Vom Winde verweht | Club Alpino Svizzero CAS
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Vom Winde verweht

Im Rahmen einer Grossexpedition mit 26 Teilnehmern, wovon zwei Frauen, wollte ich als einer von sechs Schweizern im Frühjahr 1987 den 8201 Meter hohen Cho Oyu besteigen.

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Wir waren die erste Expedition, die diesen Himalaya-Riesen von Norden, das heisst von der chinesischen Seite her anging. Zum einen mögen hierzu die gegenüber Nepal deutlich kälteren Temperaturen eine gewisse Rolle gespielt haben. Vor allem aber werden die ungleich höheren Bewilligungsgebühren ( für unsere Gruppe beliefen sie sich auf 30000 US-Dollar ) potentielle Anwärter auf die Nordroute abgeschreckt haben. Um sich dieses Unternehmen finanzieren zu können, mussten deshalb viele Teilnehmer rund ein Jahr lang dafür arbeiten und während dieser Zeit sehr sparsam leben.

Mit Hilfe von Yaks ins Basislager

Unsere Reise war nur bis ins Basislager organisiert. Von dort weg war geplant, dass jeder Teilnehmer seinen Einsatz selbst bestimmen würde. Nach den letzten Einkäufen in Kathmandu wurden wir erst mit Bussen und anschliessend mit Jeeps ins untere Basislager auf der chinesischen Seite unseres Berges gefahren. Von dort weg galt es, rund 2500 Kilogramm Material und Lebensmittel ins vorgeschobene Basislager auf 5700 Meter Höhe zu tragen. Wegen eines heftigen Schneesturmes wurde unser Aufbruch um sechs Tage verzögert. Dann aber konnten wir, unterstützt von Yak-Treibern und ihren Tieren, die ebenso anstrengende wie faszinierende Wegstrecke in Angriff nehmen. Unser Ziel lag zwar bereits enorm hoch, doch war dies der einzig mögliche Standort für einen günstigen Lagerplatz. Drei Tage lang waren wir bereits unterwegs, als die Yaks kurz unterhalb des erstrebten Zieles im Schnee steckenblieben. Was diese unglaublich kräftigen Tiere in vielleicht nur zwei Stunden geschafft hätten, mussten wir in mühsamer Kleinarbeit in vier weiteren Tagen bewältigen. Endlich an unserem Ausgangspunkt für die nächsten sechs Wochen angelangt, war dann auch der Blick auf das Ziel unserer Träume, den Gipfel des Cho Oyu, frei. Wir konnten jetzt die möglichen Aufstiegsrouten studieren und waren vollauf mit dem Einrichten des Zeltlagers und tausend anderen Kleinigkeiten beschäftigt.

Der alpine Stil - ohne Hilfe von Trägern zum Gipfel

Wer sich zu einer Besteigung im alpinen Stil entschliesst, verzichtet gänzlich auf den Komfort, den die Hilfe von Trägern bietet. Es gilt, die Route selbst zu wählen, den Schnee selber zu stampfen, das Zelt allein aufzustellen und auch das Essen ohne Hilfe zuzubereiten. In einem Zwischenlager unweit des vorgeschobenen Basislagers, dem sogenannten Eislager, hatten wir ein gemeinsames Küchenzelt, wo uns Inge, die eine der beiden Frauen, ab und zu mit einer warmen, schmackhaften Mahlzeit verwöhnte.

Im Vergleich dazu der klassische Begehungsstil: Auf 6700 Metern Höhe trafen wir Chilenen, die von Nepal kommend mit Sherpas unterwegs waren. Welch ein Unterschied! Die Expeditionsteilnehmer liessen sich rundum bedienen. Das gesamte Material wurde ihnen mitgetragen, das Zelt wurde ihnen aufgestellt, und es gab sogar frisches Brot. Bei einem so kräftesparenden Aufstieg stellt sich für den Teilnehmer einzig und allein die Frage, wie er da hinauf und dann auch wieder hinunterkommt. Um den Rest hat er sich nicht zu sorgen.

