Vor siebzig Jahren. Ulrich Almer | Club Alpino Svizzero CAS
Sostieni il CAS Dona ora

Vor siebzig Jahren. Ulrich Almer

Hinweis: Questo articolo è disponibile in un'unica lingua. In passato, gli annuari non venivano tradotti.

Ulrich Almer, dem Senior der Bergführer.

Von Martin Nil.

Am 18. September 1865 war das Grosse Nesthorn ( 3817 m ) zum ersten Male bestiegen worden von den Engländern H. B. George und A. Mortimer mit den Grindelwaldnern Christian Almer als Führer und seinem ältesten, damals 16jährigen Sohn Ulrich als Träger. Trotzdem der Sommer regnerisch war, fielen doch in diesem Jahr eine Reihe der stolzesten Gipfel. Es war das Jahr, da Whymper zum erstenmal die Spitze des Matterhorns betrat und der Vater Christian Almer, wie W. A. B. Coolidge urteilt, auf der Höhe seiner glänzenden Führerlaufbahn stand. Mit jenem 18. September eröffnete Ulrich Almer seine dem berühmten Vater ebenbürtige Führertätigkeit. Das Grosse Nesthorn war die erste Erstbesteigung dieses Grindelwaldners, dessen Führerbuch eine seltene Zahl und Auslese von grossartigen und wohlgelungenen Turen aufweist, das aber auch mit einer grossen Tragik abschliesst: Ulrich Almer ist heute, als 86jähriger Greis, erblindet, darauf angewiesen, in seinem Gedächtnis die zahllosen Bilder des einst in den Bergen Erlebten, Erstrittenen und Erlittenen zu schauen. Als ich am 19. September letzten Jahres den alten Bergkämpen besuchte, ihm vom Grossen Nesthorn erzählte, das wir vor wenigen Tagen bestiegen hatten, da erinnerte er sich noch gut an jene Stunden vor siebzig Jahren. Namentlich hatte sich ihm die feierliche Begrüssung der heimkehrenden Erstbesteiger auf Belalp noch deutlich im Gedächtnis bewahrt. Der Wirt, der bei dieser Gelegenheit mit Champagner aufrückte, hatte offenbar gute Zeiten, denn er konnte sich 's leisten, wenn ihn die böse Laune ankam, alle seine Gäste aus dem Hotel fortzujagen, um am nächsten Abend trotz alledem sein Haus wieder vollbesetzt zu haben.

Wenn wir uns aufmachten, das Grosse Nesthorn zu besteigen, so geschah es nicht zuletzt im Gedanken an dieses Jahr 1865, aber auch im Hinblick auf das Urteil von George, der von diesem Gipfel schrieb: « Die Aussicht ist vielleicht die schönste in den Alpen. » Am Montag den 9. September erreichen wir vom Jungfraujoch her bei düsterer Bewölkung Konkordia. Da auch der folgende Tag unsicher scheint und schwere Wolkenbänke über dem Wallis lasten, verzichten wir auf eine Überschreitung des Grossen Aletschhorns und wandern gemächlich über den Aletschgletscher gegen das Eggishorn. Dort brodelt es geradezu schwarz, aber in den Höhen scheint es heiter zu sein, und wie wir an den Märjelensee kommen, brechen auch schon helle Sonnenstrahlen durch die Wolken und beleuchten da und dort auf Augenblicke die grosse Landschaft.

