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Zwischen Landquart und Ill

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A. Ludwig ( Sektion St. Gallen ).

Von

I. In den Bergen um Gargellen und Schlappin.

Das Alleingehen, das mir zur zweiten Gewohnheit geworden war, vermied ich bei den diesjährigen Wanderungen so gut als möglich, und zwar nicht am wenigsten in Rücksicht auf die in konsequenter Weise im Jahrbuche erfolgten Abmahnungen von dieser gefährlichen Liebhaberei. Mein Begleiter während der ersten Woche war Sekundarlehrer Graf von Basel, mit dem ich am 31. Juli in St. Antönien-Platz zusammentraf. Mein Freund kam von Bludenz über Lünersee und Drusenthor zu unserm Stelldichein, während ich, so schnell als möglich mit dem Dampfroß den Niederungen enteilend, den langweiligen, aber kürzesten Weg von Küblis durch das Schanielatobel zurücklegte. Wir übernachteten bei dem uns befreundeten gastlichen Pfarrer von St. Antönien, um am 1. August unsere gemeinschaftliche Wanderung anzutreten. Teils des Wetters Tücke, teils eigene Saumseligkeit waren schuld daran, daß wir während der ersten Woche wenig Bedeutendes ausführten, sofern man die Gipfelbesteigungen in Betracht zieht. Allein auch die Wanderungen in den abgeschiedenen Thälchen im östlichen Teile unseres Clubgebietes haben sicherlich ihren Reiz.

Östr. Madriserspitz ( 2774 m ). Dieser eigenartige Berg zieht mit Recht die Aufmerksamkeit der Touristen auf sich. Die Madrisa ist eine stolze Königin'aber sie entzieht sich aristokratisch dem neugierigen Auge, wogegen der Madriserspitz als ein keck nach Nordosten sich vordrängender Geselle erscheint. Es kommt ihm dabei noch der Umstand zu statten, daß ihm auch im Westen keine ebenbürtigen Gipfel vorgelagert sind. Herr Imhof nennt ihn in seinem Itinerar ein „ äußerst zackiges, malerisches Gebirge und Herr Dr. Tarnutzer in seiner verdienstlichen SchriftDer geologische Bau des Rhätikons " bemerkt: „ Von der Madrisa gegen die Gargelleuköpfe des Nordens hin zieht sich das düstere, wildzerrissene, schauerlich großartige Gebiet des Madriserspitz. Von den Zusammenhäu-fungen zahlloser, ungeheurer krystallinischer Blöcke in den Thälchen zu beiden Seiten könnte man annehmen, daß sie das Werk von Dämonen seien, wenn wir nicht wüßten, daß unsichtbare, aber dauernd wirkende Kräfte im Laufe unermeßlicher Zeiträume sich vereinigt hätten zu solchen Riesenbildungen der Natur. " Betrachtet man den Madriserspitz vom Schlappinerjoch aus, so seheint er aus dem Blockmeer zu gewaltiger, imponierender Höhe emporzuwachsen; schön macht er sich auch von Pnnkt 2611 aus, wo man die zerrissene, dunkle, nur nach schneereichen Wintern mit einzelnen Schneeflecken bedeckte Südseite erblickt. Er vermag auch den Hintergrund des Gafienthales durchaus zu dominieren, obwohl er östlich vom Grenzkamme gelegen und von letzterm durch ein Thälchen getrennt ist. Am schönsten aber präsentiert er sich nach meiner Ansicht dem Besucher der Gargellenköpfe, die ich mit Clubgenosse Jeklin am 12. August bestieg, hauptsächlich um den Madriserspitz von dieser Seite zu betrachten. Wir trafen es gunstig; obwohl sonst fast überall der Nebel die Spitzen der Berge verdeckte, sahen wir Rätschenfluh, Madrishorn und Madriserspitz in ungetrübter Klarheit, fürwahr eine prächtige Gruppe, in welcher der Hofstaat fast stolzer ist, als die Königin. Der Kontrast ist es auch hier, der Großes wirkt. Rechts vom Madrishorn haben wir die Rätschenfluh und Gafierplatten mit ihrem weißlichen Gestein, ihren Felsriffen, Rundhöckern und Karrenfeldern, links aber den dunkeln Grat mit vier besonders hervorragenden Zacken, von denen einzelne selbst wieder schöne Doppelgebilde sind. Unter der höchsten, am weitesten nach Osten vorgeschobenen Spitze ( 2774 m ) breitet sich ein artiges Gletscherchen aus, das auf der Karte wohl verzeichnet sein dürfte. Sein Abfluß hat in die unten folgenden steilen Felsen tiefe Rinnen gegraben. Unter den Felsen aber häufen sich die in idealster Form vorhandenen Schuttkegel an, deren Zusammenfließen zu Schutthalden man hier überaus schön beobachten kann. Mit einem Blick umfassen wir von den Gargellenköpfen aus das Resultat der Verwitterung bei verschiedener Gebirgsbildung: die Karrenfelder der Gafierplatten und das von krystallinischem Gestein herstammende Blockmeer im Trümmerthälchen des Gandasees. Der letztere selbst, in dessen Nähe noch einige wenige Bäume stehen, scheint sein Dasein einem riesigen vorgelagerten Schuttkegel zu verdanken. Um des Anblicks der geschilderten Gruppe willen möchte ich den Besuch der Gargellenköpfe, die gewöhnlich zu gunsten des Schollbergs vernachlässigt werden, sehr empfehlen. Vom Gargellenjoch aus ist die Besteigung sehr leicht, obwohl man an einer Stelle den Grat verlassen muß. Für Freunde der alpinen Tierwelt bemerke ich noch, daß man in dieser Gegend hie und da Gelegenheit hat, das vielerorts selten gewordene Steinhuhn ( Pernise ) zu beobachten.

Wir wollen jedoch auf den Madriserspitz hinauf, nicht bloß um denselben herum. Die Witterung am Morgen des 1. August war zweifelhaft; früh tobte ein Gewitter, begleitet von einem Erdbeben, das bekanntlich in den verschiedensten Teilen der Schweiz verspürt wurde. Wir brachen erst um 7 Uhr 30 Min. auf und begaben uns ins Gafienthal. In der Nähe des Schlangensteines angekommen, erblickt man hoch oben an der Ammannfluh einen schlanken Felszahn, der den Namen „ versteinerter Land-amniann " führt. An denselben knüpft sich folgende Sage, die ich hier wiedergebe, weil sie wenig bekannt ist und an eine gewisse Fabel erinnert. Vor Zeiten sei einmal dort oben ein Bauer gestanden und habe sinnenden Blickes seine Viehhabe betrachtet^ die aus einem einzigen Kalb bestand. Da sei ihm folgender Gedanke gekommen: „ Aus dem Kalbe wird eine Kuh; die Kuh bringt mir wieder Nachwuchs; ich bekomme einen großen Viehstand, gelange zu Vermögen und Ansehen und schließlich werde ich Landammann. " Wie er nun im Übermaß der Freude laut das Wort „ Landammann " ausrief, erschrak das Kalb und fiel über die Felsen hinunter zu Tode. Der Bauer aber, aus dem Himmel seines Glücks jählings herausgerissen, erstarrte und wurde zu jenem Felszahn, der den sonderbaren Namen trägt.

Auf der Höchstelli hielten wir Rast. Dann stiegen wir über Schneeflecken und Geröll hinauf zu Punkt 2611, wo wir unser Ziel in Gestalt eines kecken, jedoch sich nicht mehr hoch über den Grat erhebenden Felsturmes zu Gesichte bekamen. Wir mußten nach der leicht kenntlichen begrasten Halde ( auf der Karte bei der Zahl 2757 ) hinübertrachten und uns zu diesem Zwecke bestreben, die goldene Mittelstraße einzuhalten, d.h. nicht zu hoch in die Felsen zu geraten und doch auch nicht zu tief in die infamen Blockanhäufungen hinabzusteigen. Bei dieser Traverse hatten wir das Vergnügen, 13 Gemsen zu beobachten. Mein Freund sah sie lange vor mir und rief mir zu; ich schaute indes immer zu hoch und konnte sie zu meinem Arger nicht entdecken, bis sie endlich über ein Schneefeld liefen; sobald sie aber wieder im Geröll waren, hatte man die größte Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Jene begraste Halde wird östlich von einem langen Couloir begrenzt, in welchem noch starke Reste von Schnee lagen. Wir überschritten diese Rinne und kamen über ein ziemlich breites Band auf einen Felsrücken, der sich zwischen dem erwähnten Couloir und einer Runse herabzieht, die in der Nähe des Gipfels und zwar noch westlich davon ihren Anfang nimmt. Der Aufstieg über diesen Rücken bietet keine Schwierigkeiten; begraste Flecken wechseln ab mit niedern Sätzchen. So stiegen wir bis vielleicht 40 m unter den Grat. Hier fand es mein Freund für gut, zurückzubleiben, und erklärte, auf mich warten zu wollen, obwohl der weitere Aufstieg bis zum Grat sich in keiner Weise von dem soeben beschriebenen unterschied. Nach kurzer Zeit stand ich auf dem Kamm, der sich nun ein wenig senkt, um sich dann plötzlich zur höchsten Erhebung emporzuschwingen. Da stand ich nun am Berge, vor einem zwar nicht hohen, aber doch trotzigen Köpfchen, das nach allen Seiten sehr steil abfällt, besonders nach Süden in gegen 300 m hoher Wand. Mißmutig betrachtete ich den Gipfel, der sich kaum 10 m höher erhob als mein Standpunkt; ungerne genug wäre ich hier umgekehrt. Endlich bemerkte ich, daß man über den obersten Teil des nördlich vorgelagerten Gletschers ziemlich leicht den Gipfel umgehen kann. Man kommt so auf den Grat, der sich rasch senkend in nordöstlicher Richtung hinunterzieht. Das war alles in kurzer Zeit gemacht; die Distanzen sind hier natürlich nicht mehr groß Der Gipfel fällt zwar auch hier steil ab; aber man hat doch nicht so gähnende Abgründe unter sich und zudem ist das Gestein sehr gut. Es scheint zwar, als ob der Trotzkopf aus lauter Blöcken zusammengeflickt sei, denen man nicht recht trauen dürfe; aber sie halten. Ich entdeckte in einer sozusagen senkrechten Felsstufe einen schräg verlaufenden Riß, durch den ich mich hinaufzwängte. Tornister und Stock mußte ich freilich zurücklassen. Wenn man sich in jener Felsspalte befindet, so kann man oben mit beiden Händen fassen und hat dann ungefähr die gleiche Leistung zu vollbringen, wie wenn man, am Reck hangend, sich hinaufarbeitet in den Streckstutz, nur daß man mit den Beinen noch etwas nachhelfen kann. Hat man diese Stelle überwunden, so steht man in wenigen Schritten beim Triangulationspunkt, von welchem Wind und Blitz einzelne Latten und Schindeln unter den Gipfelkopf hinabbefördert haben. Die oberste Fläche ist schmal; nichtsdestoweniger bietet sie ziemlich viel Platz, da sie sich auf ordentliche Länge von Südwesten nach Nordosten zieht. In einer Flasche befanden sich mehrere Karten, darunter diejenige von J. B. Hämmerle ( Sektion St. Gallen ), sowie von einigen Herren, die anläßlich der Mappierung oben gewesen waren. Das Gipfelgestein, von dem ich ein Stück mitnahm, ist Gneiß; weiter unten fand ich Hornblende, von der ich ein durch fast schwarze Wülste ausgezeichnetes Stück ebenfalls mitlaufen ließ.

Die glückliche Stunde, die ich sonst gerne auf einem solchen Standpunkt verlebe, war mir diesmal nicht beschieden. Das Wetter verschlimmerte sich zusehends; die Fernsicht nach Westen war fast gleich Null, etwas besser diejenige nach Osten. Doch grämte ich mich darüber eigentlich nicht stark; denn sie kann von derjenigen des Madrishorn, die ich schon mehrmals genossen, nicht stark verschieden sein. Das Schönste, was der Madriserspitz bietet, ist der Blick übers ganze lange Gargellenthal, und diesem wendete ich auch hauptsächlich meine Aufmerksamkeit zu. Ich musterte auch die Gipfelpartie des Rotbühl und Eisenthälispitz, die morgen gemacht werden sollten, und ich that wohl daran, sie jetzt noch zu betrachten; denn ich sollte sie lange nicht mehr zu Gesichte bekommen. Links erhebt sich ein dunkler Vorgipfel, dann folgt ein etwas breiterer beschneiter Kopf, und endlich als sehr schöne, hohe, etwas düstere Pyramide der Eisenthälispitz. Nimmt man noch die langgestreckten Firnhalden am Nordabhange hinzu, so muß man gestehen, daß das Massiv des Rotbühl, wie wir der Einfachheit wegen den ganzen Stock nennen wollen, einen prächtigen Anblick gewährt, der nur deshalb nicht gewürdigt wird, weil die dahinter auftauchende Silvrettagruppe ihn beeinträchtigt.

