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Zermatter Eiswände

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VON MAX EISELIN, KRIENS ( LU )

Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich überwinden.Friedrich Nietzsche Mit 3 Bildern ( 59-61 ) Obergabelhorn ( 4062 m)-Nordostflanke Schon wochenlang liegen wir in Zermatt herum. Im August 1954 wird es mit dem Wetter immer unterhaltsamer, und eines Morgens ist unser Zelt, das wir neben der brausenden Vispa aufgeschlagen haben, mit Neuschnee bedeckt. Draussen schaut es aus wie an Weihnachten. Aber gemütlich ist es dennoch; denn Bergsteiger aus verschiedenen Ländern sind in den umliegenden Zelten von Winkelmatten. Am Abend wird am gemeinsamen Lagerfeuer Gitarre gespielt, melancholische Wanderweisen erklingen aus rauhen Kehlen, und der Fendant macht die Runde.Von einem Franzosen erhalte ich das soeben erschienene Buch von Gaston Rébuffat « Etoiles et Tempêtes » und die neueste Ausgabe des « Alpinisme ». Wenn wir schon zum Stillsitzen verurteilt sind, so führen wir uns wenigstens die alpine Literatur zu Gemute und machen im Geiste grosse Bergfahrten.

Bei dem vielen Neuschnee sind schwierige Felstouren oder kombinierte Fahrten wenig empfehlenswert. Wer trotzdem noch ein Maximum an Erlebnis durchmachen will, verlegt sich deshalb am besten auf die reinen Firntouren. Auch wenn die Verhältnisse keineswegs günstig sind, so stört hier der Neuschnee doch noch am wenigsten. In meinem Kopfe spukt schon seit Jahren eine ganz besondere Eiswand herum: die Nordostflanke des Obergabelhorns. Jeder, der diesen schimmernden Schneepanzer schon vom Zinalrothorn aus gesehen hat, ist davon bezaubert. Hier muss man einfach einmal hindurchgestiegen sein! Solch gleichmässig offene Firnflanken ohne Eisabbrüche und felsige Zwischenstücke sind technisch nicht sehr schwierig, zeigen sich doch nirgends zwingende Hindernisse; und hätte es solche, so liessen sie sich leicht umgehen. Im Gegensatz zu Fels- oder kombinierten Führen hat man hier natürlich viel mehr Möglichkeiten der Routenwahl, da man sich den Weg selber bahnen kann, ohne sich den vorhandenen Griffen und Hakenritzen, Couloirs oder Eisdurchschlupfen anpassen zu müssen.

Es ist noch stockdunkle Nacht, und trotzdem befinde ich mich mit meinem Kameraden Detlef Hecker bereits auf dem Gipfel der Wellenkuppe ( 3903 m ). Die ersten Zinalrothornbesucher verlassen soeben die Rothornhütte. Mit ihren Laternen sehen sie von hier oben wie Fackelträger einer nächtlichen Prozession aus. In grimmiger Kälte steigen wir zum Sattel zwischen Wellenkuppe und Obergabelhorn hinunter. Langsam dämmert es, und wir können die beabsichtigte Routenführung betrachten. Die Wand selber macht uns gar keine Sorgen. Ein heikleres Problem aber ist der Zugang zum Einstieg: in diesem wild zerschrundeten Gletscherkessel ein grosses Fragezeichen! Dank dem vielen Schnee dieses Sommers gelingt uns eine interessante Variante, indem wir eine tolle und äusserst steile Abwärtsquerung zum Bergschrund hinunter anlegen. Gesicht gegen die Wand, nur mit den Frontalzacken der Steigeisen und der Pickelhaue am Berg gehalten, gewinnen wir stetig an Tiefe. Beim Bergschrund unten treffen uns die ersten Sonnenstrahlen. Wir müssen Steigeisen und Schuhe ausziehen, um die gefühllos gewordenen Zehen wieder warmreiben zu können. Die durchdringende Kälte ist scheusslich. Eine Brise, die vom Gipfel her weht, bestreicht die ganze Firnflanke ob uns und lässt den feinen Pulverschnee ständig auf uns herunterrieseln. Dieser dringt durch Kragen und Ärmel ein und verstopft die Sonnenbrille. Oft wird das lästige Geriesel derart stark, dass wir davon wie von einer Lawine zugedeckt werden. Freunde, die uns vom Zinalrothorn her beobachtet haben, erklärten uns später, sie hätten uns deswegen oft plötzlich nirgends mehr gesehen. Die Beschaffenheit des Firns lässt sehr zu wünschen übrig: meistens Pulverschnee, hin und wieder trittiger Firn, seltener Blankeis. Es ist ein monotones Aufwärtsstreben. Jede Seillänge gleicht der andern. An der gegenüberliegenden Wellenkuppe messen wir unser Fortkommen, das sehr langsam ist, weil wir in der haltlosen Masse nicht miteinandergehen können, und wir nach jeder 40-m-Seillänge mit dem Pickel ganze Schneehaufen und morsches Eis in die Tiefe befördern müssen, um einen Standhaken ins Eis zu treiben. An Pickelsicherung wäre nicht zu denken. Eigentliche Schwierigkeiten sind nicht vorhanden, aber die ständige Ausgesetztheit auf dieser « Fliegenschleife » zehrt stark an den Nerven. Seillänge um Seillänge ringen wir der nicht enden wollenden Flanke ab. Endlich erreichen wir kurz unter dem Gipfel den Grat. Wolken hüllen uns ein, und da wir ein Gewitter befürchten, verzichten wir auf den Gipfel und steigen so rasch wie möglich über die Normalroute zum « Grossen Gendarm » hinunter. Nicht wenig erstaunt treffen wir dort auf eine sehr langsam vorwärtskommende Dreierseilschaft, die trotz der vorgerückten Zeit noch auf den Gipfel will. Wir wünschen den beiden Herren und der Dame viel Glück und hoffen, dass sie noch zeitig hinaufund wieder heruntergelangen. Die paar Wolken verursachten bei uns falschen Alarm, denn in einem herrlichen Abend steigen wir über die Felsen der Wellenkuppe hinunter zur Rothornhütte.

