«Es macht mir grosse Freude, die Berge zu zeichnen» | Schweizer Alpen-Club SAC
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«Es macht mir grosse Freude, die Berge zu zeichnen» Interview mit Patrick Chappatte, Karikaturist

Der Karikaturist Patrick Chappatte ist im Alter von fünf Jahren aus Singapur in die Schweiz gezogen und in der Stadt Genf aufgewachsen. Er bezeichnet sich selbst nicht als Wanderer oder gar als Bergsteiger, und dennoch sind die Berge für ihn eine wichtige Inspirationsquelle.

Patrick Chappatte, Sie sind zwar kein Bergsteiger, aber Sie haben einmal gesagt, dass Sie die Höhe lieben. Was meinen Sie damit?

Ich bin in Genf im Quartier Saint-Jean im sechsten Stock eines Wohnblocks aufgewachsen. Von meinem Zimmer aus hatte ich einen Panoramablick auf die Stadt und den Salève. Ich habe Freude daran, die Dinge von oben zu betrachten, selbst in einer Stadt. Das passt zu meinem Beruf, bei dem man die Dinge mit einer gewissen Distanz sehen, von oben betrachten muss.

Auf die Gefahr hin, dass Ihnen mal schwindlig wird, wie auf dem Dach des Empire State Building …

Richtig. Vor dieser Episode hatte ich noch nie Probleme in der Höhe. In den 1990er-Jahren lebte ich in New York und erfuhr, dass die Spitze des Empire State Building ursprünglich als Ankermast für Zeppeline gedacht war, was sich wegen der Turbulenzen als utopisch herausstellte. Ich arbeitete an einer Episode der Serie New York Stories für die Tribune de Genève und stieg mit der zuständigen Person dort hinauf. Es hatte eine Art kleinen Balkon mit einem winzigen Geländer. Der Mann öffnete die Tür und sagte zu mir: «Nach Ihnen!» Als ich hinaustrat, stellte ich mir die Gangway vor, die von diesem Balkon zum Zeppelin führen sollte. Da hatte ich einen schrecklichen Schwindelanfall, der stundenlang anhielt.

 

Unternehmen Sie gelegentlich eine Wanderung, wie 58% der Schweizerinnen und Schweizer?

Die Bezeichnung Wandern wäre übertrieben, ich würde eher von Spazieren sprechen. Ich habe diese sehr schweizerischen Freuden, in die Berge und an die frische Luft zu gehen, erst recht spät dank meiner Frau entdeckt. Inzwischen haben wir einen Zweitwohnsitz im Wallis. Ich kam im Alter von fünf Jahren in die Schweiz, und es hat weitere 15 Jahre gedauert, bis ich verstand, dass man im Winter auf dem Salève über dem Nebel ist. Davor war der Winter für mich einfach eine Wolkendecke. Diese späte Begeisterung hat sich auch in meinen Zeichnungen niedergeschlagen. Abgesehen vom karikaturistischen Aspekt macht es mir grosse Freude, die Berge zu zeichnen.

Was wäre die Schweiz ohne die Berge?

Die Schweiz wäre ein sehr grosses Land, wenn man es glatt bügeln würde. Aber ohne die Berge wäre sie nicht viel mehr als drei Rapsfelder und eine Autobahn. Schluss mit all den identitätsstiftenden Klischees, die ich in meinen Karikaturen verwende und aus denen gewisse Parteien regelrechte alpine und identitäre Mythen gemacht haben. Unsere ganze Geschichte und Mythologie sowie ein Grossteil der Geschichten, die man sich heute über die Schweiz erzählt, drehen sich um die Berge.

Ist die Postkartenschweiz eine Inspirationsquelle für Sie?

Die Postkartenschweiz, die ich in meinen Zeichnungen darstelle, ist unglaublich präsent. Eigentlich leben wir darin. Oft staune ich, dass da wirklich diese Geranien, diese Gartenzwerge und diese Chalets herumstehen. Wir leben im Bild, das wir uns selbst von unserem Land machen. Das ist etwas lächerlich und zugleich charmant.

Die Bergbevölkerung wirft den Städtern oft vor, die Berge zu idealisieren. Im März 2012, nach der Annahme der Zweitwohnungsinitiative, haben Sie in einer Karikatur Stadtbewohner dargestellt, die eine Bergszene in einer Schneekugel betrachten. Kritisieren Sie damit die Heuchelei der Städte?

Ja, wir haben die Bergbewohner in eine Glaskugel gesteckt und sie in einer Bergwelt eingesperrt, die unserer urbanen Vorstellung entspricht. Es gibt andere Karikaturen, bei denen ich mich über die Bergbevölkerung lustig mache, zum Beispiel wenn ich ein überbautes Matterhorn darstelle. Auf der einen Seite gibt es die Arroganz der Städter, die der Bergbevölkerung unberechtigt Vorschriften machen wollen. Auf der anderen Seite muss die Bergbevölkerung akzeptieren, dass die Berge ein Gemeingut sind. Auf beiden Seiten liebt man die Berge, aber aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Ich denke, dass sich diese beiden Sichtweisen gegenseitig befruchten.

Für Comicreportagen haben Sie sich mit der Bergwelt und ihren Bewohnern auseinandergesetzt, etwa 1999 nach der verheerenden Lawine in Evolène, wo zwölf Menschen ums Leben gekommen sind. Was hat Sie besonders beeindruckt?