Gar zu gern wäre ich nun über den Gletscher abgefahren und dann durch eine der vielen Runsen hinabgestiegen in das Trümmerthälchen am Gandasee; allein mein Gefährte weilte noch auf der andern Seite, und überhaupt mußten wir uns beeilen, vor dem Regen aus den Felsen zu kommen. Ich ging also auf der gleichen Route zurück, saß noch einen Augenblick bei meinem Freunde, um mich zu erfrischen, und dann eilten wir mit Vorsicht so schnell als möglich hinunter, und zwar durch das erwähnte Schneecouloir, das unten in eine Schutthalde übergeht, durch welche man in das leidige Trümmergewirr hinuntergelangt. Und nun stellte sich auch richtig der Regen ein, vor dem wir unter einem großen Blocke Schutz fanden; doch beklagten wir den [Instand, daß wir zwar Cigarren in Hülle und Fülle, aber nur drei nichtswürdige Zündhölzchen besaßen, mit denen wir vergebens unsere Glimmstengel in Brand zu setzen versuchten. Die Trümmermassen, die wir nun noch zu überschreiten hatten und deren Annehmlichkeiten ich schon vor zwei Jahren kennen gelernt hatte, waren diesmal etwas weniger mühsam, da wir die zahlreichen kleinen Schneefelder benutzen konnten; doch hat man sich sehr vor dem Durchbrechen zu hüten. Durch endloses Alpenrosen- und Beeren-gestrüpp wateten wir hinab gegen die Valzifenz-Alpe und bummelten, nachdem wir den Bach überschritten, auf gutem Wege hinaus nach Gargellen, wo wir im Gasthaus zur Madrisa übernachteten. Für den folgenden Tag war eine strenge Tour vorgesehen; Heimspitze, Valisera, Rotbühl und Eisenthälispitz sollten nacheinander bestiegen werden. Daß wir in Gargellen uns in eine solche Mäusefalle ( nämlich des Wetters wegen ) begeben würden, daran daehten wir an jenem Abend, den wir auf die vergnügteste Weise zubrachten, noch nicht.

Am Morgen war alles in Grau gehüllt und den ganzen Tag regnete es gewaltig, so daß wir nicht einmal genug Energie entwickelten, um den nahen Wasserfall des Rungbaches zu besuchen. Ein gemütlicher Wiener antwortete indes auf unsere Erkundigungen nach diesem Naturwunder: „ Ach, dieser Wasserfall, das ist so ein Wasserfall; er ist cirka 4 m hoch; wenn die Herren aus der Schweiz sind, so brauchen Sie gar nicht hinzugehen ", womit unser clubistisches Gewissen für einstweilen beruhigt war. Wir waren übrigens nicht von Langeweile geplagt; es waren cirka 15 Pensionäre da, lauter Österreicher nnd Deutsche. Die steife Etikette hat hier ihren Einzng noch nicht gehalten; es herrscht ein angenehmer Verkehr, wie dies auch in Brand der Fall ist. Der thätige Wirt, Herr Scliwarzhanns ( Schwärzerhans nannte ihn ein Kurgast boshaft ) ist der rechte Typus eines unternehmenden Montafuners, hat lange Jahre in Frankreich zugebracht und nun das Gasthaus zur Madrisa erbaut, das cirka 20 Zimmer enthält und recht komfortabel eingerichtet, im Sommer auch ordentlich besucht ist. Herr Scliwarzhanns strebt aber noch höher. Gargellen soll Winterkurort werden, damit, wie sich Dr. Lorinser in Wien in seiner Schrift „ Gargellen als Höhenluft-Kurort " ausdrückt, „ die Angehörigen des Staates nicht mehr nötig haben, zu diesem Zwecke das Ausland aufzusuchen ". Es läßt sich allerdings nicht leugnen, daß Gargellen in dieser Hinsicht von allen südlichen Seitenthälern der 111 wohl am günstigsten gelegen ist. Die meteorologischen Beobachtungen haben ergeben, daß November, Dezember und Januar in Gargellen wärmer, die Sommermonate kühler sind als in dem 490 m tiefer gelegenen Gaschurn. Noch aber hat sich Herr Schwarzhanns umsonst aus allen Kräften bemüht, eine bessere Zufahrtsstraße von Kreuzgasse her zu erlangen. Uns fällt Über diese Strecke kein Urteil zu; im übrigen aber, soweit wir den Weg begangen haben, müssen wir mit Beschämung gestehen, daß er bis zur Höhe des Schlappinerjoches weit besser ist, als der auf Schweizerseite, wie denn auch in jenen Tagen in den Vorarlberger Zeitungen als Kuriosum zu lesen war, Herr Schwarzhanns habe eine französische Familie per Fuhrwerk bis zum Joch befördert, d.h. natürlich nur bis dorthin, wo die stärkere Steigung beginnt.

Vergeblich bemühte ich mich, sowohl in Gargellen als auch in St. Antönien, den Grund zu erfahren, weshalb auf dem Siegfriedblatt „ Serneus " der Madriserspitz als Freigebirg bezeichnet ist. Eine besondere Bewandtnis muß es mit diesem Namen aber haben; denn wiederholt stieß ich bei Prätigauer Jägern auf die Ansicht, das Thälchen zwischen Valzifenzergrat und Madriserspitz gehöre noch zur Schweiz oder es stehe ihnen doch das Jagdrecht daselbst zweifellos zu.

Im Gasthaus lag der Jahresbericht der Sektion Vorarlberg des D. u. Ü. A.V. auf. Ich erwähne dies nur deshalb, weil er mir Anlaß bietet, einen Irrtum zu berichtigen, der sich in meine letztjälirige Arbeit eingeschlichen. Ich nannte dort die Hornspitze ( 2540 m ) als vielleicht noch nie touristisch erstiegen, ersah aber aus dem genannten Bericht, daß im Laufe des Jahres 1891 mehrere Mitglieder der Sektion Vorarlberg diesen Gipfel bezwungen haben, und fand vierzehn Tage später im Nenzinger Himmel diese Spitze auch im Tourenverzeichnis aufgeführt. Immerhin ist sie dort als schwierig bezeichnet. Die erste Besteigung von der Schweizerseite führte im Sommer 1892 Herr lmhof mit Führer Enderlin aus.

Von Gargellen nach Klosters. Am Morgen des 3. August regnete es nicht mehr, aber trübselig strichen die Nebel umher. Wir wanderten ins Vergaldnerthal hinein, das in mancher Hinsicht Ähnlichkeit besitzt mit dem Schlappinerthal; doch ist es nicht so steinig. Nicht weit vor der Vergaldner-Alpe trafen wir mitten im Wege eine tote Kreuzotter, die wir an dem tadellos schön vorhandenen Zickzackband, dem deutlich abgesetzten Kopfe und dem rasch sich verjüngenden Schwänze bald als solche erkannten. Dieses Gezücht soll hier ziemlich häufig vorkommen. Übereinstimmend berichteten die Sennen in Vergalden, in Schlappin und solche, die die Klosterser Alpen kennen, daß die Kupferotter an den nach Süden gekehrten sonnigen Thalseiten zahlreich vorkomme, während sie auf der Schattenseite gänzlich fehle Ein Lieblingsaufenthalt dieser Tiere soll das Eisenthäli sein, was ich, trotzdem wir bei unserer spätem Wanderung in demselben kein einziges Exemplar zu sehen bekamen, doch nicht in Abrede stellen möchte, da das zweifelhafte Wetter in der Morgenkühle sie Jedenfalls nicht hervorlocken konnte. Die Sennen der Klosterser Alpen wissen nicht genug davon zu erzählen, wie die Schlangen ihnen in die Holzschuhe krochen, im Milchkeller anzutreffen waren oder gar die Schlafstätte besuchten. Natürlich muß dann im nahen Gufer auch noch eine mit zwei Füßchen und einem Krönlein gesehen worden sein. Edel-\vei(5sucher werden hie und da durch Kupferschlangen unangenehm überrascht.

Auf Valisera und Heimspitze mußten wir verzichten; sie steckten beständig im Nebel. Dann und wann sah man den beschneiten Hintergrund des Thälchens, Mittelberg und Hinterberg. Nicht weit hinter der Alp schlugen wir uns rechts ( südlich ) durch die Halde hinauf, bis wir auf das ebenere Gelände kamen, das jedenfalls Reste eines alten Thalbodens darstellt und aufs beste korrespondiert mit jener gegenüber hoch in der rechten Thalseite verlaufenden Terrasse. Auch die beiden Übergänge Vergaldner-Jocli und Valzifenz-Joch sind gleich hoch ( 2486 m ).

In Dr. Tarnutzers Schrift steht zu lesen: „ Am Gipfel des Rotbühl findet man in der höchsten Höhe Glimmerschiefer mit Granaten.1'- Die höchste Höhe mußte uns heute freilich terra incognita bleiben; aber das fragliche Mineral findet sich auch sehr häufig in den Schutthalden, die sich am Fuße ausdehnen; nur sind die an der Oberfläche befindlichen Exemplare meistens in sehr fortgeschrittener Verwitterung begriffen und geben dann dem Gesteine jene eigentümliche rotbraune Färbung. Wir machten uns mit Hammer und Meißel ans Werk und hatten nach einstündiger Arbeit das Vergnügen, eine ziemliche Anzahl von dunkelroten, oft fast schwarzen Granaten zu besitzen, bei denen die zwölf Flächen des Rhombendodekaeders deutlich zu erkennen waren. Auch einige durch überaus starken Glimmergehalt ausgezeichnete Gesteinsstücke, die den schwarzen Glimmer in dicken Lagen aufwiesen, wurden mitgenommen.

Von der Aussicht auf dem Valzifenz-Joch weiß ich nicht viel zu berichten; wir langten bei dichtem Nebel dort an und sahen nur einmal den August-Berg offen daliegen, eine weite, steinige, von alten Moränenwällen durchzogene Mulde. Wir durchschritten dieselbe, kamen an einem auf der Karte nicht eingezeichneten kleinen See vorbei und wandten uns über begraste Halden dem Valzifenzer-Grat zu, und zwar der tiefsten Stelle, die vom Schlappiner-Joch östlich zu finden ist, nämlich dem Punkt 2397. Die Aussicht hielt uns auch hier nicht lange auf. An den Abstieg von diesem Punkt ins Schlappinerthal aber werde ich mein Lebtag denken. Lieber eine Felskletterei, als diese entsetzlich steilen, damals noch dazu nassen und schlüpfrigen Grashalden. Die Flora aber ist wunderschön; hier drängen sich ihre auserlesenen Kinder, die Aristokraten der Pflanzenwelt zusammen, wie Stebler und Schröter diese in begünstigten Höhen vorkommenden Lieblinge nennen. Ein Botaniker könnte hier schwelgen, wenn er sich mit Fußeisen versehen würde. Diese Halden sind nicht Wildheuerstellen im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern in bestimmter Weise den Korporationsgenossen von Schlappin zugeteilt. Man erblickt an manchen Stellen vier eingerammte Pfähle, die oben durchbohrt sind, um durch Legen von Querstangen und Brettern das dort geborgene Heu zu schützen. Eine andere Manier besteht darin, daß man das gewonnene, sehr geschätzte Futter um einen einzigen Pfahl herum in solider Weise kegelförmig aufschichtet, so daß der Schnee unter keinen Umständen haften bleibt. Solche Vorrichtungen nennt man „ Tristen ", daher der Name Hochtristel und Tristel, den wir auch im Westrhätikon ob Yes finden. Das Heu wird im Winter kunstgerecht in lange, mit sogenannten Spolen und Ringen versehene Seile gefaßt und ohne Anwendung eines Schlittens hinuntergezogen bis zum Weg, wobei es denn auch etwa vorkommen kann, daß eine solche mehrere Centner schwere Last Reißaus nimmt und unten nicht mehr viel übrig ist als das Seil. Wollte man zum Transport einen Schlitten gebrauchen, so hätte man hier mehr Grund zur Angst als jener Älpler, der mit dem Ausruf: „ In solchen Fällen flieht man vom Schlitten und läßt ihn allein laufen ", auf die Seite sprang, worauf das Vehikel sofort „ bockstill " stand.