Während sechs Wochen immer wieder im Schneesturm

Nach den ersten sonnigen Tagen im vorgeschobenen Basislager schlug das Wetter wieder um. Aus einem strahlend blauen Himmel entwickelte sich im Nu ein Schneesturm mit Temperaturen bis zu 30 Grad unter dem Gefrierpunkt.

Während der fünf folgenden Wochen starteten wir verschiedene Versuche zum Gipfel des sechsthöchsten Berges der Erde: Zuerst auf Erkundungsvorstössen, dann gruppenweise auf den ausgewählten Aufstiegsvarianten. Urs Mattli, Fredi Graf und ich waren die einzigen Teilnehmer, die ihr Glück mit Ski versuchten. Nach einem sechsstündigen Aufstieg konnten wir unser Lager I auf einer Höhe von 6400 Metern errichten. Dieses befand sich auf der untersten Schulter der Nordwestflanke. Bereits einen Tag später stand Lager II auf 6700 Metern, einige Fixseile waren montiert und das nötige Material in diese Höhe transportiert. Nach einer Akklimatisationszeit von einem Tag und einer Nacht stiegen wir wieder ab ins obere Basislager.

Beim nächsten Aufstieg gerieten wir aber erneut in einen fast orkanartigen Sturm. Allein für das Aufstellen des Zeltes bei Lager I benötigten wir zwei Stunden, und während der langen Nacht vermochten wir uns angesichts des ständig brausenden Windes kaum mehr zu verständigen. Am nächsten Tag wagten wir uns aber trotzdem an den Aufstieg über den grossen Eisbruch ( die Schlüsselstelle ). Dank der Fixseile schafften wir die heikle Passage mit 15 Kilogramm Gepäck problemlos. Die Ski hatten wir zurückgelassen, da in diesem Gelände an eine Abfahrt nicht zu denken war. Diesmal erreichten wir eine Höhe von 7300 Metern und konnten wiederum ein Lager aufstellen. Doch dann verschlechterte sich das Wetter. Ein Expeditionskamerad kehrte von ei- nem höher gelegenen Sturmlager zurück und berichtete von unwahrscheinlichen Witterungsverhältnissen. Dennoch wollten Urs und ich baldmöglichst weiter aufsteigen, um endlich den langersehnten Gipfel zu erleben. Der Wind und die damit verbundene Kälte wurden zum unlösbaren Problem an diesem Berg - erneut wurden wir zum Rückzug gezwungen.

Ein schwerer Entscheid

Bei gutem Wetter wäre der Gipfel in rund sechs Stunden zu erreichen gewesen; bei diesen Verhältnissen lagen die Chancen, noch lebend zurückzukehren, jedoch kaum über 50 Prozent. Die lang anhaltende Schlechtwetterperiode hatte nicht nur mich, sondern auch die übrigen Kameraden stark ermüdet und völlig ausgehöhlt. Es war an der Zeit, den schweren Entscheid zu fällen und von weiteren Gipfelversuchen abzusehen. Nach diesem Verzicht überkam mich sogleich eine grosse Erleichterung, und ich begann mich auch sofort innerlich stark von diesem Unternehmen zu distanzieren. Sicher, eine Kapitulation bedeutet unter Umständen Imageverlust und kommt einer Niederlage gleich. Es besteht weder Aussicht auf Erfolg noch auf Ansehen. Doch wer nur blind auf das Ziel zustürmt, dabei leichtsinnig Erfrierungen riskiert und weder an sich noch an seine Angehörigen denkt, wird auch früher oder später einmal scheitern.