Blendend weiss schimmern die Eisblöcke im tiefgrünen Gletschersee, während im Hintergrund düstergraue Nebel die Berge verhüllen und massige Wolken neben glänzenden Sonnenblicken ein wechselvolles Spiel von Licht und Schatten erzeugen. Wo der Weg das Ende des kleinen Märjelensees erreicht, zweigt der alte Pfad ab, der über den Eggishornrücken nach dem Hotel Jungfrau führt. Heute wenig begangen und nicht mehr unterhalten, sah er einst die Karawanen von Gletscherbesuchern. Auf ihm knirschten die Die Alpen — 1936 — Les Alpes.20 schweren Schuhe der Führer der Pionierzeit. In verschienenem groben Halblein, engsitzendem Rock, langen Hosen, das bärtige und sonnengebräunte Gesicht vom breitrandigen schwarzen Filz überschattet, so kamen sie daher, gefolgt von jenen Männern, deren Namen mit der Geschichte des Alpinismus rühmlich verbunden sind. Da sah man Maultiere und auf ihrem Rücken Damen in wehenden Schleiern, kurz alle diese Gestalten der Reisenden, deren Tracht uns heute so vergangen und doch so bieder anmutet. Über diesen Weg mag 1865 auch Lord Francis Douglas gegangen sein von Grindelwald, wo er das Wetterhorn bestiegen hatte, mit dem Führer Peter Egger über das Mönchsjoch herkommend ( laut Eintragung in Eggers Führerbuch ), um nach Zermatt zu gelangen und am Matterhorn den Tod zu finden.

Während noch da und dort Wolken die Landschaft verhüllen, ist auf dem Gipfel des Eggishorns der Blick frei auf den grössten Gletscher der Alpen. Unbeschreiblich, wie der Gletscher wie ein urweltliches Gebilde auf einen zuströmt. In sanften, weitausholenden Bogen, aber in ungeheuren Ausmassen fliesst er in der Tiefe dahin, von hier sichtbar in seiner ganzen Ausdehnung.

Ruhig, gross und einfach, so ganz anders als der dämonische, wild zerrissene und in ein steiles und schmales Felsenbett gepresste Fieschergletscher ist seine Art. Wie ein Smaragd leuchtet zu Füssen der Spiegel des Märjelensees, wie Brocken weissen Marmors darin die Eisschollen. Und wie die Wolken nun auch die schlanke Pyramide des Aletschhorns freigeben und wie, um durch den Kontrast den Eindruck des Heroischen zu verstärken, aus dem Rhonetal liebliche Dörfer, Weiden und Wälder winken und dahinter sanftere Bergformen sichtbar werden, da verstehen wir, dass die Aussicht vom Eggishorn alt- und mit Recht weitberühmt ist.

Beim Eindämmern erreichen wir Riederalp und am nächsten Tag über Riederfurka und Aletschwald den vornehmen Bau der Oberaletschhütte. Einen Tag hatten wir, wie man so sagt, verloren und kamen am Abend überein, auf das Nesthorn zu verzichten und anderntags über den Beichpass rechtzeitig Goppenstein zu erreichen.

Aber wunderbar ersteht die Vollmondnacht. Silberne Lichter umspielen den Gipfel des Nesthorns, leuchten und locken hinauf in die Höhe, breiten sich aus auf dem ebenen Gletscher, während die steilen Wände im tiefen Schatten stehen. Schon ist für uns, beim Aufbruch von der Clubhütte, der Mond untergegangen, und wir tasten uns im Dunkel über den Pfad zum Gletscher, auf dessen spaltenlosem, gutmütigem Rücken wir in fast unmerklicher Steigung dem Beichpass zustreben. Und fast unmerklich vollzieht sich auch das Werden des neuen Tages, und doch wird die Umgebung heller und heller. Noch sind die Farben von Gletscher und Fels kalt, hart stehen die Zacken der Fusshörner gegen die Helle des Morgenhimmels. Dann schlägt die Sonne hoch oben am Nesthorn an, lässt die Firne des Lötschentaler Breithorns in rosigem Lichte aufleuchten. Nein, es ist nicht möglich, der Höhe zu entsagen! Ohne Zaudern legen wir am Fuss des Gletscheraufbaues, wo vier durch kleine Felsen getrennte Gletscherzungen ausmünden, unsere Säcke ab, und eine halbe Stunde später rückt eine Viererpartie gegen die vom Nesthorn her dritte steile Gletscherkehle an. Unser Führer, Fritz Brawand, freut sich endlich auf Arbeit. Mit dem Spürsinn des Berglers findet er sich durch die Spalten, und eben nähern wir uns einer Stelle, wo zwei klaffende Schrunde nur einen engen und steilen Durchläse gestatten. Da, ein Knall, ein Ächzen, und über uns neigt sich ein haushoher Eisturm. Der Gedanke an eine Katastrophe geht blitzschnell durch das Gehirn, aber schon im nächsten Bruchteil der Sekunde ist zu erkennen, dass die stürzende Masse von einer seitlichen Mulde abgefangen wird. Vereinzelte Eisbrocken rollen neben uns in die Tiefe. Dann ist alles wieder still. Etwas misstrauisch queren wir diesen Engpass und sind froh, keine derartigen Eistürme mehr über uns zu sehen. Rasch gewinnen wir in dem steilen aber guten Schnee die Höhe, und nach einigen Geduldsproben taucht der südliche ferne Horizont auf, und wir stehen auf der Höhe des Gredetschjoches. Ausgezeichnete Verhältnisse. Ohne den geringsten Wind, im warmen herbstlichen Sonnenschein, immer im Anblick einer gewaltigen, mit jedem Schritt sich weitenden Aussicht, so erreichen wir mühelos den Gipfel. Wie soll ich die Aussicht beschreiben? Versuchen wir, uns ungefähr in die Stimmung jener Erstbesteiger vom 18. September 1865 zu versetzen und gleichsam mit ihrem Auge zu sehen.