Friedrich von Tschudy bemerkt irgendwo, daß die praktischen Bündner aus den „ Blakten " ( Rumex alpinus ), die namentlich um Sennhütten herum gern wachsen, ein gutes Schweinefutter zu bereiten wüßten. An dieser Arbeit waren die Leute gerade, als wir in Schlappina-Dorf, das übrigens im Winter nicht bewohnt wird, einrückten. Die Blätter mit den dicken Stielen werden abgerissen — einzelne Samenpflanzen bleiben stehen — dann eingesotten und hierauf in durch Schindeln gebildete Behälter gebracht. Die ganze Masse bildet einen festen Stock, der im Winter zu-sammengefriert. Die Schindeln werden nun weggenommen und der gefrorne Block auf Schlitten ins Thal befördert.

In nicht zu raschem Tempo machten wir den Weg nach Klosters-Dörfli. Derselbe befindet sich infolge der Verwüstungen des letzten Winters in einem traurigen Zustande. An vielen Stellen ist er mit großen Steinen bedeckt; andere Teile sind vollständig demoliert. Gewaltige Lawinenreste überbrückten noch vielerorts den Bach, und nicht weit über der Station Dörfli, in einer Höhe von nur cirka 1300 m, ging der Weg durch einen Schneetunnel, dessen Decke erst einige Tage später einstürzte. An der Grund-und Oberfläche der Lawinenbrücken zeigen sich oft ähnliche Bildungen, wie wir sie auf den typischen Karrenfeldern des Schrattenkalkes zu sehen gewohnt sind oder wie sie auch an den aufgehäuften Schneewällen an der Seite breiter Straßen bei kräftig wirkender Sonne zu stände kommen. Dies gilt namentlich von jenen im Profil einer Pfeilspitze ähnlichen Gebilden. Der Wald längs des Baches war total wegrasiert, starke Stämme einfach entzweigeknickt, ganze Gruppen entwurzelt und das Bachbett mit einem Gewirr ineinander gezwängter, kreuz und quer liegender Bäume angefüllt; ja, diese Verwüstung erstreckt sich hoch hinauf auch an der westlichen Seite des Schlappinerbaches, wo nicht, die Lawinen selbst, sondern der von der andern Seite kommende ungeheure Luftdruck diese betrübenden Folgen nach sich gezogen hatte. Auch die Gebäude in Schlappin schweben immer in Gefahr. So wurden letzten Winter nicht weniger als 11 „ Gemächer " entweder demoliert oder ganz von ihrer Stelle weggerückt. Im Sommer aber, nach anhaltendem Regenwetter, richten der Schwarz- und Furkenbach nicht selten durch verderbliche Schlammströme Unheil an. Was die braven Leute da drinnen dem Boden abringen, ist wahrlich sauer genug verdient und dazu noch vielen Zufällen ausgesetzt.

In Klosters-Dörfli angelangt, fanden wir noch Zeit, einen Abstecher nach dem Platz zu machen. Wir hatten das Vergnügen, dort mit Herrn Imhof zusammenzutreffen, der in den vorhergehenden Tagen in der Silvrettagruppe Touren gemacht hatte. Nach einem gemütlichen Plauderstündchen fuhren wir mit dem letzten Zuge thalauswärts, Freund Graf nach Jenaz und ich nach Schiers.

Wider Erwarten ließ sich der folgende Tag schön an, und so waren wir morgens 7 Uhr schon wieder in Klosters-Dörfli und traten sogleich den Weg nach Schlappin-Innersäß an. Warum wir an diesem Tage nichts Rechtes ausführten, weiß ich selbst nicht; mich plagte heftiges Zahnweh, und auch mein Freund zeigte ebenso wenig große Unternehmungslust wie ich. Wir bummelten also nur in der Gegend „ Hinter den Bürgen " herum, besahen uns die Fergenhörner, namentlich den Fergenkegel und die große, steile Schneeschlucht, durch welche Herr v. Rydzewsky im Jahr 1890 seinen Abstieg nahm, und musterten auch den Winkel Keßler-Leidhorn. Diese Gegend macht schon den Eindruck einer stillen, ernsten Hochgebirgslandschaft, in welcher aus selten betretenen Gletschern kühn und scheinbar fast unzugänglich die Gipfel hervorragen, unwillkürlich den Eindruck erweckend, als ob ihr Fuß tief in Eis und Schnee begraben liegen würde. Daß diese kleinen Gletscher einst eine viel größere Ausdehnung hatten, beweisen die Moränenwälle, von denen einer sich t-'.;--.'il- ^AjLik ,ij„n.. h i - in nordwestlicher Richtung hinunterzieht bis zu Punkt 2138. Den interessantesten Anblick .bietet .entschieden Punkt 2590, eine nackte, dunkelglänzende, massige und doch nicht plumpe Felspyramide, wie ich sie schöner noch nirgends gesehen und auf die das Wort wohl paßt, „ wie aus einem Guß gebildet ". Sie dominiert durchaus, wenn man den Thalhintergrund von geeigneter Stelle aus betrachtet, überragt den blendenden Keßlergletschcr, verdeckt den Keßler selbst, und auch der bedeutend höhere Punkt 2821 kommt neben ihr nicht zur Geltung. Besser dagegen tritt das Leidhorn hervor.

Gegen Abend gingen wir wieder nach Schlappin hinaus. Viel Spaß bereitete uns auf dem Wege ein äußerst freches, altes Murmeltier, das seinen Sitz im Gufer, nicht weit von den Hütten von Außersäß, hat und den öfters Vorbeipassierenden wohl bekannt ist. Es zeigte sich uns in den verschiedensten Stellungen, ließ uns auf kurze Distanz herankommen und verschwand erst, als wir ihm auf den Leib rücken wollten. In Schlappin übernachteten wir auf dem Heu. Am Morgen lag stockdicker Nebel; wir nahmen daher von den freundlichen Bauersleuten Abschied und wanderten, nachdem wir durch den Wald aufgestiegen, über gewaltige Strecken von Alpenrosen, Heidel- und Rauschbeeren, an welch letztern uns zahlreiche Raupennester auffielen, nach der Saaser-Alp Albeina und hinunter nach Saas und Küblis. Diese Wanderung ist sehr zu empfehlen, sowohl in Bezug auf Aussicht, als auch auf die Pflanzenwelt; nur sollte man den Weg etwas höher nehmen und es so einrichten, daß auch das Schlappinerjoch berücksichtigt wird. Wir traversierten in einer Höhe von nur 1900 bis 2000 m. Es war unsere letzte gemeinsame Wanderung in diesem Sommer; verschiedene Umstände brachten es mit sich, daß an den nächsten zwei Tagen, Samstag und Sonntag, nichts unternommen wurde, und in der folgenden Woche war mein, Freund genötigt, abzureisen.

Leidhorn und Eisenthälispitz. Am 8. August begab ich mich mit Freund Meißer ( Sektion Scesaplana ) auf den eisten Zug, um nochmals'die Schlappinerketten zu besuchen. Zu meiner Freude kam im letzten Augenblicke auch noch Freund Zwicky ( Sektion Scesaplana ). Wir fuhren bis Klosters-Platz und verfolgten dann das prächtige Sträßchen, das bis zur Alp Sardasca führt und uns mit einigem Stolze erfüllte, nämlich darüber, daß auch das Prätigau etliche hochgelegene Sträßchen besitzt, die sich sehen lassen dürfen. Es führt an den meisten und schönsten der Klosterser Alpen vorbei, von denen ihre Eigentümer zu sagen wissen: Pardenn ist an Boden, Garfinn ist an Chogen, Novai ist ä Litzi, Spärrän ä Rüchi, Sardasca-n-äs Land, Silvretta-n-än Galtjistand.

