des letzten Jahrhunderts kam man dazu, die Gebilde der leblosen und der lebenden Natur — Gestein, Pflanze, Tier — nicht bloß auf ihr „ Sein ", sondern auch auf ihr „ Werden " gründlich zu untersuchen. Und seither wälzt sich der Entwicklungsgedanke gleich einem mächtig anschwellenden Strome über das breite Feld der Wissenschaft.

Spät ist die Lehre von den Pflanzengesellschaften, ein jüngerer Zweig der ohnehin jungen pflanzengeographischen Wissenschaft, von der Strömung ergriffen worden. Auch die Pflanzenverbände unterliegen einer Umwandlung: Moore verlanden, auf Kiesbänken der Flüsse setzt sich Gebüsch fest, Waldschläge vernarben. Auf Moränen und Rundhöckern, wovon sich das Gletschereis zurückzieht, erobert die Vegetation mit Erfolg das nackte Erdreich. Überall, wo pflanzliche Geschöpfe beisammen wohnen, können wir wahrnehmen, wie die Formen ihrer Vergesellschaftung nicht in unveränderlichem Sein verharren, vielmehr im Wechsel der Daseinsbe- B dingungen fortwährender Wandlung unterworfen sind.

Vom Werden und Vergehen der alpinen Rasendecke.

Steigen wir also in den Alpentälern empor, durch den flechtenbehangenen Nadelwald, bis wir die letzten Pioniere des alpinen Baumlebens hinter uns haben. Wir schreiten über Blumenmatten, Fels und Geröll, und nachdem wir uns an der Farbenpracht und dem Formenreichtum der alpinen Pflanzenwelt erfreut haben, lassen wir die Wissenschaft zu ihrem Recht kommen. Wie ungestört können wir da droben im Hochgebirge, fern von Kulturlärm und Städtedunst, wissenschaftlichen Fragen nachgehen!

Der blumige Rasen, auf den wir uns niederlassen, wird nicht ewig da gewesen sein und wird auch nicht in alle Zukunft hinaus seinen Platz behaupten können. Wie ist er geworden? Was wird aus ihm werden? Einst mochte der Gletscherleib jenes Stück Boden bedeckt haben. Nach dem Rückzug der Eismassen muß er erst kahl gewesen sein. All- mählich mochten sich Pflanzen ansiedeln, die dank ihrer Anspruchslosigkeit den Kampf mit der rauhen Wirklichkeit aufzunehmen imstande waren. Ihnen folgten andere, bis sie sich zu dichter Matte schlössen. Einmal aber wird die Rasendecke der Zerstörung anheimfallen. Wildwasser und Lawinenschnee fegen darüber hinweg und schürfen sie auf oder schütten sie zu. Mit dieser entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise wollen wir nun an bestimmte Beispiele herantreten.

Auf Schutt und Geröll begegnen uns in den Kalkalpen häufig Spaliersträucher, die bis quadratmetergroße Flächen bedecken. Das feine Astwerk legt sich wie ein starres, engmaschiges Netz über das lose Gestein. Die Dryade ( Dryas octopetala ), das Gypskraut ( Gypsophila repens ) und eine Zwergweide ( Salix retusa ) sind für unsere Kalkalpen die Hauptvertreter dieser eigenartigen Lebensform. ( Bild 1. ) Auf rutschigen Halden, wo sie ihre lange Hauptwurzel bisweilen tief in ruhenden Grund versenken, bringen sie unter der Decke des Geästs die Bewegung an der Oberfläche zum Stillstand. Die Folge davon ist, daß Rasenpflanzen, die ihr Dasein auf beweglichem Geröllboden oder auch im Ruhschutt nicht zu fristen imstande sind, solche Inseln im Geröllstrom aufsuchen. Sie finden dort nicht nur ruhenden Boden, sondern wissen abgestorbene, modernde Pflanzenteile des Spalierrasens für ihren Lebenshaushalt auszunutzen. Oft fühlen sich die Eindringlinge so wohl, daß sie sich auf dessen Kosten ausbreiten. Vielfach zersetzen sie die Decke derart, daß diese nur noch in Teilstücken fortbestehen kann; ja, sie tilgen sie bisweilen vollständig aus. Die Rasenpflanzen bedürfen, wenn sie zu geschlossener Decke zusammengetreten sind, des Schutzes nicht mehr, den die Schuttbefestigerin den ersten Ankömmlingen gewährt hat.

Dr. Ernst Furrer.