Im Gegensatz zur Karikatur ermöglicht die Comicreportage es, Menschen zu begegnen und sich auf ihre Emotionen einzulassen. In Evolène war ich einer der Ersten, die nach der Wiedereröffnung der Strasse aufgestiegen sind. Ich war betroffen von den Aussagen der Bewohner, die mir von ihren Gefühlen erzählten. Die Lawine ist etwas Obszönes, das viel grösser ist als wir. Jacques Richon (Anm. d. Red.: Bergführer und Notarzt, der 2021 in einer Lawine ums Leben gekommen ist) hatte mir von der Angst der Bergretter erzählt, die Angst vor der zweiten Lawine, aber auch die Angst davor, leblose Körper zu finden. Als ich das Dorf verlassen wollte, hatte mein Auto einen Platten, und ich brachte es in eine Werkstatt. Der Zufall wollte es, dass der Garagist ein Amateurarchivar war. Durch ihn kam ich zum Ende meiner Geschichte. Er erzählt mir von einer Lawine, die 1856 genau an derselben Stelle niedergegangen war. Ich hatte meinen Scoop. Solche Anekdoten sind das Salz in der Suppe.

2019 haben Sie einen kritischen Blick auf das Gedränge am Mount Everest geworfen. Was denken Sie über den Wettlauf auf die Achttausender und über die Jagd nach Rekorden?

Vielleicht ist auch der Alpinismus von egomanischer Ambition betroffen, einem der grossen Übel unserer Zeit. Das scheint viele Menschen zu inspirieren, aber mir sagt das überhaupt nichts. Der Wettlauf zwischen Ueli Steck und Dani Arnold ist ein Wettpinkeln. Wenn die Berge als Vorwand für menschliche Ambitionen benutzt werden, hat dies nicht mehr viel mit ihrer Erhabenheit zu tun.

Wenn Sie die Berge zeichnen, geht es in der Regel auch nicht um ihre Schönheit.

Die Karikatur handelt nicht vom Zug, der pünktlich ankommt, sie zeigt auf, was nicht stimmt. In der globalen Vorstellungswelt sind der schmelzende Gletscher und der Eisbär auf seiner Eisscholle anerkannte Warnsignale, die weltweit zu Symbolen des Klimawandels geworden sind. Die Berge sind ein Sinnbild für die gesamte Klimafrage und ihre Widersprüche.

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«Ich sage es jetzt einmal etwas klischeehaft, aber die Berge sind für uns heute eine heilsame Zuflucht.»
Patrick Chappatte

Ist die Karikatur im Zeitalter der sozialen Netzwerke und des übersteigerten Nationalismus gefährlicher geworden?

Die sozialen Netzwerke verstärken die Reaktionen auf eine Karikatur. Man kann zur Zielscheibe eines digitalen Shitstorms werden, wenn eine Zeichnung missverstanden wird oder wenn sie der einseitigen Auslegung gewisser Akteure zum Opfer fällt. Am schlimmsten ist es, wenn eine Regierung ein Bild verwendet, um die Massen zu mobilisieren, weil es nicht in ihrem Sinn ist. Im letzten Sommer führte eine meiner Zeichnungen über die Überbevölkerung Indiens im Spiegel beinahe zu einer geopolitischen Krise zwischen Deutschland und Indien. Die Zeichnung gefiel der Regierung Modi nicht, und halb Indien wollte mir an den Kragen. Das hat zwei Wochen gedauert, eine lange Zeit.

Würden Sie in solchen Momenten nicht am liebsten alles hinschmeissen?

Es gibt schon Momente, da sage ich mir: Noch so ein Tag, und ich gehe in die Berge und pflanze Karotten. Oder zeichne Landschaften. Ich sage es jetzt einmal etwas klischeehaft, aber die Berge sind für uns heute eine heilsame Zuflucht. Wir haben in der Schweiz unglaubliches Glück, dass wir diesen Kokon haben, in den wir uns etwas zurückziehen können, aus einer Welt, die immer zerrissener ist. Es ist ein Glück, dass man in die Höhe gehen kann.

Autor / Autorin

Alexandre Vermeille

In dieser Serie reden wir mit Schweizer Persönlichkeiten, die einen persönlichen Bezug zur Natur und zu den Alpen haben.

Vom Zeichentisch auf die Bühne

Patrick Chappatte wurde als Sohn eines Jurassiers und einer Libanesin in Pakistan geboren. Er wuchs in Singapur und später in Genf auf, wo er heute mit seiner Frau und seinen drei Söhnen lebt. Er begann seine Karriere als Karikaturist mit 18 Jahren bei der Tageszeitung La Suisse. Sie führte ihn in die USA, wo er lange Zeit für die New York Times tätig war, bis die Zeitung 2019 ihre Karikaturen einstellte. Zwischen 1995 und 1998 lebte er in New York. Der Genfer hat sich auch mit seinen Comicreportagen einen Namen gemacht, für die er um die Welt gereist ist. Heute zeichnet er unter anderem für die Zeitungen Le Temps, NZZ am Sonntag, Der Spiegel, Le Canard enchaîné und The Boston Globe. Als engagierter Verfechter der Meinungsfreiheit leitet er die Stiftung Freedom Cartoonists, die alle zwei Jahre einen internationalen Preis für Karikaturisten vergibt, die sich durch Talent und Mut auszeichnen. Derzeit ist er auch auf der Bühne in der Show Chappatte en scène zu sehen, in der er hinter die Kulissen seines Berufs blicken lässt. Die Tournee dauert bis Herbst 2024. Weitere Informationen unter www.chappatte.com.

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