Bei den Alphüttén von Sardasca standen — ein ungewohnter Anblick — mehrere Equipagen, deren Insassen den Weg nach der Silvrettahütte antraten. Wir aber schlugen uns links hinauf in das Hochthälchen „ Hinterm See ". Genau genommen finden sich da oben zwei Seen, einer, bevor man zu den Trümmerhalden kommt, die am Fuße der Seescheien sieh ausbreiten, der andere am untern Ende des Scegletschers, welch letztern wir mit einem Teile der Seegruppe zu Gesichte bekamen, als wir uns dem Seheienpaß zuwandten. Wir erreichten diesen um 2 Uhr, nachdem Freund Meißer die Seescheien von der Ostseite photographisch aufgenommen hatte. Der Scheienpaß, von dem ich mir mehr versprochen hatte, hielt uns nicht lange auf. Freund Meißer blieb hier zurück, um seine photographischen Pläne auszuführen; Zwicky und ich nahmen mit leichter Mühe das Leidhorn, indem wir über die Moräne setzten und über den mit Schnee bedeckten Gletscher und zuletzt über Geröll ohne irgend welche Kletterei den Gipfel ( 2844 m ) erreichten. Warum derselbe mit dem unpoetischen Namen Leidhorn beehrt wurde, weiß ich nicht; seinem WTesen entspricht er keineswegs. Das Gipfelgestein ist ein prachtvoller, weißer, granitähnlicher Gneiß, wie man sich ihn zu Steingruppen um Villen herum oder in Gärten gar nicht schöner wünschen könnte. Die Blöcke, die von diesem Gipfel stammen, lassen sich in dem steinigen Schlappinerthal leicht erkennen. Es blühten da oben in großer Anzahl Androsace glaeialis und Ranunculus glaeialis, von dem wir weiter unten schöne, rote Exemplare fanden. Wir verweilten fast eine Stunde auf dem Gipfel und genossen die Aussicht, die noch immer befriedigend zu nennen war, wenn auch das tadellose Blau des Morgenhimmels sich im Laufe des Tages mit Wolken überzogen hatte. Die Nähe der Silvrettagruppe gestattet belehrende Einblicke in dieselbe; mit Interesse betrachten wir namentlich das Verstanklahorn und seine Umgebung. Schöner aber, abgerundeter, ich möchte sagen harmonischer, macht sich die ganze Gruppe von Sulzfluh oder Drusenfluh aus. Einen höchst sonderbaren Anblick gewähren Drusenthor und Sulzfluh. Ersteres sieht ans wie ein Y mit stark geschwungenen Schenkeln, die Sulzfluh aber mit ihren beiden Spitzen 2820 und 2742 wie ein Stierkopf. Unter den nähern Gipfeln fesselt uns besonders der Eisenthälispitz, dessen dem Matterhorn ähnliche oberste Pyramide sich über dem Plattenhorn zeigt, das uns hier seine weniger imposante Seite zukehrt. Die Gegend westlich vom Keßlergletscher macht trotz ihres krystallinischen Gesteins einen ähnlichen Eindruck wie die Gaüerplatten oder die Todtalp am Lünersee. Der Übergang vom Leidhorn zum Keßler scheint leicht ausführbar zu sein; da es indes schon 4 Uhr war, so verabschiedeten wir uns, nachdem wir einen Steinmann erbaut hatten. Den Leidhorngletscher hatten wir bald hinter uns, da wir über denselben abfahren konnten; 14 Tage später soll er ganz aper gewesen sein. Wir überschritten die gegen Punkt 2138 hinunterziehende Moräne, wandten uns gegen Punkt 2203 und passierten nicht weit oberhalb der Hütten von Innersäß den Bach. Dort trafen wir mit unserm Gefährten Meißer zusammen, der eben damit beschäftigt war, die Geißen und ihren Hirten aufzunehmen, worauf der Bub dem Sennen frohlockend meldete, der fremde Mann habe ihn abtelegraphiert. Die Sennen nahmen uns freundlich auf, und ihrer wohlwollenden Bereitwilligkeit haben wir es zu verdanken, daß wir am folgenden Tag den Eisenthälispitz noch ersteigen konnten. Der Senn und der Zusenn ( Säumer ) übernachten nämlich auch während der Obersäßzeit immer in den Hütten von Außersäß, und da sie uns dort Nachtlager zugestanden, so verzichteten wir gern auf unsern ursprünglichen Plan, nach Schlappina-Dorf hinaiiszupilgern. Die Sennen sorgten dafür, daß wir abends und morgens etwas Warmes bekamen. Es war ein wundervoller Abend, und freudig legten wir uns in Hoffnung auf einen tadellosen Tag zur Rnhe. Um 3 Va Uhr war Tagwacht, und um 4 Uhr 10 Min. verabschiedeten wir uns von unsern wackern Wirten. Diese begaben sich zur Stätte ihrer Tagesarbeit; Freund Meißer wanderte zum Schlappinerjoch, um daselbst dem Madriserspitz noch eine Piatto zu widmen; Zwicky und ich aber überschritten auf schmalem Stege den Bach und stiegen dann, die schwachen, leider im letzten Winter hart mitgenommenen Waldreste links liegen lassend, in ziemlich scharfer Gangart durch den Schaftreien, an mehreren prächtigen Quellen vorbei, hinauf ins Eisenthäli, eine weltverlorene, von düstern Felsen eingeschlossene Mulde, an deren nördlicher Einfassung noch hoch hinauf sich Rasenbändchen zeigen. Den Gipfel selbst konnten wir nicht erkennen,und welche der zahlreichen Runsen, die der Westseite des Berges ein schrecklich zerrissenes Aussehen geben, wir benutzen sollten, wußten wir auch nicht. Immerhin wollten wir doch lieber nördlich von der höchsten Spitze auf den Grat gelangen als auf dem sehr gescharteten Kamm zwischen ihr und den südlichen Vorgipfeln 2849 und 2715. Wir schlugen uns also nordöstlich vom letzten i im WTort Eisenthäli in die Felsen, nachdem eine ziemlich lange Schutthalde überwunden war. Den Weg nun genau zu beschreiben, geht mir die Fähigkeit ab; wie oft wir das Couloir wechselten, kann ich nicht angeben. Die Situation war nicht immer ganz angenehm; das Gestein ist schlecht, verwittert leicht, und seinem Charakter entspricht auch derjenige der Schuttkegel, die sich ins Eisenthäli hinabsenken und die durchaus verschieden sind von den großblockigen Trümmerhalden der Madrisagruppe. In den Runsen lag Schnee, der nur an der Oberfläche etwas durchweicht war und ein Ausgleiten höchst fatal erscheinen ließ; wir hielten uns an solchen Stellen an die Felswand. An zwei Stellen waren die Rinnen so enge, daß wir unter herabgestürzten Felsblöcken, die sich darin festgekeilt hatten, durchkriechen mußten, was uns immer ein peinliches Gefühl erweckte, wenn auch hier speciell keine Gefahr zu befürchten war. Endlich langten wir auf dem Grat an; es wird dort gewesen sein, wo das n im Wort Eisenthälispitz steht. Wir waren dort immer noch durch eine Erhebung von der Gipfelpyramide getrennt, und unsere Befürchtung, daß dieser Kopf unpassierbar sei, erwies sich leider als begründet. Wir arbeiteten uns zwar über plattige Stellen ziemlich leicht hinauf; allein auf der andern Seite ( nach Südosten ) fiel er in so schroffer Wand ab, daß wir auf das Begehen verzichten mußten. Beim Rekognoscieren hatte Freund Zwicky das Mißgeschick, sich die Kniescheibe zwar nicht gerade zu verletzen, aber doch in so unsanfte Berührung mit dem Felsen zu bringen, daß ihm der Schmerz bei jedem Schritte hinderlich war. Wir mußten auf die Grateinsenkung zurück und durch eine Runse in nordöstlicher Richtung absteigen, bis wir eine Felsrippe, die von dem erwähnten Hindernis sich herabzieht, überqueren und so ins Couloir gelangen konnten, das in einer Scharte zwischen dem unpassierbaren Kopf und der Gipfelpyramide seinen Anfang nimmt. Der darin befindlichen überaus steilen Schneehalde durften wir uns nicht anvertrauen; wir gingen dem rechtsseitigen, nördlichen Felsen nach, was an einer Stelle nicht ganz leicht war. Schon hier überraschte uns ein Regenschauer, der zwar bald aufhörte; allein das Wetter hatte sich überhaupt zum Schlimmeren gewendet, was uns schon die Morgenröte und die drückende Windstille hatten ahnen lassen. Mein Freund erklärte, seines Kniees wegen in der Schneeschlucht warten zu wollen, und so arbeitete ich mich mühsam genug allein hinauf bis auf den Grat und war nun am Fuße der kühnen Spitze. Die noch folgende Strecke ist leicht; über Blöcke, einmal über eine- plattige Stelle und auf kurze Zeit den Grat verlassend, gelangte ich um 7 Uhr 45 Min. auf Punkt 2882. Mein Freund, dem es unten zu langweilig geworden war und der im Falle eines Steinschlages sich auch in ungünstiger Stellung befunden hätte, kam übrigens noch nach und traf mich, als ich schon wieder auf dem Abstiege war; wir besuchten hierauf noch gemeinschaftlich die Spitze. Unsere Mühe wurde schlecht belohnt; von der Aussicht hatten wir des Nebels wegen herzlich wenig. Im Osten ist die sehenswerteste Partie die Seegruppe und unter dieser namentlich das große Seehorn; den Großlitzner sahen wir nicht, und da ich so wenig um die Ecken herum sehen kann als andere Leute, so muß ich gestehen, daß ich mich wahrscheinlich eines groben Irrtums schuldig gemacht, als ich im letzten Jahrbuch den Großlitzner als vom Kessispitz aus sichtbar angab; ganz sicher könnte ich indes diese Frage heute noch nicht entscheiden. Der Schiltfluh bat ich im stillen das Unrecht ab, sie einen plumpen, charakterlosen Blockgipfel genannt zu haben; von einer ebenbürtigen Höhe aus gesehen, imponiert sie mit ihrem massigen Bau, ihrem Gletscher und den obersten Firnfeldern weit mehr als die trotzigem Fergenhörner. Vom Eisenthälispitz aus sind weder Innersäß noch Außersäß sichtbar; nur ein kleines Stück des Verbindungsweges, and zwar wenig östlich von Außersäß, ist zu erblicken. Wir merkten uns diese Stelle und sahen später von dort aus den Gipfel. Nach Norden zieht sich eine äußerst wilde Partie bis zum Rotbühl, und der Übergang zu demselben dürfte keine leichte Aufgabe sein. Auf unserm Standpunkte fanden wir keine Spuren einer frühem Besteigung, obwohl das Itinerar ihn nicht als jungfräulich angiebt. Wir sahen auf einem nahen, südlich gelegenen, jedoch von uns aus schwer erreichbaren niedrigen Vorgipfel ein Häufchen Steine, von dem wir auf diese Distanz nicht entscheiden konnten, ob das Walten der Naturkräfte oder aber Menschenhand es entstehen ließen. Wäre das letztere der Fall, so könnte man sich die Sache nur so erklären, daß der betreffende Bergsteiger die letzte Partie nicht mehr zu machen wagte. Häufiger wird der Rotbtlhl besucht, der an Höhe dem Eisenthälispitz nahe kommt und etwas leichter zugänglich ist. Wir deponierten die Daten, verzichteten aber selbstverständlich auf die Erbauung eines Steinmannes, da der drohende Regen uns zu eiligem Rückzuge anspornte. In der Scharte unten waren wir bald, aber verzweifelt langsam ging das Vorrücken in der steilen Schneeschlucht vor sich, und herzlich froh waren wir, als wir unsern Fnß wieder auf Schutthalden setzen konnten. Jetzt aber öffneten sich die Schleusen des Himmels; zugleich befanden wir uns im Nebel. Von weiterm Ausführen unserer Absichten war also keine Rede mehr; wir wandten uns, ein ziemlich großes Firnfeld überschreitend, dem nach dem Hinterberg ziehenden Grate zu, überschritten denselben und langten pudelnaß in der Hütte von Innersäß an, wo wir uns erfrischten und die Sennen uns ein Feuer anzündeten, an dem wir mit Muße unsere Kleider trocknen konnten. Da sahen wir auch zu unserm Gaudium, wie die Hirten, die in dem steinigen Revier ihre Schuhe stark mitnehmen, dieselben wieder feld-tüchtig machen. Mit einer Holzsäge wurde der Absatz um einen halben Zoll niedriger gemacht und die neuerstandene ebene Fläche mit Nägeln gespickt.

Am Nachmittag zogen wir hinaus nach Klosters-Dörfli, und zwar fast mit einem Gefühle des Bedauerns, so frühe Fersengeld gegeben zu haben; das Wetter besserte sich bedeutend, um jedoch schon am folgenden Tage einem gehörigen Landregen zu weichen. Freund Meißer hatte noch weniger Glück gehabt als wir; er war gerade auf dem Schlappinerjoch angelangt und hatte seinen Apparat aufgestellt, als das Wetter umschlug; statt des erwarteten Sonnenblicks sandte ihm der Himmel strömenden Regen.

Ich kann mich keiner schwierigen Touren rühmen; aber unter denen, die ich schon gemacht, war die auf den Eisenthälispitz die schwierigste. Ob ich in deren Beschreibung zu schwarz gemalt habe, kann ich selbst nicht entscheiden; es ist zu berücksichtigen, daß vielleicht die Hast, zu welcher uns das drohende Unwetter trieb, unser Urteil im angedeuteten Sinne beeinträchtigt hat. Jedenfalls ist bei günstigem Schneeverhältnissen der Aufstieg von Osten ungefährlich, Steinschlag ausgenommen; etwas mühsam wird die Partie immer bleiben. Das aber gelobte ich mir an diesem Tage, da ich zufällig Freund Meißers Rucksack trug, im nächsten Jahr meinem treuen Tornister den Abschied zu geben, da ich es nun einmal praktisch erfahren hatte, wieviel weniger der erstere hinderlich ist als der an engen Stellen und beim Abwärtsklettern stets unbequeme Tornister.

II. Drusenfluk ( Großer Turm 2828 " ).

Man streitet sich darum, ob die Süd- oder die Nordseite der Drusenfluh schöner sei. Dieser Streit ist insofern müßig, als es sich dabei eigentlich um inkommensurable Größen handelt. Jede Seite ist in ihrer Art einzig schön: von Süden die eine Stunde lauge, im gewöhnlichen Berglatein als senkrecht zu bezeichnende Felsenmaner mit ihren edeln Kammlinien, von Norden der weniger steile Abfall mit seinen oft massigen, rundlichen, oft schlanken und spitzigen Felsköpfen, seinen breiten Rücken, tiefen Schluchten, kleinen Gletschern und mächtigen Schutthalden. Fassen wir speciell die Nordseite ins Auge, so müssen wir der Gegend der „ Drei Türme " die Palme zuerkennen, die wohl als eine der schönsten Partieen des ganzen Klubgebietes gelten kann. Ich verweise hier auf die Beilagen zu Band XXVI des Jahrbuchs, auf „ Sulzfluh und Drusenfluh ", von Müller-Wegmann, und „ Der Rhätikon ", von ebendemselben. Zugleich sei hier ein Irrtum berichtigt, der sich in das Itinerar ( pag. 31 ) eingeschlichen und von dort aus seinen Weg in verschiedene andere Arbeiten gefunden hat. In demselben ist nämlich Punkt 2755 als der mittlere und Punkt 2438 als der kleine Turm bezeichnet, und zwar nach Angabe von Herrn Hueter, Präsident der Sektion Vorarlberg. Der kleine Turm ist aber Punkt 2755 und der mittlere auf unserer Exkursionskarte sonderbarerweise gar nicht mit einer Höhenquote versehen, welcher Umstand wohl die Hauptschuld an der Verwechslung trägt. Auf Muller-Wegmanns „ Sulzfluh und Drusenfluh " ist der kleine Turm richtig mit 2755, der mittlere aber fälschlich mit 2815 bezeichnet. Punkt 2815 liegt südlich von 2828, da, wo die jäh abstürzende Wand einem unmittelbar den Blick nach Drusen hinunter gestattet. Daß auf der gleichen Beilage das Eisjöchl mit 2301 m viel zu tief bezeichnet wurde, ist wohl nur ein Versehen. Der mittlere, wie schon bemerkt, einer Zahl nicht gewürdigte Turm befindet sich auf der Karte in der Gegend der letzten 8 in 2828. Der durchaus nicht, ebenbürtige Punkt 2438 ist also von seiner falschen Rangstellung zu stürzen. Mancher Wanderer, der das unvergeßliche Bild der drei Türme vor sich aufsteigen sah, hat sich vielleicht im stillen gefragt, warum von diesen stolzen Gesellen nur zwei als Türme bezeichnet werden und warum der dritte in der Nähe des Drusenthors zu suchen sei, wo allerdings genug unzugängliche Zacken sich vorfinden, unter denen jedoch keine besonders hervortritt.:

Ich hatte noch nie einen Angriff auf irgend einen Gipfel der Drusenfluh unternommen, da ich immer ohne Führer auszog und die Tour für einen Sologänger als zu schwierig ansah. Nachgerade aber fing ich mich an zu schämen, daß ich dieser erhabenen Felsenzinne, die so stolz hinausschaut nach Schiers, noch nie einen Besuch abgestattet hatte, und so beschloß ich, diese Unterlassungssünde wieder einigermaßen gut zu machen. Ich faßte mir den Punkt 2828, d.h. den großen Turm, ins Auge, der nach dem Itinerar von Schweizern noch nicht bestiegen sein sollte und der, nur um lm niederer als die westliche Spitze, die Drusenfluh im engern Sinne des Wortes, der gerühmten Aussicht der letztern kaum nachstehen konnte. Wie es mit den Schwierigkeiten stand, davon hatte ich keine Ahnung. Herr Obergerichtsschreiber Stokar ( Sektion Randen ), mit dem Clubgenosse Jeklin und ich den Abend des 11. August in St. Antönien-Platz in angenehmster Weise verlebten, teilte uns indes mit, die Besteigung scheine nicht zu beschwerlich zu sein; ein Senn in der Sporer Alp habe behauptet, schon droben gewesen zu sein. Die mit leichter Mühe erfolgte Eroberung dieses Gipfels, sowie noch einige andere Beispiele haben mir gezeigt, wie beschränkt und unzuverlässig unser Urteil über Passierbarkeit ist. So hielt ich im Jahr 1890 jenen wilden Zackenkamm westlich von Punkt 2555 der Kirchlispitzen für verhältnismäßig leicht, während ich ihn im folgenden Jahre, als ich ihn gehörig mustern konnte, für unbezwingbar erklärte; so hielt ich den sogenannten „ roten Gang " am südwestlichen Teil der Drusenfluh für aussichtslos, während gerade hier Herr Stokar seinen Aufstieg bewerkstelligte und so zum ersten Mal die Drusenfluh ( 2829 m ) von Süden bezwang, obwohl er selbst erklärte, er sei voller Skepsis dort an seine Arbeit gegangen.