Breithorn ( 4165 m)-Nordwestwand Das Breithorn nimmt unter den Walliser Riesen eine besondere Stellung ein, ist es doch mit Abstand der leichteste und meistbesuchte Zermatter Viertausender. Seine Normalroute gleicht an schönen Sommertagen der zertrampelten Piste eines Wintersportplatzes, und der « zusammenlegbare » Skilift ob Testa Grigia erlaubt den skifreudigen Bürgern, auch im Sommer ihrem geliebten Sporte nachgehen zu können; denn das Breithornplateau gehört zu den « schneesicheren Pisten ». Gottlob ist dieser Herdenbetrieb auf die Südseite des Berges beschränkt. Die steilen Nordabstürze weisen durchwegs alpinistische Routen ernsten Charakters auf. Younggrat und Triftjigrat gehören zu den klassischen Wegen, während man das 1954 durch eine Wiener Seilschaft erstbegangene Nordostcouloir sowie die Nordwestwandroute Weizenbachs zu den typischen Eistouren der modernen Zeit zählen kann.

Schon lange vor Zermatt, noch weit unten im Mattertal, können wir die 1100 m hohe Wand, unmittelbar links vom Kleinen Matterhorn, erkennen. In idealer Linienführung fanden Weizen- bach, Rigele und Bachschmidt einen Weg durch die wilden Eisbrüche und Felsabstürze. Bei schwülem, gewittrigem Wetter verlassen wir zu viert Zermatt. In Scharen steigen die heutigen Breithorn-besucher den Weg von Gandegg herunter, verschwitzt, mit riesigen Rucksäcken und tropfenden Gletscherseilen; aber glücklich ob ihres Viertausenders - bei vielen der erste und letzte ihres Lebens -mustern sie uns, ob wir wohl Breithornkandidaten oder simple Hüttenbummler seien. Gerade wild scheinen wir nicht dreinzuschauen. Ob daran Tonis Regenschirm, Hansls Gestellrucksack, meine funkelneue Hose oder gar die Damenbegleitung schuld ist, weiss ich nicht. Jedenfalls fragt uns ein herabkommender « Zünftiger » belustigt nach unserem Ziel. Wir geben ihm zu verstehen, dass wir versuchen möchten, über das Breithornplateau den Gipfel zu besteigen und fragen ihn, der ungebeten so gerne Ratschläge über die Art des Bergsteigens erteilt, ob uns dies wohl möglich sei. Ob wir wohl an Gletscherspalten vorbeigehen müssten, frage ich ihn. Und Toni, ein ostalpiner Kletterspezialist, meint mit dem harmlosesten Gesicht der Welt, in diesem Falle könnte er nicht mitkommen, da ihm wegen des Tiefblicks in die furchtbaren Gletscherspalten übel würde. « Da kommt S'net aufi, da hot 's Gleetscherspolt'n! » der Fremde. Wohl weil er bei keinem von uns ein Seil auf dem Rucksack entdecken kann, geht das Verhör weiter: « Ja mei, geht S'denn ohne Sal? » Wir machen dem immer Erstaunteren ( er scheint ein offizieller Funktionär irgendeines Alpenvereins zu sein ) klar, dass wir das Bergsteigen prinzipiell seilfrei erlernen möchten, weil ein Seil erstens viel Geld koste und zweitens wir Anfänger doch nichts damit anfangen könnten. Es wird höchste Zeit, von unserem alpinen Berater Abschied zu nehmen, um wenigstens die angestaute Lachmenge entladen zu können. Wir sind sicher, dass er in irgendeiner Alpenvereinszeitschrift ein Elaborat über « Verirrungen junger Bergsteiger » schreiben wird. Humoristisches Intermezzo beim Hüttenaufstieg!