Damals lag noch über dem ungeheuren Horizont der Gipfel der Zauber des Neuen, ja vielfach noch des Unbekannten; lebendig und noch nicht historisch waren die Daten so vieler Erstbesteigungen, persönlich bekannt die Männer, die sie vollbracht hatten.

Über dem Matterhorn, das sich dort hinter dem Weisshorn eben noch emporzurecken vermag, lastet noch der Schauer der Katastrophe als der dunkle Schatten des Ruhmes von E. Whymper. Vor einem Monat, am 15. Juli 1865 war es geschehen. Bis zum 7. Juli war Christian Almer mit Whymper gegangen und hatte mit ihm eine Reihe glänzender Erstbesteigungen vollbracht.

Almer konnte nach dem Grand Cornier, der Ruinette und dem Mont Blanc de Seillon herüberblicken oder seinen Herren die ferne Westspitze der Grandes Jorasses zeigen oder dort, rechts von der weissen Kuppe des Mont Blanc die stolze Aiguille Verte. Alle diese Gipfel hatte er in diesem Sommer als Erster bezwungen.

Und sein Herr, Mr. George, erkannte wohl bald links neben dem nahen Aletschhorn das Grosse Fiescherhorn, auf dessen Gipfel er drei Jahre vorher, also 1862, mit Christian Almer den Tannengrotzen als erster Sieger aufgerichtet hatte. Auf diesem Gipfel flatterte auch heute eine Fahne! Vor sechs Tagen, am Dienstag vor Bettag, war dem Pfarrherrn von Grindelwald, R. Gerver, Dr. Weber aus London mit Peter Rubi und Peter Inäbnit als Führer, Peter Baumann und Christen Meyer, Schafhirt imKalli, als Träger,'alle aus Grindelwald, die vierte Besteigung dieses Berges gelungen.

Das Lötschentaler Breithorn, an dessen Ostflanke man emporgekommen war, blieb noch vier Jahre unbestiegen, und das felsige Gredetschhörnli musste noch 22 Jahre, also bis 1887, auf seinen Erstbesteiger, Ludwig Purtscheller, warten. Aber dort über die felsigen Lonzahörner grüsst das Lauterbrunner Breithorn. Vor 14 Tagen war Christian Almer mit den Engländern Philpott und Hornby einige Minuten später auf den Gipfel gelangt als der Berner E. von Fellenberg mit seinen Führern Peter Michel, Peter Egger und Peter Inäbnit von Grindelwald und Johannes Bischoff von Lauterbrunnen. Jedoch, schon seit sechs Jahren bestiegen durch L. Stephen, den Erstersteiger des Grossen Schreckhorns, ist das Bietschhorn, das mit seinem von dieser Seite schneeigen und imponierenden Aufbau die Aussicht nach Westen dominiert. Nach Nordosten hin beherrscht das Grosse Aletschhorn den Blick. Wie das Bietschhorn im Jahre 1859 durch Tukett besiegt über die Mittelaletschseite, während 1862 E. v. Fellenberg den Aufstieg von Oberaletsch her fand. Gut, dass der junge Träger, der heute seine Laufbahn eröffnet, nicht einige Jahrzehnte im Geist vorauseilen kann, um in diesem Gipfel seinen Schicksalsberg zu erkennen.