Am 12. August kam ich mit Freund Jeklin, von den Gargellenköpfen zurückkehrend, nach Partnun, wo wir übernachteten. Um 4 Uhr 30 Min. brachen wir am Morgen des 13. August auf, um 5 Uhr 45 Min. standen wir auf der Garschinafurka und musterten von hier aus unser Ziel. Wir sahen die mächtige Scheitelfläche zwischen Punkt 2828 und 2815, die überaus wilde Partie um Punkt 2723, den kleinen Turm ( 2755 m ), der in jähem Falle sich senkt zu einem zackigen Kamm, der seinerseits ebenso plötzlich abfällt zu einem womöglich noch gezacktem, vom Drusenthor herstreichenden Grate. Das Ganze bietet ein treppenartiges Profil. Wir schritten weiter bis zum Drusenthor und wandten uns, immer noch auf Schweizerseite bleibend, nach Nordwesten, in der Absicht, einen Aufstieg von unserer Seite zu finden. Allein die grandiose Felswand unter Punkt 2723 gefiel uns immer weniger; gelang es uns aber nicht, dort hinaufzukommen, so war der Versuch als gescheitert zu betrachten; denn östlich vom kleinen Turm auf den Grat zu gelangen, hätte herzlich wenig Wert gehabt, da wir diesen bösen Burschen auf der Südseite gar nicht und auf der Nordseite höchst wahrscheinlich nicht traversieren konnten. Wir standen also insofern von unserm Vorhaben ab, als wir, durch ein Trümmerthälchen auf den Grat gelangt, denselben schon in der Nähe des Punktes 2438 überschritten. Von da an war uns der Weg für einstweilen ziemlich klar vorgezeichnet; wir mußten jenes lange Felsband zu erreichen suchen, das sich von Punkt 2755 in fast nördlicher Richtung ins Öfentobel hinabzieht. Wir marschierten geraume Zeit, Punkt 2413 als Direktionspunkt wählend, über die infame Schutthalde. Die Überschreitung der ziemlich niedrigen Felswand ging ganz leicht von statten; in der Nähe von Punkt 2413 ist eine Bresche gelegt, durch die wir ohne eigentliches Klettern hinauf gelangten. Wir sahen nun den Wall, der uns noch vom Tiergarten trennte und der in einem massigen, begrasten Klotz ( Punkt 2442 ) endigt. Von Punkt 2413 zieht sich eine sehr breite und lange Kehle nach Süden. Sie führt zwischen dem kleinen und mittlern Turm durch und trägt ein prächtiges Firnfeld. Wir stiegen in derselben mit Leichtigkeit hinan, machten uns aber gefaßt, am obern Ende dieser Kehle, wenn wir einmal die höchste, von Punkt 2413 aus sichtbare Stelle erreicht hätten, auf ernstliche Schwierigkeiten zu stoßen, und ganz besonders schien es uns fraglich, ob wir hinter dem mittlern Turm durchkommen würden. Gelang uns das nicht, so blieb uns noch ein teilweise mit Schnee bedecktes, geräumiges Plateau übrig, das, an der Nordseite des mittlern Turms beginnend, nach Nordwesten sich ausdehnt und auf der Karte leicht zu finden ist ( bei den Buchstaben n und f im Wort Drusenfluh ). Allem Anschein nach war aber dieses Plateau nicht ganz leicht zu gewinnen. Wir hatten es zum Glück auch nicht nötig; immer höher stiegen wir über das erwähnte Firnfeld, das an seinem obern Ende zwischen den Türmen in ungefährliche, wenig steile Felsen übergeht; die erwartete kritische Stelle kam nicht, und es wurde uns fast zu Mute wie jenem Professor, der eine Verschwörung witterte und in Thränen ausbrach, als einmal seine Klasse, die er sonst nicht im Zaume zu halten vermochte, wider Erwarten ruhig und anständig war. Wir wendeten uns, nachdem wir gegen Punkt 2723 hin marschiert waren, nach Nordwesten und sahen dabei, daß der mittlere Turm auf der Südseite ziemlich harmlos aussieht und jedenfalls mit Leichtigkeit bestiegen werden kann. Es folgten nun kleine Schneefelder und felsige Partieen mit stark entwickelter Karrenbildung. Um 8 Uhr 30 Min. langten wir auf der imposanten Scheitelfläche an und lagerten uns bei einem kleinen Steinmann auf Punkt 2828.

Die Stunden nun, die wir da oben zubrachten, zähle ich zu den schönsten meines Lebens. Keine Übermüdung hinderte uns daran, sie voll zu genießen, da wir am Tage vorher nur eine leichte Tour gemacht und uns auch heute nicht überanstrengt hatten; dazu war das Blau des Himmels auch nicht von einem einzigen Wölklein getrübt, und die ganze Besteigung hatte für uns den Reiz der Neuheit, alles Grund genug, unsere Stimmung zu einer fröhlichen zu machen und speciell mich das Pech der vorigen Tage vergessen zu lassen. Nicht daß ich es unternehmen könnte noch wollte, die großartige Aussicht zu schildern; sie kann von derjenigen auf Punkt 2829 nur in Bezug auf die nächsten Partieen verschieden sein, und ich verweise in dieser Hinsicht auf das Itinerar und auf Herrn Imhofs „ Drusenfluh " im Jahrbuch 1891; überdies können sich die zahlreichen Besteiger der Scesaplana und Sulzfluh die Fernsicht ungefähr vorstellen. Der Reiz einer solchen Ausschau beruht aber nicht zum geringsten Teile auf der nähern Umgegend, und da bietet die Drusenfluh des Interessanten in Hülle und Fülle; namentlich fesselt der Bau des Gebirgsstockes selbst noch in höherm-Maße als bei Scesaplana und Sulzfluh. Wir spähten lange hinüber nach dem Gipfelgrate von Punkt 2829, konnten aber nicht mit Sicherheit entscheiden, welches die höchste Zacke sei. Alle Augenblicke erwarteten wir, dort Herrn Stokar auftauchen zu sehen, von dessen Absicht wir Kenntnis hatten; allein vergeblich; er hatte mit Führer Michel seine kühne, erstmalige Überwindung der Drusenfluh von Süden schon am Tage vorher ausgeführt, was wir erst nachher erfuhren. Großartig ist der Anblick des Eisjöchl mit dem „ Zahn " und „ Turm " und dem nach Norden sich senkenden, eingezwängten Gletscher mit seinen klaffenden Schrunden. Ob der Übergang über das Eisjöchl zu machen ist, darüber maße ich mir kein Urteil an; die meisten Touristen, die in der Gegend einigermaßen orientiert sind, erklären es für unpassierbar. Ich bin der Ansicht, daß man von Punkt 2828 wohl hinab gelangen kann; aber nach Westen steigt die Wand aus dem Schartengrund so hoffnungslos steil an, daß man an ein Hinaufkommen auf den gewaltigen Koloß, der der höchsten Spitze im Südosten vorgelagert ist, kaum zu glauben wagt. Nördlich vom Einschnitt selber glaubte ich allerdings in der hohen Felswand eine Stelle zu bemerken, wo vielleicht ein Versuch gemacht werden könnte, und wirklich wurde die Stelle nachher von Gemsen passiert.

Von den wilden, nackten Felsen wendet sich das die Abwechslung liebende Auge mit Vergnügen hinab ins prächtige Gauerthälchen mit dem vorgelagerten Kristakopf und hinüber zu dem bekannten Bartholomäusberg, der selbst dem Prätigauer als Ideal landschaftlicher Schönheit gilt. Ein Werdenberger behauptete einst, wenn Herzog Rohan den Grabserberg gekannt hätte, so würde er diesen und nicht den Heinzenberg für den schönsten der Welt erklärt haben; wir befürchten aber, es würden auch die Grabser zu kurz gekommen sein, wenn der Herzog die Gegend von Tschagguns und Schruns und das nördlich davon ansteigende, häuser-übersäete und mit mehreren Kirchen geschmückte Gelände gekannt hätte.

Ein Clubgenosse sagte mir einmal scherzend, mit vielen Namen in den Alpen sei es wie mit dem lucus a non lucendo; z.B. heiße der Tiergarten so, weil dort keine Gemsen zu sehen seien. Wir sollten heute eines Bessern belehrt werden und ein Bild alpinen Tierlebens zu sehen bekommen, das wir nicht so leicht wieder vergessen werden, und zwar nicht wegen besonders großer Anzahl der Gemsen, sondern weil wir sie eine halbe Stunde lang ungestört beobachten konnten. Es waren 14 Stück, darunter mehrere Zicklein. Sie kamen, von der Morgenweide sich in kühlere Regionen zurückziehend, aus dem Tiergarten durch die Gletscherschlucht herauf. Als eine höchst respektable Leistung mußten wir schon den Sprung betrachten, mit dem sie vom obern Rand des Gletschers auf den Felsen hinauf setzten, und atemlos sahen wir zu, wie sie die sehr steilen Felsen bis zum Einschnitt zurücklegten und mit Leichtigkeit Zahn und Turm traversierten. Sie verweilten hierauf längere Zeit am Abhänge östlich vom Jöchl. Nachdem wir sie genug betrachtet, pfiffen wir; die Tiere stutzten und wandten sich zur Flucht. In kühnen Sätzen eilten sie zurück, und mit gewaltigem Sprung gelangten sie wieder auf den Gletscher, wobei eines Uberkollerte und einen Augenblick von einer Schneewolke umgeben war. Besondere Freude bereitete uns eine Geiß mit ihrem Zicklein; an der Randkluft angelangt, kehrte sie wieder um, da sie offenbar mit Recht den Schneeschild fürchtete, und setzte an einem günstigem Punkte über. Sie entschwanden hierauf unsern Augen, da sie sich unter die östliche Felswand begaben, erschienen aber bald wieder, um an der westlichen Felswand emporzuklimmen, eben an jener Stelle, die ich als vielleicht passierbar bezeichnete. In einer tiefen Schlucht bargen sie sich dann vor den menschlichen Blicken.

Wir vergrößerten den Steinmann und fügten zu den wenigen in der Flasche befindlichen Namen der österreichischen Besteiger die nnsrigen. Nachdem wir noch eine Strecke weit gegen das Eisjöchl hinab gestiegen waren und auch Punkt 2815 besucht hatten, der einen höchst lohnenden Blick über die hohe Steilwand hinunter gestattet, wandten wir uns nm 11 Uhr auf dem gleichen Wege zur Rückkehr. Bald waren wir wieder zwischen dem mittlern und dem kleinen Turm. Derselbe erscheint von Westen aus weniger keck als von Norden, wo er, scheinbar ganz spitz zulaufend, den Eindruck des Unnahbaren macht. Er wurde erst im Sommer 1892 von einigen Mitgliedern der Sektion Vorarlberg zum ersten Male bezwungen, tiber das Firnfeld fuhren wir flott ab, und zwar fast ununterbrochen bis oberhalb Punkt 2413 in einer Rutschpartie, wie ich sie länger noch nie gemacht. Dann schritten wir über die Trümmerhalden nach Südosten, begaben uns jedoch nicht auf das Drusenthor selbst, sondern machten einen Abstecher in die Felsen der Sulzfluh, kehrten aber um, nachdem wir in eine Höhe von etwas über 2500 m gelangt waren. Unsere Absicht war, zu untersuchen, ob man nicht ohne besondere Schwierigkeiten vom Drusenthor aus die Sulzfluh besteigen könnte, in welchem Falle sich die letztere mit dem Großen Turm zu einer prachtvollen Doppeltour vereinigen ließe. Wir kehrten aber, wie gesagt, um, als die Felsen immer steiler und gute Griffe seltener wurden, da wir nur des genannten Zweckes V- " :°~:.:wegen den Versuch machten und nicht mit dem Vorsatz, um jeden Preis droben gewesen zu sein. Für unmöglich halte ich die Ausführung nicht. Wir wandten uns, nachdem wir den Grat in der Nähe von Punkt 2400 überschritten, hinab nach den Alphütten von Drusen, rasteten dort kurze Zeit und begingen dann den neuen, durch den Liziwald führenden Weg, auf den ich nachher noch zu sprechen kommen werde. Um 8 Uhr abends langten wir in Schiers an.