Die holden Hüterinnen der Gandegghütte wecken uns anstatt um 2 erst um 5 Uhr. « Das langet no güet fir 's Breithore! » meinen sie gutmütig auf unseren Protest hin. Hier wirkt sich unser Aussehen als Normalroutenbergsteiger schon schlimmer aus als beim gestrigen Ulk mit dem « Zünftigen » aus. Viel zu spät für eine solche Tour verlassen wir die warme Hütte. Über ein kleines Weglein steigen wir zum Oberen Theodulgletscher hinunter und erreichen über diesen den Triftjigletscher. Diese beiden Gletscher sind aper, so dass wir erst beim Einstieg in die Wand uns anzuseilen brauchen. Um 7 Uhr übersteigen wir den Bergschrund. Die beiden Berchtesgadener Hansl und Toni, die vor allem Ostalpenkletterer sind, wollen Eva und mir, den « Westalpinen », den Vortritt lassen. Da solche Jungens aber das Bergsteigen im Blute haben und als gute Felskletterer auch die Steigeisentechnik sofort beherrschen, lassen wir sie gerne vorausstürmen. Als « Damenführer » kann ich sowieso im Hacken nicht abwechseln und bin denn ganz froh, von ihrer Eisarbeit nutzniessen zu dürfen. Wir sind uns ja gewohnt, mit den Zwölfzackern auf ein Maximum ohne Stufen auszukommen Hansl und Toni aber sparen nicht mit grossen und luxuriös ausgearbeiteten « Chacheln », die sie im Nu aus dem Eise schlagen. Ich bin sicher, dass sie selber auch ohne Stufen ausgekommen wären. Aber es gibt auch galante Bergsteiger! In massigem Abstand zur Berchtesgadener Seilschaft folge ich mit meiner Seilgefährtin. Meistens gehen wir im Eis, halten uns aber so lange wie möglich hart an den Felsrand, der gute Sicherungsmöglichkeiten bietet. Hoch oben in der Eiswand bäumt sich uns noch ein zweiter Bergschrund entgegen, der aber wider Erwarten gut zu zähmen ist. Ein steiles Eiscouloir führt nach links hinauf gegen die Wandmitte. Glasiges Blankeis gibt uns hart zu schaffen, was Sicherung durch Eishaken notwendig macht.

Im Gegensatz zu Eisröhren haben Eishaken die Eigenschaft, sehr gut zu halten. Das merkt dann vor allem der Seilletzte. Bis zum letzten Millimeter heisst es dann, diese Dinger wieder heraus-zupickeln, eine anstrengende Arbeit in der Viertausenderregion! Eva hat dieses grosse Vergnügen. Die Ersteigung einer grossen Wand, sei sie aus Fels oder Eis, bedeutet eben auch für den Geführten nicht eitel Freude, beide müssen zum gemeinsamen Erfolg beitragen.