Auf Rundhöckern läßt sich in den Kalkalpen ein ähnlicher Vorgang beobachten. Bild 2 versetzt uns in die nächste Umgebung der Segneshütte, an den obern Rand des ungeheuren Trümmerfeldes des Flimser Bergsturzes. Der Gletscher hat hier Rundhöcker geschaffen, die von der Vegetation nach und nach besiedelt werden. Es ist für die höheren Pflanzen durchaus nicht leicht, auf den glatt gehobelten Flächen, die der Verwitterung nur langsam anheimfallen, ihre Wurzeln zu verankern. Am wirksamsten machen sich die Spuren der Verwitterung längs den Schichtfugen bemerkbar, die auf dem Bilde in Blickrichtung zutage treten. Hier fassen die Pflanzen Wurzel. An den einmal besetzten Stellen halten sie mit großer Zähigkeit fest und breiten sich von da allmählich über die Felsfläche aus.

Als Erstansiedler treten zahlreich die Dryade, die Spalierweide Salix retusa und Carex firma, eine dichthorstige Segge auf, daneben vereinzelt das Blaugras ( Sesleria coerulea ) und Felsenpflanzen, wie:

Saxifraga caesia, bläulicher Steinbrech; S. aizoon, immergrüner Steinbrech; Minuartia ( Alsine ) sedoides, Zwergmiere; Silene exscapa, stielloses Leinkraut; Sedum atratum, schwärzliche Fetthenne.

Innerhalb der Spalierrasen häufen sich Feinerde und Moderstoffe dermaßen an, daß zahlreiche rasenliebende, gesteinsscheue Arten sich darin einnisten. Es seien erwähnt:

Anthyllis vulneraria, Wundklee; Hedysarum obscurum, dunkler Süßklee; Vaccinium vitis idaea, Preisseibeere; V. uliginosum, Moorbeere; Androsace chamaejasme, niedriger Mannsschild; Gentiana Clusii ( acaulis, vulgaris ), Clusius'Enzian; Bartsia alpina, Alpen-Bartschie; Homogyne alpina, Alpenlattich; Bellidiastrum Michelii, Sternliebe.

Meist in dieser Gesellschaft, seltener schon früher, stellt sich das Steinrösel ( Daphne striata, gestreifter Kellerhals ) ein und beherrscht zur Blütezeit stellenweise mit dem rosafarbenen Blütenschmuck das Vegetationsbild.

Die natürliche Weiterentwicklung wird in diesem Stadium durch Beweidung in künstliche Bahnen gelenkt. Doch kann aus gewissen Beobachtungen geschlossen werden, daß unter Zurücktreten der Spaliersträucher und der festen Segge ( Carex firma ) zugunsten des Blaugrases eine krautige Pflanzengesellschaft, durchsetzt vom kleinstrauchigen Steinrösel, sich herausbilden müßte.

Vom Werden und Vergehen der alpinen Rasendecke.

Im Urgebirge ist der Gang der Besiedelung auf Rundhöckern wesentlich anders. Das 3. Bild versetzt uns in die kristallinen Schiefer der Bergamasker Alpen und stellt Schliffformen im obern Seriotale'dar. In Übereinstimmung mit den Vorgängen auf Kalk zeigt es zunächst, wie auch hier die geschliffenen Flächen der Verwitterung trotzen. Man vergleiche sie mit dem üppigen Talgrund und den übergrünten Hängen! Doch fehlen zumeist auf Urgestein die spalierstrauchigen Pioniere, weil sie kalkliebend sind. Zu den ersten Ansiedlern gehört auch auf Silikatgestein eine Segge, Carex curvula oder Krummsegge. Neben ausgesprochenen oder gelegentlichen Felspflanzen, wie:.