Punkt 2828 dürfen wir mit gutem Gewissen allen Freunden der Bergwelt warm empfehlen. Die einzige Passage, wo ein ungeübter, aber auch nur ein gänzlich ungeübter Gänger straucheln könnte, ist die Überschreitung der langen Felswand bei Punkt 2413, und zwar nicht etwa des Kletterns, sondern der harten erdigen Stellen wegen. Vorsicht erheischen selbstverständlich auch die ausgewaschenen karrenartigen Bildungen, die sich von der großen Scheitelfläche nach Südosten hinunterziehen. Der Nimbus der Gefährlichkeit, der die ganze Drusenfluh umgiebt, ist schuld daran, daß der in jeder Beziehung der Sulzfluh mindestens ebenbürtige Gipfel noch nicht zur verdienten Geltnng gelangen konnte. Speciell für die Gäste in Partnun wäre diese Tour sehr geeignet. Wir brauchten für den Aufstieg von dort aus genau vier Stunden, zwei kurze Halte mitgerechnet. Drei Stunden rechnet man aber auch für die Sulzfluh, und mit einem Mehraufwand von zwei bis drei Stunden für Hin- und Rückweg ließe sich also der große Turm von Partnun aus leicht bewältigen.

III. Im Scesaplana-GeMet.

Daß ich die vier Tage vom 15. bis 18. August allein auf Reisen war, verschuldete nicht ich, sondern ein unvorhergesehener Umstand, der meinen Clubgenossen Hartroann verhinderte, zum Rendezvous am Lünersee zu erscheinen, das wir auf den Abend des 16. verabredet hatten. Ich brach am 15. August vormittags 10 Uhr bei fürchterlicher Hitze von Schiers auf und wanderte, an den ausgezeichneten, nach Prof. Heim eiszeitlichen, vielleicht interglacialen Terrassen unterhalb Montagna vorbei, nach Busserein, einer lieblichen grünen Mulde, der Heimat eines originellen, fleißigen Völkleins und Geburtsstätte des fast vergessenen „ Bussereiner Haldenjohli ". Busserein wurde am 18. März 1805 von einem Bergsturz heimgesucht, von welchem Baltzer berichtet: „ Erweichung gewisser Schichten durch Wasser war die Ursache. 6 Häuser und 12 Ställe gingen zu Grunde. " Tscharrer giebt überdies an, daß der Schaden an Gütern sich auf 20,000 Gulden belaufen habe. Nach vielfachen Erkundigungen, die ich eingezogen, ist indes die Sache nicht so zu verstehen, als ob die Gebäude plötzlich bedeckt worden wären. Vielmehr bewegte sich von dem heruntergestürzten Material, das heute noch streckenweise deutlich -..... ."-. >4A, Ludwig.

abgesetzt ist, eine schlammige Masse träge vorwärts, und zwar, wie die Leute sich ausdrückten, täglich etwa um „ Rechenstiellänge ". So blieb den Bewohnern Zeit, die bedrohten Gebäude abzutragen. Manche von denselben wurden, wie dies in Graubünden vielfach üblich ist, anderswohin versetzt und können von den altern Leuten noch mit Bestimmtheit angegeben werden. Die Stätte, die vom Schlammstrome überführt wurde, ist teilweise wieder in Wiesland umgewandelt, auf größern Strecken aber mit Birken bewachsen. Der gewölbte Haufen, wo die Hauptmasse des Sturzmaterials liegen blieb, ist mit schönem jungem Tannenwald bedeckt; andere Partieen sind mit einem im wahrsten Sinne des Wortes undurchdringlichen Gestrüpp bewachsen. Im nordöstlichen Teile des Absturz-gebietes ( dasselbe findet man auf der Karte bei der Zahl 1332 ) finden sich die im Flyschschiefer so zahlreich vorkommenden Biegungen und Knickungen; im südwestlichen Teile zeigen sich mehr plattige Stellen, und es scheint hier ein Rutsch über die Schichtflächen erfolgt zu sein; die letztere Felspartie zeichnet sich zudem durch ihre bläuliche Färbung aus.

Die steile Cresta, aus der ich mir sonst nicht viel machte, rechtfertigte heute ihren schlimmen Ruf bei dieser entsetzlichen Hitze. Letztere war schuld daran, daß ich nicht bis ins Dörfchen Schuders hinaufstieg, sondern über Valmära zum Salfscher-Brückli ( 966 m ) mich wendete. Als natürlicher Brückenpfeiler dient dort ein kolossaler erratischer Kalkblock. Der Weg durch den Liziwald, den ich schon erwähnte, hat vor demjenigen über Schuders, Vorder- und Hinterälpli, der mit seinen gewaltigen Kurven kein Ende nehmen will, verschiedene Vorzüge, falls man nach Drusenalp gelangen will. Salfscb, einer der abgelegensten Weiler des Prätigaus, die Heimat des bekannten Jägers Heinrich Schuß, der mit Vorliebe im westlichen Teile der Drusenfluh jagte, oft den roten Gang benutzte und von dem auch die Schüßhöhle ihren Namen hat, wird rechts liegen gelassen. Der neue Weg wendet sich, in geringer Höhe über dem Bach bleibend, vom Brückli zunächst nordöstlich, dann aber nach Osten, um den auf der Karte bezeichneten Übergang über das Lizitobel zu gewinnen. Von da an ist die Steigung bis zur Überschreitung des Großbaches nicht mehr bedeutend; das letzte Stück hingegen, vom Alt-Säß bis hinauf zu den Alphütten von Drusen, erfordert ein halbes Stündchen schärferen Aus-greifens. Die Abkürzung gegenüber dem jenseitigen Alpweg ist, wie ein Blick auf die Karte zeigt, sehr beträchtlich; zudem kann man, was bei solcher Hitze etwas bedeuten will, fast immer im Schatten marschieren. Die Erstellung des Weges, bei welcher leider ein Arbeiter seinen Tod fand, wurde von Holzhändlern übernommen, indem die Gemeinde ihnen dafür das im Liziwald sich vorfindende abgehende Holz überließ.

Der heutige Tag galt keinem Gipfel, sondern der großen Schutthalde nordwestlich vom Drusenthor, und zwar einer Stelle derselben nördlich von Punkt 2755, wo wir bei der Besteigung des großen Turmes schöne Drusen von Kalkspat-Skalenoëdern gefunden hatten und die uns zudem durch ihre Konkretionen aufgefallen war. Freilich war ich zu diesem Zweck zu spät aufgebrochen; es war halb fünf Uhr, als ich auf dem Drusenthor stand; die weite Geröllhalde bis hinaus zu jenem Felsband kann man auch nicht im Trab zurücklegen, und so blieb mir für ineine Arbeit verzweifelt wenig Zeit. Umsonst suchte ich nach Versteinerungen; das einzige Stück, das ich unfehlbar für eine solche hielt — auf der gleichen Platte waren zwei Kreissysteme sichtbar — wurde von Herrn Dr. Mayer-Eymar nur als Konkretionsbildung bezeichnet. Auch im schönen roten Kalke, der sich in der Nähe findet, konnte ich nichts entdecken, obwohl Theobald angiebt, man habe in demselben schon schlecht erhaltene Ammoniten gefunden. Auch Herr Dr. Tarnutzer hat in diesen roten Bändern keine Petrefakten entdecken können, und es dürften die erwähnten Am-monitenfunde eher auf die weiter westlich vorkommenden roten Bänder Bezug haben, welche dem Lias angehören, während der rote Kalk der Kirchlispitzen, Drusenfluh und Sulzfluh von den nenern Forschern als Seewenkalk, mithin als zur Kreide gehörig, bezeichnet wird. Die Haupt-errungenschaft meiner Wanderung bestand, nebst einer schweren Last von muschelförmigen, stengeligen und traubigen Konkretionen, darin, daß meine Schuhe, die treuen Begleiter auf mancher Fahrt, anfingen, rebellisch zu werden. Erst bei eingebrochener Dunkelheit kam ich bei den Alphütten von Drusen wieder an und übernachtete dort.

Am folgenden Tage bestieg ich die Sulzfluh, die ich 14 Jahre lang nicht mehr betreten hatte. Die Aussicht war über Erwarten günstig, viel besser, als der Morgenhimmel hatte erwarten lassen. Hier sammelte ich auch einige der ziemlich häufig vorkommenden, jedoch kleinen und schlecht erhaltenen Versteinerungen, die Theobald als unbestimmbar bezeichnete. Ich sandte die zwei am besten erhaltenen Stücke an Herrn Dr. Tarnutzer. Das eine ist eine Hieria aus dem Schrattenkalk der Kreide, welche Schicht Herr Tarnutzer zuerst an der Sulzfluh nachgewiesen hat; das andere, von dem ich mehrere Exemplare fand, ist eine ebenfalls der Kreide angehörige Nerinea. Daß ich nun, da ich doch nach dem Lünersee wollte, nicht durch den Rachen nach der Sporn-Alp abstieg — ein ganz gefahrloser und der Rutschpartieen wegen sehr bald zurückgelegter Weg —, kann ich mir heute noch nicht erklären, es sei denn der Wunsch gewesen, die Tilisuna-Hütte zu besehen und den mir neuen Bilkengrat zu passieren. Um 1 Uhr war ich bei der Hütte, um 2 Uhr verließ ich sie und stieg wieder bis fast auf Punkt 2446, hatte dann aber das Vergnügen, auf kniebrecherischem, in zahllosen kurzen Kehren auf einer Gratrippe verlaufendem Wege 750 m an Höhe einzubüßen. Derselbe bietet übrigens schöne Ausblicke auf Sulzfluh und Drusenfluh, auf das Gauerthal und Teil e des lllthales. Da der Bilkengrat sich beinahe in der verlängerten Streichungsrichtung der Kirchlispitzen befindet, so fällt einem hier sehr gut auf, wie der Rhätikon beim Schweizer- thor plötzlich seine Richtung ändert. Der erst seit kurzer Zeit bestehende Weg ist vortrefflich markiert, und auch das auf der Karte noch nicht verzeichnete Stück durch den Porsalenger-Wald, das erst am vorhergehenden Tage mit den bekannten roten Zeichen versehen worden war, kann nicht verfehlt werden. In der Ober-Sporn-Alpe, die als Ausgangspunkt für Drusenfluh-Besteigungen sehr günstig gelegen ist, nahm ich eine tüchtige Stärkung, da mir noch ein gutes Stück Weges mit starker Steigung bevorstand. Im obern Teil des Öfenthaies hat man vom Anblick der Drusenfluh nicht mehr viel, da dieselbe hier zu steil ansteigt, als daß man die Gipfelpartie noch erblicken könnte. Wohl selten hat man Gelegenheit, so viele Murmeltiere nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, wie zwischen Öfenpaß und Verrajöchl. Um 7 Uhr erreichte ich den Lünersee, traf aber hier den erwarteten Kameraden nicht an und war daher zunächst etwas aus dem Concept gebracht.