Wenn die Seele "Löcher" bekommt

All diese Gedanken kreisten mir während des schwierigen Abstiegs vom Hochlager IV durch den Kopf. Wir waren spät aufgebrochen und traversierten auf 7300 Metern ein Hochplateau Richtung Eisabbrüche. Mitten auf dieser riesengrossen Ebene betrug die Sicht plötzlich nur noch zwei bis drei Meter, und wir mussten aufpassen, uns nicht zu verlieren.
Zum ersten Mal auf dieser Expedition befiel mich grosse Angst. Jetzt, auf dem Rückweg, nach dem Abbruchentscheid noch diese unheimliche Gefahr. Urs wurde trotz seiner 85 Kilogramm und trotz Steigeisen von einer gewaltigen Sturmböe von den Beinen gerissen und konnte sich nur noch mit Glück an seinem Eispickel und an mir festhalten. Die Temperatur betrug - den Wind nicht miteingerechnet- minus 32 Grad, und die Windgeschwindigkeit lag bei rund 100 Kilometer pro Stunde. Alles war steif gefroren, und eisige Kälte umgab uns.

Das Gehen wurde zum Kriechen, das Kriechen zum Kauern. Um uns herum tobte ein Orkan, und wir waren ihm hilflos ausgeliefert. Der letzte Funken Hoffnung wurde vom Winde verweht, nachdem der im Unterbewusstsein gelagerte Drang nach dem Gipfel ohnehin schon weggeblasen und jeder Wille gebrochen war. Ich drohte den Verstand zu verlieren und verfiel in Träume, wunderbare Träume. Für Bruchteile von Sekunden oder Minuten. Doch immer wieder rüttelte die Realität mich wach. Du darfst hier oben nicht träumen, auch wenn es Dir verdammt schlecht geht. Was bist Du für ein Narr, wer bist Du überhaupt? Wer soll mir hier das Träumen verbieten? Kein Mensch sieht mich hier oben in dieser eisigen, sturmdurchpeitschten Hölle. Oder ist da doch jemand? Spüre ich nicht doch noch etwas? Einen riesengrossen Überlebenswillen direkt vor mir - meinen eigenen. Er zieht mich weiter, zur lebensrettenden Insel, zu einem im Schnee- und Eisgestö-ber fast schon untergegangenen Markierungsfähnchen. Dann eine kurze Aufhellung, und die Sicht wird frei auf weitere Markierungen und den Einstieg zum Eisabbruch. Wir sind gerettet. Diese Erkenntnis wird sich erst viel später einstellen und in mir eine grosse Dankbarkeit aufkommen lassen.

Die Entschädigung

Der Entscheid war richtig gewesen. Wir hatten nur noch fünf Tage zur Verfügung, und es bestand keine Aussicht auf Wetterbesserung. So brachen wir die Expedition nach gut fünf Wochen ab und traten vorzeitig den Rückzug durch das langgezogene Palung-Tal an. Markus Schmuck, unser Expeditionsleiter und der Erstbesteiger des Broad Peak ( 8047 m ), gelang es zu meiner grossen Freude mit Hilfe des chinesischen Sportmanagers, der in unserem Basislager weilte, eine Kulturreise zur heiligen Stadt Lhasa, der Hauptstadt Tibets, zu organisieren. Sämtliche anfallenden Kosten übernahm freundlicherweise das chinesische Sportkomitee. Dies war für uns alle eine grossartige Entschädigung und ein wunderbarer Trost für die windumtobten Tage am Berg.

Und sie war mir persönlich plötzlich auch viel wichtiger als der weit entfernte Gipfel. Land und Leute, aber auch das Bewusstsein, eine grosse Gefahr überstanden zu haben, traten in den Vordergrund. Im Vergleich zu den am Cho Oyu verbrachten Wochen war die Reise durch das heilige Tibet sehr kurz. Doch auch diese oder gerade diese Eindrücke werden stets in meiner Erinnerung bleiben. Man hat den Tibetern die Freiheit genommen, ihr Lachen und ihre natürliche Fröhlichkeit aber konnte ihnen niemand nehmen. Es sind Menschen, die im Buddhismus ihren Frieden suchen und trotz wenig persönlichem Hab und Gut eine grosse Lebensfreude ausstrahlen. Für mich war dies wieder einmal ein Beweis, dass der Weg zu innerem Glück nicht über materiellen Reichtum führen kann.

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