Doch auch wir Heutigen, um wieder in die Gegenwart zurückzukehren, haben unsern Blick. Die Berge sind dieselben geblieben, aber wir sind anders geworden. Andere Formen hat der Alpinismus angenommen. Wir sehen vom Gipfel die Oberaletschhütte in der Tiefe der einen und am Fusse des Bietschhorns der andern Seite die Baltschiederklause. Darin kommt deutlich die Erschliessung der Alpen mit allen Annehmlichkeiten und ungeheuren Erleichterungen zum Ausdruck. Auch wir schauen an die Matterhornnordwand und sprechen davon, wie der Grindelwaldner Hermann Steuri die Wand im vergangenen Sommer meisterte. Hier darf man dieses in einer gewissen alpinen Literatur nachgerade allzu häufig missbrauchte Wort wohl anwenden. Wir haben die steile Nordwand der Nesthörner selber betrachtet und denken an die Deutschen Weizenbach und Merkel, die den Gipfel auf diesem « Weg » erreichten und deren Körper heute im Eise des Nanga Parbat ruhen. Auch wir erkennen die dunkle Nordwand der Grandes Jorasses, die auch in diesem Sommer « gefallen » ist, aber auch wir haben die Tragödie in der Eigernordwand miterlebt, fragen aber nicht nur nach den Grenzen des Menschenmöglichen, sondern auch nach den Grenzen, die einen gesunden Alpinismus scheiden von einem Sport, der sich, als gewollter Kampf um Leben und Tod, sittlich nicht mehr rechtfertigen lässt.

Aber auch vor uns spannt sich der weite Bogen, Gipfel an Gipfel, vom Gotthard bis zum Mont Blanc. Diese ungehemmte Schau nach der Walliserseite und der Einblick anderseits, gleichsam hinter die Kulissen der Berner Alpen, ist wohl das Charakteristische an der Aussicht des Grossen Nesthorns. Es ist bitter, einen solchen Gipfel zu betreten, eingehüllt in Nebel, und nichts zu sehen, und es ist wie ein unbegreifliches Geschenk, an einem so glänzenden Tag in dieser Höhe zu sein.

Sich in eine vergangene Zeit zurückzuversetzen, erweckt stets heimweh-ähnliche Stimmungen. Vergessen wir darob nicht, dass selbst im Alpinismus manches war, das heute nicht mehr bestehen dürfte. Aber etwas sollte bleiben, wenn auch sich auswirkend in neuen Formen: die wahre Liebe zu den Bergen und die Fähigkeit, immer wieder von neuem mit Staunen und Bewunderung ihre Grosse und Pracht in sich aufzunehmen.

Der Alpinismus ist nur zu einem bescheidenen Teil rechtmässig Sport. Er ist mehr, und in diesem « Mehr » liegt der Schutz, der ihn hoffentlich Entartungen immer wieder überwinden lässt, an denen jeder reine Sport früher oder später degeneriert.

Es sei nur kurz erwähnt, dass wir auf dem gleichen Weg abstiegen, unsere Säcke in Ordnung brachten und über den Beichpass, auf dessen Höhe wir einen ersten Blick ins Lötschental und einen letzten nach dem von hier recht imposanten Nesthorn warfen, Fafleralp beim Einnachten erreichten und am frühen Morgen beim Mondschein hinunter nach Goppenstein wanderten. Und mit dem Dunkel des Lötschbergtunnels sank all das Schöne in die nimmerwiederkehrende Vergangenheit. Doch Eindrücke bleiben als Erinnerungen: sie lassen sich hervorholen oder sie stehen unvermutet vor der Seele als hellschimmernde Bilder, die uns die Dankbarkeit und Liebe zu den Bergen wachhalten, ohne freilich die Sehnsucht nach den Höhen, nach Fels und Eis stillen zu können, vielmehr nach neuen Zielen locken. « So ging es und geht es noch heute. »

Feedback