Das Couloir ist etwas unsympathisch. Ob uns befindet sich nämlich eine lästige Felswand, die ständig kleinere und grössere Eissplitter und Geröll niedersendet. Und ganz oben grüssen gewaltige überhängende Seraks. Wenn ihr nur schön ruhig bleibt! Obschon das Risiko des Eisschlages verhältnismässig gering ist, atmen wir doch auf, wie wir aus dem steilen Couloir in das offen vor uns liegende Mittelstück der Wand gelangen. Es ist hier auch weniger steil, und dazu erwartet uns noch ein prächtig trittiger Firn. Man braucht bloss mit den Steigeisen hineinzustehen, und dann geht 's von selbst! In den vergangenen angespannten Stunden, im Kampfe gegen Blankeis und in Erwartung objektiver Gefahren, haben wir gar nicht an Dinge wie Essen denken können. Hier, in gemüt-licherem Gelände, werden wir deshalb plötzlich von stechendem Hunger überfallen. Auf den Pickel- hammer gestützt, die « kuhnägelnden » Füsse abwechslungsweise schüttelnd, lutschen wir an einigen dürren Zwetschgen und verschlingen hastig etwas vom obligatorischen Würfelzucker. Herrlich ist der Tief blick zum Gornergletscher. Einige Nebelschwaden geistern um Gipfel und Grate, aber das Wetter scheint sich vorläufig noch zu halten. Im Sommer 1956 heisst es froh sein, dem Wettergott wenigstens halbwegs schöne Tage abtrotzen zu können.

Der Aufstieg bietet keine Sensationen mehr. Wir sind in dem für Firnflanken üblichen Neigungswinkel von 60°. Steigeisen und Pickelhammer besorgen die Fortbewegung, weder Stufen noch Eishaken sind mehr nötig, flüssig geht 's in die Höhe. Die Seilschaft vor uns gibt Volldampf. Da, plötzlich ein Stocken! Es hätte gefährlich werden können, denn dem Vordermanne der Berchtesgadener brechen die vordersten Steigeisenzacken. So etwas könnte leicht schlimme Folgen nach sich ziehen. Zum zweiten Male innert wenigen Tagen muss ich feststellen, dass renommierte « Markensteigeisen » aus Courmayeur, die ihres superleichten Gewichtes wegen zu Phantasiepreisen verkauft werden, in Brüche gehen. Einige derbe bayrische Flüche erschallen in der Wand, und wir alle sind uns einig, lieber einige Gramm mehr an den Füssen nachzuschleppen. Metallurgisches Intermezzo in der Eiswand!

Mit den Steigeisen kratzen wir über leicht eingeschneite Felsen dem letzten Firnhang zu. Nebel und Sturmwind bringen uns auf dem Gipfel, 4165 m, zum Schlottern, brennende Sonne begleitet uns das eintönige Breithornplateau hinunter.

Dent d' Hérens ( 4171 m)-Nordwand Diese gewaltige Nordwand mit ihren mächtigen Eistürmen ist mir nicht auf ersten Anhieb hin in den Schoss gefallen. Schon früher warb ich um ihre Gunst. Als es endlich so weit war, einen Durchstieg zu wagen, stellte mein Kamerad mit Schrecken fest, die Steigeisen in der Hütte vergessen zu haben...

Ein Jahr später fuhr ich wieder ins Wallis. In einem Wäldchen unterhalb Zermatt machte ich es mir in den vorgefundenen leeren Zelten von Stuttgarter Freunden gemütlich. Zu meinen ersten Entdeckungen gehörte das Fehlen meiner Steigeisen, die sich während der Motorradfahrt selbständig gemacht haben mussten. Wiederum schien es also, dass mir dieser Ausrüstungsgegenstand einen Streich spielen wollte. Aber in den Strassen von Zermatt traf ich den Wiener Alpinisten Erich Vanis An einem Stock humpelte er herum. Ihm, den die schwierigsten Wände ungeschoren durchkommen liessen, wurde der Strassenverkehr an der Grimsel zum Verhängnis. « Nun fahre ich halt zur Abwechslung'mal an die Riviera » lautete sein Trost, und ich konnte mich beglückwünschen, sofort wieder zu einem Paar standesgemässer Zwölfzacker gekommen zu sein.

Mein Begleiter für die Dent d' Hérens-Nordwand sollte der Zürcher Edwin Trüb werden. Nach einer Woche von Damentouren auf einfachere Viertausender war er fürs Hochgebirge gut akklimatisiert und hatte so richtig Auftrieb für eine pikantere Sache. Über unsere Tour waren wir uns denn in der Folge schnell einig.