Silene rupestris, Felsen-Leimkraut; Cardamine resedifolia, resedenblättriges Schaumkraut; Sempervivum montanum, Berg-Hauswurz; Primula hirsuta, behaarte Schlüsselblume; Phyteuma hemisphaericum, halbkugeliger Rapunzel; Leontodon pyrenaicus, pyrenäischer Löwenzahn; Gnaphalium supinum, niedriges Ruhrkraut, siedelt sie sich in Felsritzen an und durchzieht mit ihnen als Rasenschnüre oder breitere Streifen die kahlen Flächen. Sie benützen weniger die Gletscherschrammen als vielmehr Verwitterungsfugen und Rißlinien, die als Folge der Zerklüftung des Gesteins auftreten. Niederschlagswasser zusammen mit hergewehtem Staub und pflanzlichen Zersetzungsprodukten, das Wurzelwerk der Pflanze und der Wechsel von Frost und Wärme besorgen vereint die Verwitterungsarbeit auf chemischem und mechanischem Wege. Dadurch gewinnt die Segge an Boden. Nicht selten gelingt es ihr, sich über den ganzen Rundhöcker auszubreiten. Das so entstehende Curvuletum läßt sich, wenn wir kulturelle Eingriffe außer Spiel lassen, durch andere Pflanzengesellschaften kaum mehr verdrängen. Zwischen der Vegetation und den Daseinsbedingungen der Umwelt ist gewissermaßen ein Gleichgewichtszustand eingetreten, durch den der Werdegang zum Stillstand gekommen ist. Labilität ist in Stabilität übergegangen. Die Bilder 4 und 5 führen uns wieder auf das Geröll zurück. Nicht Spaliersträucher allein vermögen die rutschenden Steine zu stauen. Vielleicht sagen die Lebensbedingungen einer Halde von bestimmter Meereshöhe, Sonnenlage, Korngröße, Gefälle und Schneebedeckung keiner dieser Arten zu; oder es sind keine Samen dorthin verfrachtet wor- den. Tatsächlich sind Ab-witterungs- und Schutthalden häufig von horstbildenden Gräsern bewohnt. Die Bewegung der losen Steine in der Richtung des Geröllkegels bewirkt, daß die Horste seitlich ausgequetscht werden. Sie nehmen dann Halbmond- oder Hufeisenform an, deren Öffnung bergaufwärts ge- kehrt ist. In Bild 4 zeigt Agrostis alpina, der Alpen Dr. Ernst Furrer.

windhalm, diese Ausbildung. Im Graswulst ist deutlich das langovale Blatt von Polygonum viviparum ( lebendiggebärendem Knöterich ) erkennbar, einer Pflanze, die sich im nackten Geröll nicht zu behaupten vermag und hier ruhigen, humosen Grund gefunden hat. Unter der Horstpflanze und in deren Schutz gedeiht ferner ein üppiger, reich verästelter Steinbrech: Saxifraga oppositifolia.

Wo sich Horstpflanzen dieser Art reichlich einstellen, etwa in Gehängeschutt, überspinnen sie gleich einem grobmaschigen Riesennetz das lose Gestein, wie es Bild 5 vom Segnes in bezeichnender Weise zur Darstellung bringt. Man verwechsle diese Vegetation nicht mit den Viehtreien, die sich an berasten Hängen als Folge des Weidgangs ausbilden. Die Viehtreien sind ungefähr wagrechte, annähernd parallel verlaufende Weglein mit bunt zusammengewürfelten Be-gleitpflanzen. Treppenrasen hingegen entbehren der horizontalen Ausrichtung der Rasenwülste, für die die Halbkreisform bezeichnend ist, und die eine auserwählte Flora düngerfliehender Arten beherbergt. Am Aufbau der Grastreppen des Bildes 5 beteiligen sich das Blaugras und der Alpenwindhalm ( Sesleria coerulea und Agrostis alpina ) etwa in gleicher Stärke. Im Vordergrund rechts hat außerdem eine Dryade ihren Teppich ausgebreitet. Man darf annehmen, daß bei fortschreitender Zusammenarbeit der Schutt von einem ausgeglichenen Rasen völlig überdeckt wird.

Spalier- und Horstpflanzen sind demnach zwei Lebensformen, die den kahlen Schutt für den gestalten. Ohne sie müßten zahllose großen Troß von Rasenpflanzen besiedelbar Schutthalden vegetationslos sein und bleiben.

Die wenigen Beispiele in Wort und Bild mögen dargetan haben, wie die Pflanzen allmählich zu einer grünen Decke zusammentreten können. Es gewährt einen hohen Reiz, den Stadien nachzugehen, die der Pflanzenteppich unter den mannigfaltig abändernden Bedingungen durchläuft. Der Mensch ist indes ein zu kurzlebiges Wesen, als daß er all die Wandlungen der irdischen Pflanzendecke miterleben könnte. Er ist vielmehr auf die Vegetation angewiesen, wie sie sich ihm eben, darbietet, und auf dem Wege der induktiven Schlußfolgerung muß er durch vergleichende Beobachtungen die Entwicklungsgänge zusammensetzen. Die Versuchung liegt nahe, örtliche Vom Werden und Vergehen der alpinen Rasendecke.