Straußweg und Fundelkopf. Am Morgen des 17. August brächen ganze Scharen schon um 3 Uhr nach der Scesaplana auf. Da geht 's ganz schablonenmäßig zu; bis Sonnenaufgang will man droben sein und frieren; nachher eilt man so schnell als möglich wieder zum See hinunter. Um 8 Uhr ist meistens kein Mensch mehr auf der Spitze, die nun vereinsamt bleibt, bis die Besucher aus dem Nenzinger Himmel, die über den Straußweg den Panüeler erstiegen und den Gletscher überschritten haben, noch einmal Leben auf den Gipfel bringen. Ich brach an diesem Tage um 6 Uhr allein nach der Spitze auf, genoß bei tadellosem Wetter die herrliche Aussicht und stieg dann langsam, in den Kössener-Schichten mit Erfolg nach Versteinerungen suchend, gegen den Gletscher hinab und der Zalimspitze zu. Es begegneten mir mindestens 20 Personen, die um 2 Uhr in St. Rochus aufgebrochen waren. Noch eine andere Begegnung sei hier erwähnt. Massenhaft Kohlweißlinge auf Schneefeldern umherliegen zu sehen, ist man gewöhnt; aber daß ich auf dem Brander-Ferner einen schönen, jedoch erstarrten Windenschwärmer ( Sphinx convolvuli ) antreffen würde, hatte ich mir nicht träumen lassen. Der Wind wird wohl den faulen Gesellen heraufgetragen haben. Der sehr angenehme Marsch über den Gletscher ist nur an zwei Stellen etwas mühsamer, nämlich in der Gegend von Punkt 2804 und sodann in seinem letzten Teile südöstlich vom Panüeler. Letzterer Name ist weit mehr gebräuchlich, als die Bezeichnung Zalimspitze. Um 10 Uhr 40 Min. stand ich beim mächtigen Steinmann und verweilte eine Stunde dort. Die Aussicht ist großartig; selbst der Scesaplana-Kegel, der einen Teil der Silvrettagruppe verdeckt, vermag sie nicht stark zu beeinträchtigen. Brillant zeigten sich die Tirolerberge; der Ortler schimmerte gerade zwischen Verstanklahorn und Piz Linard hervor, und er muß wohl ein riesiger Kerl sein, da er selbst zwischen diesen hochstrebenden Pyramiden noch solchen Effekt macht. Die Thalaussicht vom Panüeler ist in einigen Beziehungen noch rç besser bedacht, als diejenige der Scesaplana; namentlich ist das Rheinthal noch weiter hinauf sichtbar, nämlich bis in die Gegend von Buchs. Die Werdenberger sind der Ansicht, sie erblicken von Buchs oder Grabs aus den Scesaplana-Gipfel; ein Besuch des Panüelers und des Kegels würde ihnen zeigen, wie hoch sie an den benachbarten Bergseiten der genannten Dörfer noch emporsteigen müßten, um die höchste Spitze zu Gesichte zu bekommen.

Uns interessieren diesmal besonders die näherliegenden Partieen. Da erhebt sich im Norden des Gletschers als trotzige Festung der Wildberg, manchem Touristen bekannt durch seine roten Bänder, von denen dasjenige im Osten so stark gebogen ist, daß man es zweimal passieren müßte, wollte man den Berg von dieser Seite ersteigen. Wir sehen den von unserm Standpunkt nördlich streichenden Grat zunächst auf kurze Strecke fast horizontal bleiben, nach Osten einen Ausläufer entsendend, der dem Gletscher hier den Abfluß verwehrt, dann aber sich tief senken, um sich noch einmal zu einem breiten, durch seine gelbliche Farbe auffallenden Koloß ( Punkt 2519 ) zu erheben und endlich in der Kette des Fundelkopfes auszulaufen. Nach Südosten aber streicht der Grat in weitem Bogen zur kleinen Furka und bildet kurz vor derselben noch eine stattliche Erhebung. Als wohlthuender Gegensatz zu diesen verwitterten Gratlinien leuchtet aus einer Tiefe von 1500™ der grüne Plan von St. Rochus herauf.

Den Abstieg durch den Straußweg allein zu machen, hatte man mir am Lüneisee entschieden widerraten, und es wird auch thatsächlich der Weg in dieser Richtung selten begangen. Ich schaute indes die Sache nicht für so gefährlich an und machte mich um 11 Uhr 40 Min. an die Arbeit. Man steigt nicht direkt vom höchsten Punkt hinunter, sondern geht zuerst über den Grat etwas nördlich auf eine nahe, durch eine schwache Einsenkung abgetrennte Erhebung, biegt nun ab und steigt im Zickzack über eine Felsrippe hinunter. Hier ist es allerdings etwas „ schlichman bemerkt indes bald, daß es nicht darauf abgesehen ist, einfach in kürzester Linie ins Salaruel abzusteigen, sondern daß der Weg den rasch sich senkenden, gegen Punkt 2519 streichenden Rücken zu gewinnen sucht. Um dies zu bewerkstelligen, ist eine ziemlich ausgedehnte plattige Stelle zu passieren, die genau in der Richtung des Abstieges fällt und etwas ungemütlich erscheint. Allein der Weg hält sich an die Felswand; es sind in den Platten vortreffliche Stufen gehauen, und zum Überfluß ist ein Drahtseil mit Knoten vorhanden, so daß die Passage, die ohne diese Erleichterungen nur mit der allergrößten Vorsicht auszuführen wäre, ganz leicht vor sich geht. Mir persönlich — es ist dies natürlich eine subjektive Ansicht — erschien als die heikelste Stelle ein kleines Schneefeld, das oberste, das vom Nenzinger-Himmel aus am Panüeler-Schroffen sichtbar ist. Es muß in horizontaler Richtung über- schritten werden, ist natürlich nicht schwierig, aber der unten gähnende » Schrunde wegen gefährlich. Man gelangt so nach und nach auf den Grat und genießt fortwährend nach verschiedenen Seiten schöne Ausblicke, wird aber hie und da plötzlich daran erinnert, daß man hier besser thut, während des Marsches zu den FUßcn zu sehen. Punkt 2519 wird auf der Westseite traversiert; nachher begiebt man sich auf die Zalimseite, wechselt aber bald wieder und gelangt mit verschiedenen Gegensteigungen und an mehreren mit Drahtseil versehenen Stellen vorbei nochmals auf die Zalimseite, und zwar über eine eiserne, cirka 4 m hohe Leiter, die über ein Felswändchen weghilft, das uns sonst in Verlegenheit bringen könnte. Für den weitern Weg verweise ich, um Wiederholungen zu vermeiden, auf Band 26 unseres Jahrbuchs, in welchem Herr Imhof auf pag. 16 darüber referiert. Hat man einmal die Felswand unter sich und betrachtet sie von unten, so erklärt es sich, warum der Weg den weiten Bogen zum Spusagang beschreibt, statt südlich von Punkt 2519 abzuschwenken und sich nordwestlich in jene gewaltige Felsschlucht zu wagen. Über Geröll und durch Krummholz kam ich um 1 Uhr 30 Min. zum Hirschbad; ich war absichtlich nicht eilig marschiert.

Der Straußweg ist entschieden vortrefflich angelegt und die Begehung desselben bei normalen Verhältnissen als unbedenklich zu taxieren. Sehr beruhigend wirkt der Umstand, daß sozusagen nirgends größere Teile des Weges in der Richtung der Normalen unter einander liegen und also auch Steinschlag nicht zu befürchten ist, der sonst in den furchtbar verwitterten Felsen getrennt marschierenden Partieen verhängnisvoll werden könnte. Die ganze Strecke ist dank der opferwilligen Thätigkeit des Herrn Dr. Strauß und des D. u. Ö.A.V.J ) vortrefflich markiert, so daß man selbst beim erstmaligen Begehen nicht irren kann. Den Abstieg jedoch würde ich einem ungeübten Gänger abraten, weil der fortwährende Blick in Abgründe, namentlich im obersten Teile, sowie auch die Anforderungen an die Kniefestigkeit einen solchen doch etwas ermüden würden.

Beim Hirschbad pflegte ich mich gehörig, um so mehr, da dort einige erfrischende Quellen hervorsprudeln. Das Wasser des seichten Tümpels jedoch zeigte an diesem heißen Tage eine recht angenehme Temperatur und veranlaßte mich, ein Bad zu nehmen. Im Nordwesten ist dem Wasserbecken ein hügeliger Wall vorgelagert, der wahrscheinlich von einem Bergsturz herrührt. Die Umgebung ist teils mit Zwergkiefern, teils mit Lärchen bewachsen, unter denen letztern sich recht sonderbare Exemplare befinden, so namentlich eines, das durch seine dicken, zuerst wagrecht verlaufenden und dann plötzlich senkrecht in die Höhe steigenden Äste auffällt; ja einige dieser Äste erscheinen nochmals rechtwinklig geknickt.

Daß man an der 1200 m hohen Felsseite des Panileler-Schroffen fast kein Wasser findet und auch am Hirschbad nur schwache Quellen trifft, muß einen nicht wunder nehmen, wenn man unterhalb des erwähnten vorgelagerten Walles jene prächtigen Wasseradern hervorquellen sieht, die sich sogleich zu einem stattlichen Bache vereinigen. In St. Rochus versicherte man mir, im Winter führe derselbe kein Wasser; erst im Mai sprudle das schäumende Naß wieder hervor.

Ich war erstaunt, im Nenzinger-Himmel ein neues mit der Schweizerfahne geschmücktes Haus zu erblicken. Das Rätsel löste sich jedoch bald; die Jagd in diesem Revier ist an Schweizer, namentlich St. Galler, verpachtet, und einer der Anteilhaber, Herr Nationalrat Dr. Scherrer-Füllemann, ist der Erbauer jenes Hauses unterhalb der Kapelle. Für Unterkunft ist in St. Rochus ordentlich gesorgt; eine Fahne bezeichnet das Wirtshaus zur „ Goldenen Himmels-Sonne ", und da wir gerade vom Flaggenschmuck reden, so sei noch erwähnt, daß in dem weiter unten stehenden Häuschen mit der schwarzgelben Fahne der Förster seinen Sitz hat, der hier solange als möglich in den Winter hinein aushält. Die vielen Hütten jenseits des Baches aber stammen noch aus der Zeit, da die Nenzinger Bauern kein gemeinschaftliches Senntum hatten, sondern selbst in die Alp hineinzogen, um da zu wirtschaften, was übrigens auch jetzt noch vorkommen soll, namentlich weil es den Alpgenossen gestattet ist, nach Micheli, d.h. nach Aufhören der gemeinschaftlichen Sennerei, ihr Vieh in der Alp zu lassen. Die vier Sennhütten ( Setsch, Panüel, Oüfl und Stafeldon ) stehen etwas unterhalb des Alpdörfchens. Die umliegenden Alpen bieten Weide für mehr als 500 Stück Vieh und sind nebst der vielen Waldung der Hauptreiehtum der gut situierten Gemeinde Nenzing.

Wir müssen vorurteilslos, aber nicht ohne Neid gestehen, daß eine solche Partie, wie der Nenzinger-Himmel mit seiner Umgebung sie bildet, auf Prätigauerseite nicht zu finden ist. Der liebliche Plan von St. Rochus, in seltsamem Gegensatz stehend zu den entsetzlichen Felsen des Rauhen Berges, auf allen Seiten umschlossen von dunkelm Wald und grünen Alpweiden, erhält durch eine recht stattliche Gipfelreihe einen imposanten Hintergrund, und von besonderm Reiz ist das Bild, wenn das Alpenglühen die hohe Felsenstirne des Panüeler verklärt.

Die nördlichen Querthäler des Rhätikons zeigen gegenüber den Seitenthälern der Landquart im allgemeinen den Unterschied, daß fast alle noch ordentliche Thalboden besitzen und der Weg bis zum Beginn der gewöhnlich sich vorfindenden Mündungsschlucht dem Wasser nach gehen kann, wie der landläufige Ausdruck lautet. Im Prätigau dagegen winden sich die Bäche durch tiefe, im weichen Schiefer ausgefressene Schluchten, und der Weg führt hoch oben an den Seiten, mächtige Kurven beschreibend, über viele Tobel; St. Antönien jedoch nimmt in dieser Beziehung eine Ausnahmestellung ein. Obwohl die Erosion im Prätigau stärker gearbeitet hat, war sie dennoch nicht im stände, hier eine Thalkehle auszuwaschen, die der Schlucht des Mangbaches oberhalb Nenzing an Großartigkeit gleichkommen würde. Der Weg führt, mehrmals unter überhängenden Felsen sich durchwindend, an der rechten Thalseite in ziemlicher Höhe, jedoch so, daß einem der Einblick in die Schlucht gestattet ist, tief unten rauscht der Bach, bald tiefe Becken ausfüllend, bald strudelnd über die Felssätze stürzend. Gegenüber haben sich Urwaldpartieen erhalten, die diesen Namen wirklich verdienen, da erst vor wenigen Jahren zur Ausbeutung derselben geschritten wurde. Wird das Holz durch eine Runse hinuntergelassen, so springt es oft mit gewaltigem Satze über die durch Auswaschung bloßgelegte Felswand hinab, und befindet sich unten ein sogenannter Gunten, so entsteht durch den wuchtigen Fall und den Aufschlag eines starken Stammes eine solche Lufterschütterung, daß selbst an den weit entfernten Häusern des Nenzinger Berges die Fenster erzittern. Das Holz wird geflößt, und zu diesem Zweck ist im Gamperton-thale eine Einrichtung zu beobachten, die dem Prätigau ziemlich fremd ist; es finden sich nämlich Schwellvorrichtungen, um den Bach aufzustauen. Wird dann dem Wasser Bahn gemacht, so reißt natürlich der gewaltige Schwall das Holz auch an solchen Stellen fort, wo sonst ein sogenannter Haft sich bilden würde. Unglücksfälle durch Lawinen, Einsturz von Lawinenbrücken, beim Holzfällen und Flößen, durch Rutschungen, durch Unvorsichtigkeit beim Begehen des am Abgrund führenden Weges etc. sind nicht selten, und die Zahl der den Verunglückten gewidmeten Kreuze vom Beginn der Schlucht bis hinaus nach Nenzing ist eine erkleckliche. Ungefähr in der Mitte der Strecke zwischen Nenzing und St. Rochus befindet sich die „ Kühbruck " und nicht gar weit davon eine Kapelle, ein berühmter und viel besuchter Wallfahrtsort. An schönen Sonntagen kann man da Scharen von Pilgern begegnen, die laut betend nach der Kapelle ziehen, in deren Umgebung sich nach Erfüllung der religiösen Pflichten ein ganz gemütliches und originelles Leben abspielt. Die Strecke von St. Rochus bis zur Kühbruck bietet wenig Interessantes; die Schlucht dagegen sollte sich kein Tourist entgehen lassen, der in diese Gegend kommt. Ich verzichtete diesmal auf dieselbe, da ich den Weg vor einigen Jahren schon gemacht hatte und weil ich noch den Fundelkopf besteigen wollte.