Regen wechselte mit Sonnenschein, und es brauchte einige Entschlusskraft, trotzdem zur Schönbielhütte aufzusteigen. Unterwegs wurden wir noch einige Male kräftig geduscht und waren deshalb nicht wenig erstaunt, dass uns die Nacht dennoch einen makellosen Sternenhimmel präsentierte. Die alte Schönbielhütte war übervoll. Es blieb uns nichts anderes übrig, als unser Lager auf den Stubentischen zu beziehen, die zwar nicht besonders weich waren, uns dafür aber vor dem Verschlafen verschonten. Bis tief in die Nacht hinein sprachen wir noch über unsere Nordwand. Zum ersten Male wurde sie im Jahre 1925 von Willo Weizenbach und seinem Gefährten Allwein durchstiegen. Sei es vom Tiefmattengletscher unten oder vom Gipfel der Dent Blanche aus - immer lockt diese Nordwand den Abenteuerdrang im Bergsteiger. Zwei technische Probleme sind es vor allem, die eine Begehung massgeblich beeinflussen: die Eisbrüche unter der Finchterrasse und die 400 m hohe felsige Gipfelwand. Je nach deren Zustand kostet ein Durchstieg mehr oder weniger Mühe und Zeit. Allein für die 30 m hohe Schlüsselstelle, eine senkrechte bis überhängende Eiswand, brauchten Hans Erti und Gefährten bei der fünften Begehung zwölf Stunden, während dies im Sommer 1955 - dank eines im Eis entstandenen Risses - die Angelegenheit von wenigen Minuten war. Wir waren gespannt, was für Verhältnisse wohl in der Gipfelwand herrschen würden. In aperem Zustande dürfte diese nicht schwierig sein, meistens jedoch bedecken Schnee und Eis die massig steilen Platten. Wird es morgen loser Pulverschnee oder trittiger Firn sein? Der morgige Tag wird es uns zeigen, einstweilen können wir nichts als schlafen.

Um halb 2 Uhr treten wir in die zauberhafte Mondnacht hinaus. Kein Laut regt sich weit und breit. Taghell beleuchtet der Mond, « der beste Freund aller Bergsteiger », unseren Weg zum Tiefmattengletscher hinunter. Finster und drohend recken sich Matterhorn und Dent d' Hérens, gleich zwei phantastischen Riesengestalten, in die Höhe. Aber es ist die im Mondlicht kalt und silbern funkelnde Dent Blanche, die den wilden Gletscherkessel beherrscht. Vorbei an den finsteren Schrunden des Tiefmattengletschers und über einen steilen Lawinenkegel erreichen wir schnell den Wandfuss. Jetzt tauchen wir im Dunkel der Nordwand unter, die ihren Schatten bis weit über den Gletscher hinaus wirft. Dunkel und frostig führt unser düsterer Weg in die Höhe. Undeutlich und verschwommen zeigen sich ob uns die gespenstischen Umrisse eines riesigen Bergschrundes. In der herrschenden Finsternis verhaue ich mich in der senkrechten Oberlippe des Schrundes und springe, ausser Atem gekommen, wieder zurück. Edwin probiert es und beisst sich in sorgfältiger Eisarbeit nach einer halben Seillänge in ein steiles Couloir durch. Voll von Eistrümmern und felsigem Schutt, treibt uns dieses im Halbfinstern zu grösserer Eile an; denn es sind sichere Zeugen von Eis- und Steinschlag, die dieses Couloir hin und wieder bestreichen. Langsam weicht die Nacht dem Tageslicht. Hoch ob unseren Köpfen flackern die Seraks in den ersten Sonnenstrahlen auf, und bald leuchtet es von überall her - ein herrlicher Tag bricht an. Froh, das düstere und gefährliche Couloir verlassen zu können, queren wir auf eine bequeme, blockige Felsrippe hinaus. Gespannt prüfen wir den Eisbruch auf seine Begehbarkeit und suchen ihn nach schwachen Stellen ab. Sachte geht die Felsrippe in einen Firngrat über.

Der Hüttenwart der Schönbielhütte hat uns von zwei Österreichern berichtet, die beim Stockji biwakierten, um heute früh ebenfalls in die Nordwand einzusteigen. Da wir bis jetzt nirgends Spuren von ihnen gefunden haben, sind wir der Ansicht, früher aufgestanden zu sein. Aber wir werden gründlich eines anderen belehrt, denn plötzlich durchzieht eine zierliche Spur von Westen her das Firnfeld. Die beiden haben also nicht wie wir den Einstieg Weizenbachs bei Punkt 2877 gewählt, sondern sind auf dem Tiefmattengletscher bis Punkt 3091 gelangt und dort in die Wand eingestiegen. Wir müssen zugeben, dass dieser Einstieg bedeutend empfehlenswerter ist.