Abänderungen der Vegetation zeitlich zu deuten, indem man die verschiedenen Zustände als Stadien einer und derselben Entwicklungsreihe auffaßt. Das kann unter Umständen zutreffen, doch nicht immer. Finden wir z.B. eine offene Felsflur oder einen offenen Schneetälchenbe-stand, so brauchen wir diese nicht als Anfangsstadien kommender Werde-gänge aufzufassen, die mit vollkommener Überwachsung des Felsens oder der Schneemulde endigen müssen. Die Vegetation wird sich nicht zu einer Decke schließen, solange ihre Komponenten den gleichen Lebensbedingungen unterworfen bleiben. Erst wenn Pflanzenarten von standortsschaffendem Einfluß hinzutreten, oder wenn die Daseinsbedingungen sich ändern, macht sich die Triebkraft zu einer Weiterentwicklung geltend. Haben wir hingegen das Kiesinselchen eines fließenden Gewässers auf seine Schotteranlagerung untersucht, so sind wir gewiß berechtigt, die Vegetationsformen entsprechend dem Alter des Untergrundes in einen Entwicklungsgang einzuordnen. Bei allen derartigen „ Sukzessions"-Studien ist für die Aufstellung von „ Serien " Vorsicht am Platze. Gründliche, vorurteilsfreie Beobachtung ist auch hier das alte Rezept, das uns vor verfehlten Schlußfolgerungen schützen kann.

In den Wandlungen der Vegetationsdecke lösen Aufbau und Zerfall einander ab; denn dem Ausbreitungsbestreben der Pflanzenverbände wirken Kräfte der Zerstörung entgegen. Eindringlich führt uns Bild 6 vor Augen, wie die Pflanzengesellschaften ihr Dasein sich erkämpfen müssen.

Wir stehen am Nordhang des Forstberges im Kanton Schwyz und schauen ostnordostwärts über weite Geröllhalden, die den Nordabfall des Drusberges bekleiden, zum Twäriberg ( 2119 m ) hinüber. Seine Felswände, die im Bilde nach rechts aufsteigen, speisen durch herabfallende Gesteinstücke den Gehängeschutt, der seinen Fuß hinter dem Tälchen des Mittelgrundes umhüllt. Wie Inseln schwimmen die scharf umrissenen Rasenfetzen im Geröllstrom. Wo aus der Felswand Nischen herauswittern, wird die Geröllhalde besonders reichlich mit Gesteinsmaterial ( und auch mit Lawinen ) überschüttet. Die Raseninseln haben dort einen gar harten Kampf ums Dasein zu bestehen. Der Wiesenhang, der sich rechts an den Geröllhang anreiht, muß einst auch von Felsen, nämlich von der gedachten Fortsetzung der steil abgeschnittenen Schichten überragt gewesen sein. Diese sind im Laufe der Zeit abgetragen worden, und die Trümmer, die den Hang aufgebaut haben, konnten sich mit Rasen völlig überkleiden; denn die Zufuhr von Schutt, der verheerend und zerstörend über die friedlichen Gewächse hergefallen ist, hat gänzlich aufgehört. Der Sattel wird sich wohl mehr und mehr nach links ausdehnen, wo bereits ein be- Dr. Ernst Furrei:

trächtliches Stück der Felswand herausgewittert ist. Wenn dereinst dieser Felskopf ein Opfer der Abtragung geworden ist und der Gehängeschutt an seiner Stelle bis an den Grat reicht, wird sich vom Fuß bis zum Grat eine Matte ausbilden können. Bis dann aber wird noch manches Rasenstück, dessen Pioniere die mühselige Geröll-befestigung überwunden haben, vom herabstürzenden Schutt überflutet werden.

Wenn wir von der Gegenwart aus in die Vergangenheit und Zukunft blicken und das Werden und Vergehen des Alpenrasens überschauen, so bekommen wir den Eindruck, daß der Vegetationswechsel sich nicht nach Zufall und Willkür vollzieht. Auf- und Abbau sind der Ausdruck einer geregelten Verkettung von Ursache und Wirkung und bewegen sich in ewigem Kreislauf. Je nach den Daseinsbedingungen, die den pflanzlichen Individuen durch Klima, Boden und Kultur geboten sind, wird er sich so oder anders abwickeln. Unter gleichen Bedingungen aber durchläuft er in einem bestimmten Florengebiet immer dieselben Bahnen, die von den unabänderlichen Naturgesetzen vorgezeichnet sind.

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