Im Nenzinger-Himmel verbrachte ich eine gute Nacht, obschon der Wind in entsetzlichen Stößen von den Höhen herab tobte. Um 4 Uhr brach ich am Morgen des 18. August auf und stieg durch ordentlichen Weg hinauf in die Alp Setsch. Reizend ist der Ausblick auf die Bergwelt, namentlich auf Hornspitze, Tschingel und den Zug bis zum Sareiser-Jöchl. Sehr gut macht sich der Gorvion mit seinem obersten, von einem kecken Turm gekrönten burgartigen Kopfe. Die Alp Setsch ist eine prächtige Mulde, im Süden von einem durch zwei schöne Felskegel ausgezeichneten Grate, im Norden durch einen begrasten Rücken begrenzt, der aber allmählich recht wilde Formen annimmt. Von Setsch führt der kürzeste Weg nach Brand über den „ obern Sack ", und wahrlich, hätte ich nicht den Fundelkopf in Absicht gehabt, so wäre die Versuchung groß genug gewesen, mich der in verlockender Nähe winkenden Paß-einsenkung zuzuwenden. So aber strebte ich dem Virgloriapaß zu. Der Weg zu demselben ist länger, als man beim ersten Anblick glaubt, da man während dieser Traverse über mehrere Rücken ein- und auszubiegen hat. Man erblickt hier die von zahllosen Runsen durchzogene, weit hinauf mit Zwergkiefern und dürftigen Rasenflecken bedeckte Südseite des Fundel-kopfs, dessen obere Partieen wild und verwittert genug aussehen, aber dennoch in dieser Beziehung von dem gegenüber liegenden Rauhenberg und Matlerkopf übertroffen werden. Die schwarzen Strecken von Krummholz ( Zundere oder Zundrine genannt ), die den düstern Eindruck keineswegs herabzumindern vermögen, sind, im Gegensatz zum Prätigau, für diese Berge ganz charakteristisch; doch findet sich am Virgloriapaß auch die Alpenerle, namentlich an schattigen Halden. Von dem genannten Paß, auch Matschonjoch geheißen, hat bekanntlich eine Trias-Schicht ihren Namen; er bietet für einen Wanderer, der in Geologie und Botanik besser zu Hause ist als ich, hohes Interesse und hätte auch mich länger aufgehalten, wenn nicht dieser entsetzliche nervenaufregende Wind gewesen wäre.

Auf dem Matschonjoch hielt ich mich nur so lange auf, als nötig war, um den Hut in den sichern Gewahrsam des Tornisters zu bringen; dann stieg ich sogleich über den steilen, spärlich begrasten Gratrücken in nördlicher Richtung den Felsen der Gipfelpartie zu. Die letztere sieht bedrohlich aus; sowie man jedoch dem Gestein auf den Leib rückt, entdeckt man, daß dasselbe von ausgezeichneter Beschaffenheit ist. Ich war übrigens etwas zu weit östlich auf den Grat gelangt, der hier eine kurze Wendung nach Westen macht, und mußte denselben, da er nicht überall gangbar ist, auf der Südseite traversieren. Dann passierte ich ein kurzes, enges Kamin, das aber auch umgangen werden kann, und kam so wieder auf den Grat, der nun rasch zur höchsten Erhebung sich aufschwingt. Diese ist ohne Schwierigkeiten erreichbar; doch muß man sich an einer Stelle auf der Ostseite des letzten, wieder nördlich verlaufenden Gratstückes, der plattigen Stellen wegen, in acht nehmen. Es war 7 Uhr 45 Min., als ich meinen Fuß auf die oberste Spitze setzte, die als ein wenig geräumiges Köpfchen sich darstellt und nur wenig über die etwas größere unebene Scheitelfläche hervorragt, wenn wir letztern Ausdruck hier überhaupt gebrauchen dürfen. Dieses Köpfchen ist mit einem vierkantig zubehauenen Stein gekrönt, der die Jahrzahl 1817 trägt; den Sinn der eingemeißelten verwitterten Inschrift konnte ich nicht herausbringen. Im Norden verdeckt ein vorgelagerter Felsklotz einen großen Teil des Gampertonthales; zwischen diesem Klotz und der Portsetzung des nordöstlich streichenden Hauptkammes sieht man in eine trostlos öde, steinige Felsmulde, ein wahres Thal Josaphat. Zwischen Gamperton- und Saminathal zeigen sich die rauhen Formen des Gallinakammes, dessen Gipfeln nur die imposante Form des Fundelkopfs fehlt. Die Gebäude von St. Rochus und Brand sind nicht sichtbar. Den großartigsten Anblick gewährt das Scesaplanamassiv, das hier sechsgipflig erscheint ( Zirmenkopf, Felsenkopf, Wildberg, oberster Kegel, Zalimspitze und Punkt 2730 ). Es weckt dieses Bild so recht den Wunsch, den vielgestaltigen, mächtigen Gebirgsstock von allen Seiten kennen zu lernen.

Überhaupt verdient die Aussicht vom Fundelkopf im Verhältnis zur Höhe des Berges als sehr lohnend bezeichnet zu werden. Von den entfernten Gebirgen heben wir billig Tödi und Clariden hervor, die in ihrem Silberschmucke sich stattlich ausnehmen. Während auf den südlichen Vorbergen des Rhätikons nnd sogar auf einzelnen Hauptgipfeln desselben der Tödi durch Teile der langen, nach ihm benannten Kette entweder verdeckt wird oder wenigstens nicht recht zur Geltung gelangt, befindet sich der Fundelkopf diesfalls in ähnlich begünstigter Stellung, wie der Hochwang, natürlich jedoch auf entgegengesetzter Seite. Es zeigen sich die Grenzgebirge der drei Kantone Graubünden, Glarus und St. Gallen, die Alviergruppe, ein Teil der Churfirsten, das Säntisgebiet und dessen Ausläufer bis zum Bodensee, von dem ein großer Teil heraufglänzt, das Rheinthal von Rüti bis zum See, ein sehr bedeutender Teil des Vorarlbergs, darunter große Stücke des Illthales, namentlich schön die lange rechte Seite des Walserthaies, ferner die Gebirge zwischen 111, Ledi und Patznaun und endlich die Silvrettagruppe, die aber teils der weiten Entfernung, teils vorgelagerter hoher Gipfel wegen schon ziemlich an Effekt « ingebüßt hat. Den weitern Blick auf die Gebirge Graubündens benimmt uns der Rhätikon, und zwar bis zur kleinen Furka, durch deren formschönen Einschnitt der Piz Curvér hervorgrüßt, dann wieder bis zu der Einsenkung zwischen Tschingel und Naafkopf, über welcher Lücke die rechtsseitigen Bündner Oberländer sichtbar sind. Das ganze Panorama fesselt nicht am wenigsten durch die Abwechslung zwischen erhabener Gebirgswelt und großen Gebieten Kulturlandes mit den zahlreichen Stätten menschlicher Thätigkeit.

Um 9 Uhr brach ich auf und stieg wieder zum Matschonjoch hinab. Diesmal wählte, ich den richtigen Weg, der beim Aufstieg vom Jochweg, oine kleine Geröllhalde überschreitend, zunächst etwas links wendet. Von Jahrtuch des Schweizer Alpenclub. 28. Jahrg.3 der Paßhöhe ging 's über Rasen nach der Palüd-Alpe, deren Ober-Säß sehr lieblich gelegen ist und die bei besserer Bewirtschaftung überhaupt eine der schönsten Alpen sein könnte. Bei den Alphütten findet sich eine gedeckte Halle, die bei Regenwetter für die Sennen sehr angenehm sein mag. Den Mittel-Säß läßt man links liegen und wendet sich über teilweise sumpfiges Terrain dem tief gelegenen Unter-Säß zu, von welchem man in kurzer Zeit Brand erreicht. Es wäre nun allerdings das kürzeste gewesen, den Weg nach Bludenz zu machen und zur Heimkehr die Balm zu benutzen; denn heimkehren mußte ich, nicht sowohl, weil mir der Proviant gänzlich ausgegangen war, als weil meine Schuhe rettungslos dem Verfall entgegen eilten. Da ich aber noch einige Stunden am Liiner-see verleben wollte, so wandte ich mich von Brand thalaufwärts. Noch nie erschien mir die Scenerie oberhalb Sonnenlaggant, zwischen dem Wildberg und den Ausläufern des Felsenkopfs, so reizend wie heute. Der Gletscher-abfluß quillt dort hervor und stürzt in schäumenden Silberbändern über hohe Felsstufen herunter; der heftige Wind aber, die kleinen Wasserteilchen entführend, bildete dort wahre Wolken. Das vom Gletscher herabkommende Wasser war auffallend trübe, ganz hell dagegen der Abfluß des Lünersees. Daß ich in der Douglashütte mehr als ein Vierteil trank, wird man mir verzeihen, in Anbetracht des Umstandes, daß ich an diesem Tage schon über 1900 m Steigung überwunden und 1400™ beim Abstieg vom Fundelkopf eingebüßt hatte, daß mir bis zum Cavelljoch eine nochmalige Steigung von 350 m und bis nach Schiers ein Fallen von ca. 1650 ra bevorstand. Von 12^2 Uhr bis 3J/2 Uhr verweilte ich am See; dann überschritt ich das Cavelljoch, traversierte den Gyrenspitz auf der Ostseite, erblickte dort zu guter Letzt noch eine Gemse und wanderte über den langen Rücken hinaus zum Schuderser Maiensäß und dann hinab nach Schiers. Es war mir bei dieser Wanderung recht wehe ums Herz und ich schäme mich dessen nicht; das Gefühl der Wehmut beschleicht wohl jeden Alpenfreund, wenn er weiß, daß er nun für ein Jahr den Bergstock auf die Seite zu legen hat.

Wir scheiden nicht vom Clubgebiet, ohne unserer unzertrennlichen Begleiter, der Karte und des Itinerars, zu gedenken. Was erstere anbetrifft, so sei hier speciell anerkennend nicht nur die Bereicherung um manche auf den betreffenden Siegfriedblättern fehlende Namen, sondern auch die höchst willkommene Berücksichtigung der österreichischen Gebietsteile hervorgehoben. Wir wollen nicht behaupten, es wären gar keine Verbesserungen möglich; aber was wir an unsern Karten besitzen, merkt man erst, wenn man sich mit den vom k. k. militär-geographischen Institut in Wien herausgegebenen Blättern behelfen muß. Es ist schade, daß die, nach der Ausführung einzelner Partieen zu schließen, sehr sorgfältigen und gewissenhaften Aufnahmen der österreichischen Ingenieure in ein so häßliches Gewand gekleidet wurden, daß mancher Tourist diese Karten als unbrauchbar zur Seite wirft.

Dem reichhaltigen Itinerar zollen wir volle Anerkennung. Es ist eine Arbeit, wie sie nur auf sehr zahlreichen Touren gewonnene eigene Anschauung, verbunden mit genauer Kenntnis der einschlägigen Litteratur, in solcher Zuverlässigkeit zu stände bringen konnte.

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