Der Eisbruch wird immer wilder und interessanter, die Steigeisen greifen in körniges Eis, es ist ein prächtiges Steigen inmitten dieser glitzernden und gleissenden Welt von tausend Wundern in allen Schattierungen und Farbnuancen. Einige Seillängen nur geniessen wir beschwingt dieses Traumland. Dann fordert der Berg realistischere Dinge! Schier verschlägt es uns den Atem, wie sich nach einem Eiswändchen plötzlich die Schlüsselstelle vor unseren erstaunten Augen aufbäumt. Wir sagen uns, dass die Stelle nicht allzu schwierig sein könne, da sonst die Seilschaft vor uns noch drin stecken müsste.

Die von unsern Vorgängern gehackten Griffe und Tritte kommen uns sehr zugute. Edwin pflanzt noch einen Eishaken - es sollte der einzige Haken in der ganzen Wand werden -, und der Überhang ist überstiegen! Einige Minuten darauf befinden wir uns auf der Finchterrasse, jenem riesigen ebenen Plateau, das die ganze Nordwand durchquert. Hier legte G.I. Finch mit Gefährten im Jahre 1923 eine Route vom Tiefmattengletscher zum Tournanchegrat, die sogar schon mit Ski befahren wurde.

Es ist 8 Uhr. Wir jodeln den beiden Kameraden vor uns, die gerade im Begriffe sind, die Gipfelwand anzupacken, zu. Es sind Kurt Diemberger aus Salzburg und Wolfgang Stefan aus Wien, zwei hervorragende Alpinisten. Weiter oben in der Gipfelwand entdecken wir noch zwei Bergsteiger, ebenfalls Wiener, die gestern in die Wand einstiegen und soeben aus ihrem Biwaknest gekrochen sein müssen. Sechs Leute auf einmal in einer Wand, die sonst jahrelang nicht begangen wird, dünkt uns denn doch etwas viel!

Wir machen lange Frühstücksrast und lassen uns vom Benzinbrenner einen köstlichen Tee zubereiten. Ich bin müde.Vor zwei Monaten habe ich mir - und dies auf bequemem Hüttenweg - einen Fuss verstaucht und gebrochen, bin also schlecht im Training und gar nicht akklimatisiert für die plötzliche Höhe. Der beschwerliche letzte Eisüberhang hat mich noch vollends erschöpft. Ich geniesse deshalb die Rast doppelt und freue mich auf den Gipfel, der wiederum Rasten bedeutet. Ganz nahe erscheint er uns. Noch wissen wir nicht, wie stark verkürzt die Gipfelwand von hier aussieht, nur der Höhenmesser lässt alles andere als baldige Gipfelrast erahnen. In sieben Stunden erst stehen wir auf dem höchsten Punkte der Dent d' Hérens, 4171 m.

Ein blauer, wolkenloser Himmel ist über uns. Selbst in dieser Höhe, auf exponiertem Punkte, ist es sommerlich warm, und wir träumen in den Spätnachmittag hinein, unsere müden Glieder in der herrlichen Sonne streckend. Wir haben die Ruhe wohlverdient, denn die Gipfelwand war ein harter Kampf, das Klettern in diesen bösartig verschneiten Felsen eine aufreibende und kühle Angelegenheit. Nur ganz selten war der Fels auf wenige Meter aper. Meistens tasteten wir mit den Frontalzacken unserer Steigeisen durch den Pulverschnee hindurch die glatten Platten ab: eine Klettertechnik, die sich in westalpinem Gelände sehr bewährt hat.

Gegen 5 Uhr abends brechen wir vom Gipfel auf zum Tiefmattenjoch. Gierig trinken wir in der Abenddämmerung vom kalten Gletscherwasser und stolpern in finsterer Nacht über die endlose Moräne zur Schönbielhütte. Ich gedenke der kämpferischen Stunden von heute im düsteren Nordabsturz der Dent d' Hérens und der Männer, die erstmals dieses gewaltige Bollwerk aus Fels und Eis erstürmten. Im Eise des Himalaya liegen sie begraben. Ihr Leben war ein Lied des Kampfes, der Kameradschaft, des Abenteuers.

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